Nicolai Rosemann

Die Täuschung

Sie sitzt mir seit zwei Stationen gegenüber und starrt durch mich durch. Ich würde mir nichts dabei denken. Es war ein harter Tag, ich bin geschlaucht und müde und will nur noch ins Bett fallen. Doch wie sie da sitzt, durch mich hindurchstarrt und stumm der Musik folgt, wird mir klar, dass sie damit meiner Musik folgt. Der Musik, die ich höre. Die nur ich hören kann, denn ich benutze das Gerät maximal auf Stufe 3 von zwanzig möglichen Lautstärken.
Es war wie gesagt ein langer, schlauchender Tag. Aber ich habe das Gefühl, er wird noch nicht vorbei sein.
Ihr Blick ist immer noch leer, führt durch mich durch und verliert sich irgendwo in der Ferne. Die Landschaft zieht an uns vorbei, so schnell, dass die Augen kaum folgen können. Bald erreicht der Zug die Höchstgeschwindigkeit auf der Strecke. Dann höre ich den Zug, aber kaum noch die Musik.
Ich werfe eine Sonde auf die Frau aus. Eine Sonde funktioniert wie ein Ball, den ich auf einen Korb werfe. Normalerweise müsste die Sonde durch den Korb, also den Geist der Person, fallen und verschwinden. Die Person würde es nicht wahrnehmen, in ganz seltenen Fällen sagen Menschen aus, dass es sich anfühlt als würde jemand über ihr Grab laufen. Ich kann es nicht beurteilen.
Auf jeden Fall werfe ich die Sonde aus und warte. Statt durchzufallen prallt sie ab. Manchmal geschieht das. Vielleicht war die Sonde schwach, schließlich bin ich müde. Ist ein Mensch tief in seinen Gedanken versunken, hat er auch die Möglichkeit eine schwache Sonde abzuwehren.
Also konzentriere ich mich und werfe eine zweite Sonde aus. Diese sollte stark genug sein einen Menschen zu durchdringen. Doch auch sie prallt ab. Also habe ich den Beweis. Die Frau ist ein Telepath. Und die Tatsache, dass sie meine Musik mithört und mitsingt, zeigt mir auf, dass sie ihre Gabe kennt, oder sie zumindest zu nutzen weiß. Das ist ausreichend um sie zu markieren. Denn mit unserer Gabe kommt eine große Verantwortung. Die Geheimnisse der anderen gehen uns nichts an. Außerdem haben die Menschen genau deswegen vor uns Angst. Sie tut es vielleicht nur unbewusst, doch sie dringt in den Geist eines Menschen ein. Und könnte ihm alles stehlen –Erinnerungen, Geheimnisse, Hoffnungen. Kontonummern und Pincodes sind ein kleineres Übel.
Ich mache mich bereit.
 
Sie steht auf, ich stehe auf. Sie verlässt den Zug, ich folge ihr. Beim Ausgang nimmt sie mich zum ersten Mal bewusst wahr. Sie bleibt stehen und mustert mich. Ich trage schwarz. Schwarze Stiefel, gewichst. Schwarze Hose, neu. Schwarzer Mantel, neu. Schwarze Lederhandschuhe. Dieser Aufzug macht manchen Menschen Angst, doch ihr nicht.
„Kann ich Ihnen helfen?“ fragt sie frech. Ich antworte nicht, zücke nur meine Marke. Gedankenpolizei. Ein bronzener Leuchter auf schwarzem Grund in Form eines Rhombus.
„Es tut mir leid, Miss. Aber Sie haben gegen das Gesetz verstoßen.“ Ich erkläre ihr kurz und knapp was es bedeutet ein Telepath zu sein, und welche Grenzen uns gesetzt sind. Sie hört mir aufmerksam zu und nickt.
„Seit wann wissen Sie es?“ frage ich.
„Ich wusste es bis gerade eben nicht. Aber wenn Sie es sagen“, antwortet sie.
„Ich muss das überprüfen“, sage ich daraufhin und ziehe meine Handschuhe aus. Ich reiche ihr die Hand. Eine direkte Verbindung erlaubt es mir auf alles zuzugreifen. Nur will es ihr nicht stehlen, sondern nur für uns sichern. Die Gedankenpolizei ist nur die Exekutive, ausführendes Organ zur Erfassung von anderen Teps. Ein anderes Institut führt die Erfassten dann in unsere Welt ein, schult sie, stärkt ihre Gabe und gewährt ihnen Schutz.
Ich sauge die Informationen aus ihr. „Danke für die Kooperation“, verabschiede mich. Sie verschwindet in einem Bus, während ich die erfassten Daten im Kopf durchgehe. Wohnadresse liegt in der Nähe, also könnten die Daten stimmen. Dann kommt der Name. Ich stutze. Jane Doe?
Ich bin gerade über den Tisch gezogen worden, stürzt es auf mich ein. Die hat mich getäuscht. Nicht nur getäuscht, sie war stark genug mich auszusperren und glauben zu machen, dass sie nur irgendein Tep ist, mäßig begabt, aber doch ein Tep.
Sofort laufe ich zum nächsten Fernsprecher und alarmiere die anderen Gedankenpolizisten. Doch bis sie eintreffen ist es zu spät. Jane Doe ist untergetaucht. Und ich werde einiges erklären müssen. Jane Doe mag ein starker Tep sein, doch einen Gedankenpolizisten darf sie nicht täuschen. Selbst dann nicht wenn er müde ist, geschlaucht.
Ich muss ins Bett. Ein schlimmer Tag.

Die zweite Geschichte zu Babylon 5 dreht sich um die Organisation des PSI-Corps und zeigt, dass nicht alle wie Bester sind (unfehlbar)Nicolai Rosemann, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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