Der Satz traf mich wie ein kalter Guss: „Es gibt ein Leben nach dem Tode ihres Vaters!“ Mir war klar, dass ich diese Aussage mit meiner Nörgelei, ich würde gelebt, provoziert hatte. Warum hatte ich zugelassen „gelebt zu werden“? In Gedanken ging ich die letzten zehn Jahre durch. Die Aufgaben und Verantwortung, die ich für meine Eltern übernommen habe, sind stetig gewachsen. Trotz Familie und Arbeitsplatz blieb das Gefühl, mein Leben hätte sich auf Waschen und Einkaufen reduziert. Es fehlte Zeit neue Kontakte zu knüpfen. Immer wieder musste ich die schmerzliche Erfahrung machen, dass mich nur Menschen verstanden, die in einer ähnlichen Situation leben.
Was wusste ich über Demenz, als die Entscheidung fiel mit meinen Eltern zusammenzuziehen? Wie oft habe ich inzwischen mit einer Bekannten diskutiert was besser ist, im gleichen Haus zu wohnen um Schaden zu begrenzen, oder die Möglichkeit zu haben die Tür hinter sich zu schließen und nichts mehr zu hören und zu sehen.
Meinen Eltern war es vergönnt gemeinsam alt zu werden, auf sehr unterschiedliche Weise. Meine Mutter, körperlich fit, hatte seit vielen Jahren manische Depressionen. Mein Vater, mit seiner Gehbehinderung, hatte bis zu seinem 87. Lebensjahr ein bewundernswertes Gedächtnis. Bis heute ist nicht klar, was mit ihm im Frühjahr 1997 passierte. Eine Grippe mit hohem Fieber hatte mich außer Gefecht gesetzt. Bis ich merkte, dass etwas nicht stimmte, konnte er nicht mehr aufstehen und war verwirrt. Mit Hilfe von Arzt und Pflegedienst kam er wieder auf die Beine, aber die Phasen in den er desorientiert ist, sind geblieben.
Die Gehbehinderung meines Vaters ist Folge eines Betriebsunfalls, der sein Leben einschneidend veränderte. Immer wieder ist es in den letzten Jahren dieser Unfall, von dem er berichtet. Dabei wird seine Verbitterung deutlich, dass er 1949 infolge menschlichen Versagens zum „Krüppel“ wurde, nach dem er den Krieg unversehrt überstanden hatte. Erst nach dem Tod meiner Mutter wurde mir bewusst, dass für meine Mutter seit dem Unfall feststand, mein Vater würde vor ihr sterben. Und irgendwann war er wohl auch davon überzeugt. Ich erinnere mich noch sehr genau, als er mir sagte: „Wenn ich nicht mehr lebe, kannst Du Mutti nicht zu Hause behalten.“ Die Botschaft, die er mir damit übermitteln wollte, verstand ich erst später. Ihm war zu diesem Zeitpunkt schon aufgefallen, dass meine Mutter anfing ihr Gedächtnis zu verlieren. Mir wurde das Ausmaß erst klar, als ich 1992 meine Arbeitszeit reduzierte. Sie hatte ganze Felder ihres Gedächtnisses eingebüßt. Heute frage ich mich oft: „Was mag sie empfunden haben, anfangs als sie durchaus noch realisierte was mit ihr geschah. Mit großen Augen hat sie mich angesehen und gesagt: „ich vergeß doch alles“. Ich habe sie genau beobachtet und fand es immer wieder bewundernswert, wie geschickt sie ihr Defizit zu verbergen wusste.
Bei meiner Mutter konnte ich Demenz als einen Teil ihrer Krankheit akzeptieren, genau wie die manischen und depressiven Phasen und wie die nächtlichen Hunger-Attacken. Meine Mutter war sicher nicht einfach. Besonders wenn sich zu Beginn der manischen Phase ihre Aggressionen gegen mich richteten, fühlte ich mich gänzlich überfordert. Aber ich wusste immer, diese Phase ist in zwei Monaten vorbei. Wenn sie, meist zu Zeiten wo wir gerade ins Bett gehen wollten, die Kaffeemaschine angeschmissen hatte, konnte ich sie ohne große Diskussionen bewegen wieder ins Bett zu gehen. Bei meinem Vater war das anders. Seine Zeit war zwischen 2.00 und 4.00 Uhr. Dann hörte ich ihn reden oder er rief mich: „Die andern sind schon alle weg, zieh mich an.“ Um diese Zeit war ich weder zum Reden aufgelegt noch in der Lage Diskussionen zu führen, wer alles in seinem Schlafzimmer war. Ich hatte große Probleme, mit seiner Verwirrtheit umzugehen. Wie soll ich das Gefühl beschreiben, wenn er in seiner Wohnung stand und fragte: „Gibt es hier eine Toilette?“ oder „wie komme ich in das andere Zimmer?“ Da waren mir die Zeiten, in denen er meinte, er müsste die Richtung bestimmen und mir vorwarf, ich sei schon “viel zu erwachsen“ lieber.
Als meine Mutter im Februar 1999 starb, waren meine Eltern 65 Jahre verheiratet. Da war es verständlich, dass mein Vater sich einsam fühlte, auch wenn er dreimal in der Woche von verschiedenen Personen besucht wurde. Er wurde durchgehend desorientiert, die Suche nach seinem zweiten Haus trieb ihn um. Ich begriff, dass Diskussionen zu nichts führten und ließ ihn gehen. Meist kam er nach wenigen Schritten zurück und meinte, „das Haus ist heute nicht zu finden“. Mitunter brachen Nachbarn ihn nach Hause.
Problematisch wurde es, wenn er wieder einmal hingefallen war. Seine Versuche mir zu helfen, wenn ich ihn aufheben wollte, erschwerten die Sache erheblich. Dabei hatte er immer wieder großes Glück, trotz zwei künstlichen Hüftgelenken verliefen seine Stürze ohne Knochenbrüche.
Einen verwirrten Menschen zu betreuen kostet Kraft. Die fehlende Nachtruhe, dieses immer auf dem Sprung sein, zehrte an meinen Kräften. Irgendwann musste ich zugeben, so kann es nicht weitergehen. Es folgte der Umzug in ein Pflegeheim.
Nun geschah etwas völlig Unerwartetes, mein Vater nahm die Pflege nicht an. War er zu Hause beim Versuch sich anzuziehen, vor Erschöpfung wieder eingeschlafen, so war er nun angezogen, wenn der Frühdienst kam. Er beobachtete seine Umgebung sehr genau, erzählte mir Geschichten über Pflegekräfte und Mitbewohner. Und sein Geist wurde sehr schnell wieder klar. Das machte die Sache nicht leichter für mich, sondern verstärkte das Gefühl, versagt zu haben. War mein Vater, wie die Heimleitung mir versicherte, kein einfacher Patient, so war ich keine einfache Angehörige. Ich scheute mich nicht, Pflegedefizite zu melden und Änderung zu fordern.
Der Zustand meines Vaters verschlechterte sich schleichend. Sein Herz pumpte nicht mehr kräftig genug, die Folge war Wasser in der Lunge. Seinen 92. Geburtstag verbrachte er im Krankenhaus. Es war hart zu sehen, dass er wieder verwirrt war und noch einmal die Schrecken des Krieges durchlebte. Als er fünf Wochen später, im Juni 2002, starb, schrieben wir auf die Todesanzeige „Dankbar für seine Erlösung nach einem langen erfüllten Leben nehmen wir Abschied…“. Trotz aller Dankbarkeit war ich voller Trauer um einen Menschen, der mein ganzes Leben begleitet hat.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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