Marcel Hartlage

Auf dem Weg

Es wurde dunkel, als er sich auf dem Heimweg befand.
Steve Peters hatte seinen wöchentlichen Besuch im örtlichen Supermarkt absolviert – ein kleiner Laden, mit kaum mehr als ein oder zwei Dutzend Besuchern am Tag, wenn überhaupt. Jede Woche besorgte er sich dort sein Bier – ein Sixpack, nicht mehr und nicht weniger –, und er ging jedes Mal zu Fuß; eine halbe Meile war ja nun wirklich nicht die Welt, und außerdem tat es seinem Körper womöglich auch ganz gut.
Seine Hütte lag abseits des Dorfes. Die Hauptstraße, die ihn dorthin führte, war von mächtigen Eichen flankiert und durch einen Graben vom Fahrradweg getrennt, über den Steve derzeit trappte, ohne zu erwarten, dass sich ein Fahrradfahrer von vorne näherte. Die kreuzten hier nämlich so gut wie nie auf, und deswegen machte es überhaupt nichts, nicht aufmerksam zu sein. Die feinen Nebelschwaden, die über die Straße und den umliegenden Feldern zogen, machten es sowieso noch schwerer, etwas zu erkennen.
Das Sixpack hatte er in einem großen Stoffbeutel verstaut. Er schwang ihn munter durch die kühle Abendluft, während die einzigen Laute die des Laubes auf dem Boden und des Windes in der Luft waren. Ansonsten war alles ruhig, und Steve, der ein Alkoholiker war, genoss diese Stille mitsamt des Windes und des Laubes.
Er hoffte nur, zu Hause anzukommen, bevor es endgültig dunkel wurde. Weil, dann konnte er nichts mehr sehen, und wenn das eintraf – seine Augen waren sowieso schon ziemlich schlecht –, dann könnte er theoretisch gleich einen Kopfsprung in den Graben machen.
Aber die Strecke schaffst du in ein paar Minuten, sagte er sich. Außerdem musst du ja fast nur geradeaus laufen, also wo liegt das Problem?
Es gab keins. Er würde Zuhause ankommen, seinen Mantel über den Ofen hängen, es sich in seinem Sessel gemütlich machen, die Glotze anschmeißen und ein Bier nach dem anderen trinken, bis er in seinem Suff gemütlich eingeschlafen war. Das war ihm schon oft passiert, aber inzwischen gefiel ihm das. Zumindest die erste Hälfte. Im Suff einzuschlafen und am nächsten Morgen mit einem Kater aufzuwachen, das war zu seinem Highlight des Tages geworden.
Aber warum dachte er darüber überhaupt wieder nach? Jetzt war er hier, auf dem Fahrradweg neben der Hauptstraße, nüchtern, mit einem Sixpack Bier an seiner Seite, und er fühlte sich großartig. Die Abendluft war mild und angenehm, die flüsternden Laute des Windes und des kriselnden Laubes ebenso, alles schien perfekt zu sein.
Steve Peters sah beiläufig über die Schulter, so wie er es immer auf der Hälfte der Strecke tat, um zu sehen, ob ein Auto kam. Ein Auto sah er nicht, aber etwa zweihundert Meter hinter ihm machte er eine Gestalt auf dem Fahrradweg aus, was ihn stutzen ließ.
Komisch, war sein erster Gedanke.
Die Gestalt schien komplett Schwarz zu sein.
Steve blieb stehen. Wer konnte das sein? Ein Kerl, komplett eingehüllt in seinen schwarzen Mantel, mit einem schwarzen Schal, einer schwarzen Mütze und einer schwarzen Hose … Gab es hier im Dorf oder in der Gegend rundherum jemanden, der sich so merkwürdig kleidete? Steve wusste es nicht, und im nächsten Moment vermittelte ihm sein von Alkohol zerfressenes Gehirn, dass es ihm auch völlig egal sein konnte. Also ging Steve weiter und dachte nicht weiter an die Gestalt, die sich zweihundert Meter hinter ihm befand.
Warum auch?
Er hatte schon öfter darüber nachgedacht, mal zum Arzt zu gehen. Er – sein richtiges Er, nicht das Alkohol-Er – wusste, dass etwas nicht mit ihm stimmte, wusste, dass er krank war. Doch nicht nur die Einsicht war schwer, sondern auch die Umstellung. Einerseits war es wirklich verbitternd, deprimierend, ja geradezu bemitleidend, nach Alkohol zu lechzen, andererseits war es aber auch ein gutes Gefühl, Alkohol zu konsumieren, wenn man ihn dann hatte. Der Gedanke an seinen Sessel und seiner Glotze reichte, damit Letzteres wieder die Oberhand in seinem Verstand gewann und seine Sorgen in der Dunkelheit verschwanden.
Trotzdem, er drehte sich noch einmal um –
Die Gestalt befand sich jetzt etwa einhundert Meter hinter ihm.
Erneut blieb Steve Peters stehen und runzelte die Stirn.
War der Kerl mit den schwarzen Klamotten etwa gerannt? Wollte dieser Knabe dahinten ihm etwa Angst einjagen? War es wirklich so ein Narr? Oder vielleicht ein Taschendieb? Hatte er es auf seine Brieftasche abgesehen? Oder, schlimmer noch, auf sein Sixpack?
Das war, wie Steve kurzerhand später einsah, natürlich Unfug. Würde der Kerl ihm etwas antun wollen, so würde er ihm doch nicht so offensichtlich über dem Fahrradweg folgen, oder? Doch was war die Alternative? Die logische Erklärung dafür, dass der Kerl sich offenbar innerhalb von fünf Sekunden um einhundert Meter fortbewegt hatte?
Los, Stevi, streng dein Hirn an!
Warum gab er sich eigentlich schon wieder mit diesem Kerl ab? Wahrscheinlich war der Typ nur eine Einbildung, eine Fata Morgana, so wie man sie manchmal in der Wüste bekam, wenn man am Verdursten war.
Bei diesem Gedanken wandte er seinen Blick kurz auf den Beutel in seiner rechten Hand und leckte sich die Lippen.
Dann sah Steve Peters wieder auf.
Die Gestalt war noch näher gekommen.
Aber natürlich war sie das. Immerhin stand er hier, und sie bewegte sich. Soweit er damals in der Schule richtig aufgepasst hatte, verringerte sich dadurch der Abstand zwischen zwei Objekten. Simple Physik. Und diese schwarze Gestalt, Pardon, dieser Mensch in schwarzer Kleidung, würde vermutlich einfach an ihm vorbeigehen und ihn wahrscheinlich nicht mal eines Blickes würdigen, wenn er ihn dann eingeholt hatte.
Ja, aber dieser Kerl geht verdammt schnell. Vielleicht ist es ja so ein Phänomen, was meinst du, Steve? Du schaust hin, es rührt sich nicht, du schaust weg und wieder hin, und plötzlich ist es näher. Du weißt doch, wie in diesen Horrorfilmen …
Ja, das wusste er. In solchen Horrorfilmen war das ein gutes Mittel, um –
Um übernatürliche Dinge zu zeigen.
Plötzlich gefiel Steve der Herbstwind nicht mehr. Plötzlich kam ihm der Wind kälter vor, unbehaglicher, und es fröstelte ihm. Das Laub raschelte nicht mehr so frohlockend wie noch vor zwei Minuten, und der ganze Himmel schien plötzlich von schwarzen Wolken durchzogen zu sein.
War es etwas Übernatürliches?
Steve wagte es noch einmal, sich umzudrehen.
Es war näher.
Viel näher.
Aber er konnte nichts Markantes an der Gestalt erkennen; sie war einfach schwarz. Lag das daran, dass es langsam dunkler wurde? An seinen schlechten Augen? Daran, dass es übernatürlich war?
Er wandte den Blick ab …
… schaute noch einmal hin.
Ein leichter Schauer überfuhr ihn. Dieses Ding war jetzt wieder näher. Mit jedem Blick, den er darauf warf, kam es näher.
Irgendwo in seinem Körper kroch die Angst empor.
Scheiße, vielleicht ist es ja –
Auf einmal malte sich sein Hirn aus, dass es tatsächlich eine Gestalt aus einem Horrorfilm war. Ein dämonisches, bösartiges Wesen mit verzerrter Fratze, aufgerissenem Kiefer und blutunterlaufenen Augen. Eine Gestalt, deren Anblick Steve Peters an den Schlund des Wahnsinns führen würde, wo alles bar jeder Menschlichkeit war.
Eine Windbö heulte durch die Stille. Noch einmal drehte er sich um.
Näher … mindestens zehn Meter.
Aber jetzt war es fast komplett dunkel, er hatte es nicht geschafft, rechtzeitig Zuhause zu sein, und vielleicht trübten ihn tatsächlich nur seine Sinne. Er würde das Abendprogramm verpassen und nicht mehr pünktlich auf seinem Sessel sitzen können, ging es ihm abwesend durch den Kopf, und das nur, weil er dachte, ein Etwas des Wahnsinns würde ihn verfolgen.
Er wollte sich noch einmal umdrehen, ein letztes Mal, doch genau in diesem Moment durchfuhren ihn zwei Geistesblitze.
Der eine, der ihm eine weitere Gänsehaut verpasste, war der, dass sich dieses Wesen nun direkt hinter ihm befand. Es würde direkt hinter ihm stehen, ihn anstarren, mit den blutunterlaufenen Augen und dem wahnsinnigen Grinsen. Es würde ihn packen und schütteln – schütteln, während er beginnen würde zu schreien, in Todesqual, in blanker Panik …
Auf der anderen Seite konnte er aber auch recht haben, und es war tatsächlich nur eine Wahnvorstellung. Er hatte seit über fünf Stunden keinen Alkohol mehr getrunken, das könnte Entzugserscheinungen hervorgebracht haben. Was das anbelangte, war er ziemlich objektiv.
Was also sollte er tun?
Vielleicht stand es längst hinter ihm.
Unsinn.
Vielleicht würde er gleich einen Schwall heißen Atems in seinem Nacken spüren –
Nein!
Und dann ein Lachen hören, ein spöttisches, wahnsinniges Lachen –
Sei ruhig! Sei still!
Und dann würde ihn etwas packen, etwas Kaltes und Tropfendes –
Absoluter Schwachsinn!
Dann beweis das Gegenteil, Stevi!
Das würde er tun, bei Gott, das würde und das konnte er. Ohne daran zu denken, dass dieses Etwas inzwischen vielleicht wirklich hinter ihm stand, ihn gar umbringen wollte, griff er in den Beutel und riss einer der Bierdosen aus der Sixpack-Verpackung. Den Beutel warf er achtlos zu Boden.
Steve schaute für eine Sekunde konzentriert auf die Flasche … dann öffnete er sie und nahm einen Schluck.
Er ignorierte den wohltuenden Geschmack, der ihn nach einer so langen Dürreperiode wie fünf Stunden normalerweise ins Nirwana beförderte, und konzentrierte sich. Jetzt hatte er Alkohol intus, jetzt hatte er welchen getrunken, also müsste jegliche Halluzination davon sein. Sich in Luft aufgelöst haben.
Es gab nur die eine Möglichkeit, es herauszufinden, schätzte er.
Steve Peters drehte sich um.
Und der Wind wehte weiter.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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