Helmut Wurm

Sokrates und die (angeblich) dummen Schüler

 
Sokrates wird zur Hilfe gerufen, zu einem Gespräch von 5 Eltern mit ihren 5 Kindern und 5 Lehrer, die meinen, dass diese 5 Schüler die weiterführende Schule verlassen sollten, weil sie (angeblich) nicht die notwendigen Begabungen für diese weiterführende Schule hätten. Dabei hat jeder dieser Schüler nur in einem bestimmten Lernsegment Schwierigkeiten, in anderen dagegen keine schlechten Noten. Die Schulleitung hatte sich dem Urteil dieser Kollegen nach einigem Zögern angeschlossen und den Eltern die Empfehlung geschickt, ihre Kinder auf eine weniger anspruchsvolle Schulart umzumelden. Die Eltern hatten sich daraufhin an Sokrates gewandt, der z. Zt. in dieser Stadt ein Beratungs-Bureau für Schulprobleme unterhält. Dorthin

hat Sokrates die Eltern, die Schüler und die Lehrer eingeladen, wobei die Letzteren nur nach wiederholter Ansprache kamen. Sokrates beginnt das Gespräch:

 

Sokrates: Liebe Anwesende, mit dem Lernen und den Begabungen ist es nicht so einfach, wie

man oft meint. Die Begabungen sind nicht immer als ganze Pakete verteilt und zwar nicht so, dass einige Menschen größere Begabungs-Pakete, andere kleinere und wieder andere gar keine Begabungs-Pakete bekommen hätten.

 

In Wirklichkeit ist es so, dass im Grunde jeder Mensch ein individuelles Begabungs-Paket bekommen hat, einige in der Tat größere, andere kleinere, aber in fast jedem dieser Pakete sind oft nur für bestimmte Teilbereiche Begabungen enthalten. Das bedeutet, dass eben die meisten  Menschen nicht auf allen Gebieten gut oder weniger gut begabt sind, sondern dass den einen z.B. eine sprachliche Begabung fehlt, den anderen eine mathematische, anderen wiederum eine musikalische und wieder anderen eine künstlerische Begabung. Dafür sind dann in anderen Bereichen höhere Begabungen vorhanden.

 

Es gibt viele solcher partiellen Defizite, aber für diese sind die meisten Lehrer nicht ausgebildet und interessieren sich auch die meisten Lehrer nicht, weil das ihre Arbeit komplizierter machen würde. Und weiterhin ist auch das gegliederte Schulsystem nicht an solchen partiellen Defiziten interessiert, weil das die einfache Zuordnung der Schüler zu der oder jener Schulart deutlich erschweren würde..

 

Die 5 Lehrer (unterbrechen Sokrates und rufen ungeordnet): Die Hinweise auf Möglichkeiten partieller Lernerschwernisse sind hier nur Vorwände, uns Unrecht zu geben… Solche Lern-schwächen  kommt viel zu selten vor…  Entweder man hat die Grütze für eine höhere Schule im Kopf oder nicht… Außerdem sind wir für solche Fälle nicht ausgebildet… Das würde das Schulwesen viel zu sehr verkomplizieren, wenn man immer auf so etwas achten sollte…

 

Sokrates (überhört diese unqualifizierten Zwischenrufe): Solche Fälle sind häufiger, als vereinfachende Menschen es sich wünschen. Und ich bin offensichtlich gebeten worden, in solchen das Lernen erschwerenden Fällen Rat zu geben. Beginnen wir deswegen mit den Sorgen der Eltern des 1. Schülers.  

 

Die Eltern des 1. Schülers: Unser Sohn lernt im Grunde leicht, aber das richtige Schreiben macht ihm große Schwierigkeiten. Dadurch verdirbt er sich die Noten in Deutsch und in den Fächern, wo auf schriftliche Äußerungen Wert gelegt wird. In Mathematik und in den Natur-wissenschaften, wo es nur um Zahlen geht, und in den musischen Fächern bringt er gute bis zufrieden stellende Leistungen. Wenn wir ihm zu Hause die Texte korrigieren können, dann geht es. Woran kann das nur liegen? Am richtigen Denken sicher nicht. Unser Sohn und wir sind ganz niedergeschlagen.

 

Sokrates (interessiert-nachdenklich): Ich werde Ihrem Sohn jetzt ein paar Zeilen diktieren, vielleicht kann ich dann schon etwas vermuten. Hier hat er Papier und einen Kugelschreiber.

 

(Sokrates diktiert dem Schüler einige wenige Zeilen eines im Schwierigkeitsgrad normalen Textes. Dann liest er sich das Geschriebene durch)

 

Ich glaube, ich habe schon die Erklärung. Sie ist ziemlich einfach. Bei dem hier geschriebenen Text sind die Buchstaben häufig vertauscht und zwar so häufig, dass es sich nicht um eine einfache Unkonzentriertheit handeln kann. Ihr Sohn ist vermutlich Legastheniker, d.h. in seinem Gehirn werden die Buchstaben falsch gespiegelt und dann beim Schreiben wieder falsch zurück gespiegelt. Das ist leider eine Erbanlage und wird ihn sein ganzes leben begleiten und auch die Schulzeit erschweren.

 

Die Eltern (verzweifelt): Was kann man  denn da machen? Da wird aus ihm ja nichts werden, da wird er nicht studieren können, was er so gerne tun würde…

 

Sokrates (beruhigend): Wenn man weiß, dass es sich nicht um eine Unbegabtheit handelt, sondern um eine unglückliche Erbanlage, dann ist das schon ein wichtiger Schritt, sich selber zu helfen. Und natürlich gibt es dafür spezielle Hilfsprogramme, die das Selbsterkennen der Fehler erleichtern. Sie müssten sich einmal umhören, wo in Ihrer Nähe ein Nachhilfe-Institut ist, das auch Fälle von Legasthenie betreuen kann…

 

Ich kannte übrigens einen österreichischen Schulrat für Hauptschulen, der ein Lehrbuch zur

Rechtschreibe-Erziehung in Hauptschulen geschrieben hat, der selber Legastheniker war und das in seinem Vorwort offen mitgeteilt hat. Seine Frau müsste seine Manuskripte alle noch einmal Korrektur lesen… Aber trotz Legasthenie ist er Schulrat geworden. Das kann doch allen Mut machen, die auch Legastheniker sind… Nur müssten die Lehrer dieses Mutmachen unter-stützen und nicht durch mangelndes Verständnis behindern.

 

Der Deutschlehrer des Jungen: Alle kommen mit der Entschuldigung Legasthenie für die, die nicht genug Rechtschreibe-Grütze im Kopf haben… Entweder man kann es oder man kann es nicht… Außerdem sind wir für solche Fälle nicht ausgebildet… Das würde das Schulwesen auch viel zu sehr verkomplizieren, wenn man immer auf so etwas achten sollte…

 

Sokrates (überhört diesen unqualifizierten Einwand und wendet sich dem nächsten Jugend-lichen zu, einer Schülerin): Welche Sorgen und Probleme hast Du denn? Wie kann ich Dir helfen?

 

Die Schülerin (traurig): Ich habe keine Legasthenie, aber ich mache alle möglichen Fehler beim Rechtschreiben. Die Kommasetzung kann ich merkwürdigerweise behalten, aber wie die Worte geschrieben werden, das behalte ich nicht. Und wenn ich noch so viel übe, nach kurzer Zeit ist bei mir das Wissen um die richtige Schreibweise der Worte wie weggeblasen. Das gilt  natürlich auch für Englisch und Französisch… Ich bin so unglücklich… Woran liegt das nur? Ist das frühzeitige Altersschwäche?

 

Sokrates (beruhigend): Daran liegt es bestimmt nicht. Aber ich vermute, dass ich bereits auf dem richtigen Weg bin. Du hast gesagt, dass du nicht behalten kannst, wie Worte geschrieben werden, aber alles andere kannst du gut behalten… Du hast vermutlich eine Merkschwäche im Gehirn für Wortbilder allgemein. Das ist etwas anderes als Legasthenie und wird heute als „all-gemeine Rechtschreibeschwäche“ bezeichnet. Da muss man das Schreiben wie in der 1. Klasse der Grundschule handhaben, nämlich ständig langsam mitsprechen, was man schreibt, damit man nach dem Ohr die Buchstaben hinschreibt, denn seinem Wortbild-Gedächtnis kann man ja nicht trauen…

 

Aber auch dafür gibt es spezielle Hilfsmöglichkeiten und Förderprogramme. Deine Eltern und du solltet vielleicht einen Kurs machen, wie man sich bei einer solchen Schwäche innerhalb der Familie helfen kann… Kopf hoch, denke auch an den Schulrat, der trotz Legasthenie Schulrat geworden ist.

 

Der Deutschlehrer der Schülerin (spöttisch): Es ist schon mal gut, dass diese Schülerin es nicht so plump wie ihre Vorgängerin angefangen hat und sich auf Legasthenie beruft. Aber die Diagnose allgemeine Rechtschreibeschwäche ist ja besonders diffus. Davon hätte ich ein Drittel in der Klasse. Die meisten dieser schreibschwachen Schüler haben entweder keine Lust am Schreiben oder haben nicht genügend Rechtschreibe-Grütze im Kopf… Entweder man hat’s oder man hat’s nicht… Außerdem sind wir für solche Fälle auch nicht ausgebildet… Das würde das Schulwesen viel zu sehr verkomplizieren, wenn man immer auf so etwas achten sollte…

 

 

Sokrates (überhört diesen unqualifizierten Einwand): Was hat den der 3. Schüler, ein Junge, für Sorgen?

 

Die Eltern: Unser Sohn ist eigentlich in der Lage, sich gut konkrete Dinge und Begebenheiten zu merken und damit gedanklich umzugehen. Aber sobald es um rein theoretische Zusammen-hänge geht, versagt er. Er kann sich an theoretischen Diskussionen über abstrakte Werte und Begriffe nur schwer oder gar nicht beteiligen, weil er sich die Einzelheiten des Themas nicht vorstellen kann. Er kann sich deshalb keine theoretischen mathematischen Probleme und keine allgemeinen Überlegungen z.B. in Deutsch merken, aber er kann gut mit Maßeinheiten wie kg, m, l, Zeit, Temperaturen, usw. rechnen. Und er kann alles, was mit Geld oder Häusern zu tun hat, gut verstehen und behalten. Weshalb kann er bloß das eine verstehen und das andere nicht?  

Wir können ihn nur Handwerker werden lassen, obwohl er so gerne ein Bauingenieur werden möchte. Aber die abstrakten theoretischen Modelle innerhalb der höheren Mathematik wird er sich nicht vorstellen können.

 

Sokrates: Ich glaube, auch hier hätte ich eine einfache, aber natürlich schmerzliche Erklärung anzubieten. Ihr Sohn leidet an dem Mangel, sich abstrakte Zusammenhänge vorstellen zu können. Seine Gedanken bleiben in der Ebene des Konkreten hängen und vollziehen nicht den Transfer ins Abstrakte. Auch das ist eine Erbanlage. Hierbei wird das kindliche Vorstellungs-vermögen, das noch an Konkretes gebunden ist, im Lauf des Heranwachsens nicht allmählich durch die Fähigkeit zum abstrakten Denken erweitert.

 

Aber auch bei dieser Anlage gibt es schon seit längerer Zeit gute Lernhilfen. Die Montessori-Pädagogik z.B. hat schon früh versucht, möglichst viele Lerninhalte zu konkretisieren und dann über diesem Weg langsam ein abstraktes Denken aufzubauen.

 

Besorgt Euch Lernmaterialien, die das abstrakte Denken schrittweise aufbauen helfen, und macht einen Fortbildungskurs zur Förderung des abstrakten Denkens mit. Dann könnt Ihr Euerem Sohn sicher in kleinen Schritten helfen, so dass er vielleicht doch Bauingenieur werden kann.    

 

Natürlich sollten die Lehrer versuchen, solchen Schülern den Zugang zum abstrakten Denken zu erleichtern, indem sie möglichst oft anschauliche Beispiele in ihren Unterricht einfließen lassen…

 

Der Mathematik-Lehrer dieses Jungen (unterbricht): Das ist ein typisches abstraktes Professoren-Gequatsche. Mathematik ist immer konkret und nie abstrakt. Entweder man hat genügend Mathematik-Grütze im Kopf oder nicht… Entweder man kann’s oder man kann’s nicht…  Außerdem sind wir für solche Fälle auch nicht ausgebildet… Das würde das Schulwesen viel zu sehr verkomplizieren, wenn man immer auf so etwas achten sollte…

 

Sokrates (überhört diesen unqualifizierten Einwand): Kann ich vielleicht dem 4. Schüler hier irgendwie helfen oder zumindest trösten?

 

Die Eltern: Unser Sohn kann nur schwer behalten, langfristig behalten meinen wir. Wenn man ihm etwas erklärt, wenn er in der Schule etwas übt, dann weiß er es direkt danach ganz gut… Aber wenn man ihn am nächsten Tag fragt, ist alles wie ausgelöscht, wie nicht verankert… Und wenn man dann den Stoff mühsam noch einmal wiederholt, dann weiß er ihn wieder für kurze Zeit und am nächsten Tag ist wieder das Meiste weg… Man muss mühsam viele Male etwas wiederholen, bis er den neuen Lernstoff allmählich langfristig behält… Wir können uns das nicht erklären… Wenn er nachmittags seine Aufgaben macht und er hat in der Schule etwas Neues durchgenommen und gut erklärt bekommen, dann kann er seine Hausaufgaben richtig machen. Wenn er sich dann abends zufrieden ins Bett legt und denkt, er könne am anderen Morgen bei einer Wiederholung richtig antworten, dann irrt er sich. Beim Aufstehen ist alles, was er gestern gelernt hat, weg, wie gelöscht.

 

Sokrates: Ich möchte Eueren Sohn etwas fragen. (Fragt den Sohn) Kannst du mir sagen, ob du alles gleichermaßen nach kurzer Zeit vergisst oder wann du etwas langfristig dauerhafter behältst.

 

Der Schüler: Wenn ich mich für etwas sehr interessiere oder wenn ich mich über etwas sehr freue oder auch ärgere, dann behalte ich es eigentlich sofort langfristig. Aber an alles andere kann ich mich schon am nächsten Tag nicht mehr oder nur ungenau erinnern. Bei Themen, die mich gefühlsmäßig nicht bewegen, muss ich immer wieder wiederholen, bis ich sie gewisser-maßen stückweise langfristig behaltbar gemacht habe. Was ich nicht mehrfach wiederhole, ist für alle Zeiten weg, gelöscht aus meinem Gedächtnis, so, als wenn ich es nie gehört hätte. Dabei hatte ich es aber an dem Tag, an dem ich es gelernt habe, gut verstanden und konnte sogar meine Aufgaben dazu machen. Meine Lehrer sagen, das käme daher, dass mir diese Schule völlig gleichgültig wäre… Deswegen solle ich diese Schule verlassen.

 

Sokrates: Euer Sohn hat ein schwieriges Segment-Defizit. Bei ihm verläuft der Übergang vom Kurzzeitgedächtnis zum Langzeitgedächtnis nur langsam, zumindest nicht reibungslos. Ich kann das vielleicht am Beispiel eines modernen Computers am besten erklären:

 

Wenn man auf die Arbeit-Festplatte des PC - die mit dem Kurzzeitgedächtnis vergleich ist - etwas schreibt, dann ist das aktuell vorhanden und man kann darin und damit arbeiten. Wenn man aber den Computer ausmacht - das entspricht dem Schlaf oder einer Beschäftigung mit einem anderen Thema – dann wird alles, was auf der Arbeitsfestplatte war, gelöscht, sofern es nicht auf eine Speicher-Festplatte – diese entspricht dem Langzeitgedächtnis - gespeichert worden ist.

 

Das ist auch gut so, denn wenn man alles automatisch speichern würde, was auf die Arbeits-Festplatte geschrieben würde, wüsste man nicht mehr, was wichtig und unwichtig gewesen ist. Auf das Gedächtnis übertragen heißt das: Wenn wir alles, jede Kleinigkeit behalten würden, wüssten wir später nicht mehr, was wichtig und unwichtig gewesen ist. Man darf aber nicht zu viel vergessen, sonst hat man auch Wichtiges nicht behalten/gespeichert.

 

Bei einem PC kann ich diesen Übergang von der Arbeits-Festplatte zur Speicher-Festplatte durch den einfachen Befehl „speichern“ bewirken. Beim Menschen ist das nicht so einfach, man muss etwas behalten wollen, damit es langfristig behalten wird -  das entspricht etwa dem Befehl „speichern“ beim PC. Wenn zusätlich Formen der Emotionalität dabei beteiligt sind, dann geht der Übergang ins Langzeitgedächtnis leichter oder sogar ungewollt von selbst.

 

Die Eltern: Was kann man denn in solche Fällen tun? Das ist ja sehr deprimierend.

 

Sokrates: Doch, dazu gibt es bereits eine Reihe von Hilfs-Strategien, die man z.B. in speziellen Seminaren lernen und die man im Internet finden kann.  

Vor über 100 Jahren machte ein Pionier der experimentellen Gedächtnisforschung, Hermann Ebbinghaus, eine wichtige Entdeckung, die leider bis heute zu wenig beachtet wird. Seine experimentell gefundene Vergessenskurve zeigt eine beachtliche Halbwertzeit von Erlerntem. Wenn man der Meinung ist, einen Stoff wie Vokabeln oder Geschichtszahlen gut zu können, so ist dieser Stoff trotzdem noch nicht für immer gespeichert. Nach einer halben Stunde ist bereits durchschnittlich die Hälfte verschwunden. Nach etwas einem Monat ist nur noch ein Fünftel des Stoffes im Gedächtnis erhalten. Diesem „Verdunstungsbestreben“ frisch gelernter Inhalte kann nur durch erneutem Lernen entgegen gewirkt werden.

Allerdings kann man durch ständiges gleichförmiges Wiederholen des Lernstoffes nur begrenzt das Vergessen verhindern. Es fehlt in diesem Fall die Freude, der emotionale Bezug daran. Man sollte Weiderholungen deswegen zumindest interessant gestalten. So hat sich der Karteikasten mit mehrmaligen Wiederholungsfächern als Lernhilfe bewährt. In immer neuen Zusammen-stellungen kann man die vergessenen Lerninhalte wiederholen und bei jedem erneuten Lernen verlängern sich die Halbwertzeiten und der Lernende kann dadurch einen längeren Zeitraum verstreichen lassen, bis er durch eine erneute Wiederholung die verlorenen Lerninhalte wieder auffrischen muss.

Der Klassenlehrer des Schülers (unterbricht): Das ist ein typisches unnötiges Professoren-Geforsche. Behalten ist zugleich eine Angelegenheit des Wollens und der Begabung. Entweder man hat genügend Behalten-Grütze im Kopf oder nicht… Entweder man kann’s oder man kann’s nicht…  Außerdem sind wir für solche Fälle auch nicht ausgebildet… Das würde das Schulwesen viel zu sehr verkomplizieren, wenn man immer auf so etwas achten sollte…

Sokrates (überhört diesen unqualifizierten Einwand): Das in der Schulpraxis übliche Lernen negiert völlig diese Erkenntnis der Gedächtnis-Forschung, dass nämlich ständiges Wiederholen unumgänglich ist und gerade den Schülern mit der Schwierigkeit, langfristig zu behalten, hilft. Die Schulpraxis ist doch bei vielen Lehrern so: Man nimmt einen Stoff-Abschnitt durch (häufig mit stofflicher Überfrachtung), schreibt dann eine Lernziel-Kontrolle und anschließend nimmt man etwas Neues durch. Ständig wiederholt wird das zurückliegend Gelernte nicht und deshalb vergessen die Schüler (geradezu bewusst) den letzten Stoff-Abschnitt schnell.

 

Es gibt leider Lehrer, die interessieren sich viel mehr für die Unterrichtsmethode als für das langfristige Ergebnis ihres Unterrichts. Für die ist hauptsächlich wichtig, wie (angeblich) modern und kunstvoll ihr Unterricht gestaltet ist und sie geben offen zu, dass sie sich nicht besonders dafür interessieren, was die Schüler dauerhaft an Wissen aus ihrem Unterricht mitnehmen. Kurzfristig gesehen sind das gute Lehrer, langfristig gesehen aber schlechte.

 

Und die übergeordneten Schulverwaltungen prüfen ebenfalls nicht nach, was die Schüler ihres Verwaltungsbezirkes wirklich gelernt haben. Sie  sind mehr darauf bedacht, dass ihre Schulen nach außen modern erscheinen und dass keine Unzufriedenheiten ihnen zu viel Arbeit machen.

 

Wie kann ich nun dem letzten Sorgenkind, einer Schülerin, hier helfen?

 

Die Schülerin: Ich habe keine Schwierigkeiten in der Rechtschreibung, keine in Sprachen, ich kann normalerweise gut behalten, ich kann im Deutsch- und Philosophieunterricht abstrakten Gedankengängen gut folgen – aber ich komme in Mathematik überhaupt nicht zurecht. Ich kann in diesem Fach schon einfachen abstrakten mathematischen Zusammenhängen nicht folgen, ich kann sie einfach nicht verstehen. Mit Geld kann ich gut umgehen, auch mit Buch-staben, aber nicht mit Zahlen… Woran liegt das nur? Ich gelte in Mathematik als unbegabt, als doof…

 

Sokrates: Ich vermute, du hast eine Zahlenvorstellungs-Schwäche. Man nennt eine solche partielle Schwäche Dyskalkulie. Davon haben noch wenige Lehrer etwas gehört. Das Problem der Legasthenie ist mittlerweile wenigstens dem Begriff nach bekannter geworden, aber noch nicht die ähnlich gelagerte Zahlen-Vorstellungsschwäche. Im Internet werden bereits Kurse zur Hilfe bei Dyskalkulie angeboten. Und es gibt bereits verständlich geschriebene Literatur dazu.

 

Ich habe hier einen kleinen, einfach geschrieben Artikel in einer Zeitschrift gefunden. Ich lese ihn mal vor:

 

Menschen, denen selbst einfachste Rechenaufgaben Probleme bereiten, kann geholfen werden

Mit Grauen denkt so mancher Erwachsene an das Schulfach Mathematik zurück: Textauf­gaben, Wurzelziehen und das große Einmaleins haben etliche zur Ver­zweiflung getrieben. Doch mehr oder weniger haben es fast alle gemeistert. Bis auf etwa jeden Zwanzigsten, der schon bei einfachen Additionsaufga­ben an seine Grenzen stößt. Oft wer­den Menschen mit extremer Rechen­schwäche von der Gesellschaft als dumm oder lernfaul abgestempelt, meist völlig zu Unrecht.

 

„Es gibt verschiedene Gründe, warum Kinder oder Erwachsene nicht gut rechnen können, angefangen bei mangelnder Übung bis hin zu neuro­biologisch bedingten Problemen", sagt Professorin Karin Landerl, Psychologin an der Universität Tübin­gen. Viele Menschen haben von Na­tur aus Probleme, Zahlen überhaupt als Mengenangaben zu verstehen und damit entsprechend umzuge­hen. „Ein Nicht-Betroffener kann sich das ganz gut vorstellen, wenn er sich vornehmen würde, mit Buch­staben zu rechnen", erklärt Dr. Petra Küspert vom Würzburger Institut für Lernförderung. „Ist es weiter von K bis P oder von E bis G? Spätestens hier würde jeder anfangen, an den Fingern abzuzählen."

 

Im Gegensatz zur Lese-Rechtschreib-Schwäche (Legasthenie) befindet sich die Forschung zur Dyskalkulie noch in den Anfängen. Es gibt jedoch deutliche Hinweise, dass die Fähig­keit, mit Zahlen umzugehen, in den Genen steckt. So scheinen bereits normal entwickelte Babys ein Gespür für Mengen zu zeigen.

 

Fehlt das Verständnis für Zahlen, ist der Leidensdruck der Betroffenen enorm. Tägliche Miss-erfolgserfahrun­gen im Mathe-Unterricht treiben vie­le Kinder in eine Schulangst oder gar bis zur Schulverweigerung. Auch Erwachsene leiden im Alltag unter dem Problem: „Viele Betroffene zahlen an der Supermarktkasse nur mit großen Scheinen, weil sie nicht einschätzen können, wie viel die Waren kosten. Und sie haben keine Möglichkeit, das Wechselgeld zu überprüfen", schil­dert Karin Landerl.

 

In Deutschland sollen schätzungs­weise rund fünf Prozent der Gesamt­bevölkerung von dieser Dyskalkulie betrof­fen sein. Umgerechnet wären das rund vier Millionen Menschen - weit mehr, als Berlin Einwohner hat.

 

Bis zur Einschulung werden die Probleme oft nicht offenkundig, ob­wohl betroffene Kinder häufig den spielerischen Umgang mit Zahlen vermeiden. Dennoch handelt es sich in vielen Fällen um intelligente und kluge Menschen. „Schon im ersten Grundschuljahr sollte den Eltern das Problem auffallen, wenn die Kinder Schwierigkeiten beim Erlernen der Grundrechenarten haben", erklärt die Tübinger Psychologin.

 

Dann gelte es, rasch zu handeln. Eine Rechenschwäche bedeute schließlich nicht, dass das Kind auf den Besuch einer höheren Schule verzichten müs­se. Mit der entsprechenden Unter­stützung lasse sich das Problem meist in den Griff bekommen. Hier sei, so die Expertin, auch die Politik gefor­dert: „Bei der Legasthenie haben vie­le Bundesländer Regelungen gefun­den, um betroffenen Kindern dennoch einen guten Schulabschluss zu ermöglichen. Für die Dyskalkulie gibt es noch keine Regelung." Diese sei aber dringend nötig.

 

„Nach einem vertrauensvollen Ge­spräch mit der Lehrerin sollte der erste Weg zum Schul-psychologen führen", meint Küspert. Adressen und Hinweise gebe es auch beim Bundes-verband Legasthenie und Dyskalkulie. Erwachsene wenden sich am besten direkt dorthin.

 

Die Therapien sind auf die Bedürfnisse der Betroffenen zugeschnitten. „Es sind weder Ergo-therapien noch Logopädien", sagt Küspert. „Nach einer intensiven Feindiagnostik wird die Therapie für jedes Kind individuell erstellt. Damit eine entspannte Lernsituation entsteht, gehen wir etwa während des Rechnens an einem großen Zahlenstrahl auf dem Boden entlang, oder wir üben das Mathematisieren in Rollenspielen." Zentral sei zudem eine psychologische Arbeit. Auch spielerisch können die Kleinen mit speziellen Computerprogrammen ihr Zahlen-verständnis trainieren. „Diese Programme funktionieren nur als Ergänzung zur Therapie", betont Landerl. Und wenn das Grundverständnis für Zahlen erst einmal da ist, macht vielleicht sogar die Mathe-Stunde Spaß.

(Christian Krumm, Apotheken Umschau, Heft 34, 2010)

 

Der Mathematik-Lehrer der Schülerin (unterbricht): Jetzt wird also nicht nur bei der Rechtschreibung, sondern auch in der Mathematik die Wissenschaft von den zu duldenden Ausnahmen aktiv… Wann dürfen wir denn überhaupt noch sagen: Dieser Schüler ist für eine höhere Schule nicht geeignet?... Das sind doch alles nur an den Haaren herbei gezogene Versuche, Schüler vor der notwendigen Zurückstufung zu bewahren… Entweder man hat genügend Rechen-Grütze im Kopf oder nicht… Entweder man kann’s oder man kann’s nicht…  Außerdem sind wir für solche Fälle auch nicht ausgebildet… Das würde das Schulwesen viel zu sehr verkomplizieren, wenn man immer auf so etwas achten sollte…

 

Sokrates (überhört diesen unqualifizierten Einwand): Das heute hier Gehörte sind nur Haupt-Beispiele für solche partiellen Lern-Schwächen. Es gibt noch andere, z. B. in Musik und Kunst. Aber das sollte hier genügen, um die Schule und die Lehrerschaft dafür zu sensibilisieren, dass die Menschen und damit auch die Schüler nicht so einfach klassifizierbar sind in begabt bzw. weniger begabt, in solche die ausreichend „Grütze“ im Kopf haben und in solche, die nicht genügend „Grütze“ besitzen… Das macht das Unterrichten nicht einfach, das ist mir bewusst. Und ich weiß auch, dass bei den heutigen großen Klassen die Lehrer nicht auf diese partiellen Schwächen so eingehen können, wie es nötig wäre. Aber ein par ermutigende Worte an solche betroffenen Schüler und ihre Vermittlung an Kurse und Institute, die sich auf solche partiellen Defizite spezialisiert haben, wäre eine große Hilfe. Das gehörte in pädagogische Fortbildungs-Kurse…

 

Die 5 Lehrer (ungeordnet): Ach was… Diese Hinweise auf die Möglichkeiten so genannter partieller Lern-Schwächen sind nur Vorwände, uns Unrecht zu geben, wenn wir unbequeme Empfehlungen geben… Solche besonderen Schwächen kommt viel zu selten vor… Entweder man hat die Grütze für eine höhere Schule im Kopf oder nicht… Außerdem sind wir für solche Fälle nicht ausgebildet… Das würde das Schulwesen auch viel zu sehr verkomplizieren, wenn man immer darauf achten sollte…

 

(Damit stehen die Lehrer auf und gehen. Sokrates sieht ihnen bedrückt nach und murmelt)

 

Sokrates: Offensichtlich unbelehrbare Schema-Lehrer… Ich hoffe und bin guten Mutes, dass die Mehrzahl der Lehrer aber anders denkt und aufgeschlossener ist gegenüber solchen neuen Forschungen von den partiellen Lernschwächen. Das macht den Unterricht nicht nur schwerer, sondern auch interessanter…

 

(Aufgeschrieben von discipulus socratei, der in seiner früheren Lehrerzeit auch solche Fälle von partieller Lern-Schwäche erlebt hat und die Unfähigkeit von Lehrern, die nicht zwischen einem generellen Begabungsmangel und einer partiellen Lern-Schwäche unterscheiden konnten)

 

 

 

 

 

 

 

 

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