Diethelm Reiner Kaminski

Mensch ärgere dich nicht



Drei rote Fäden durchzogen im Vorjahr mein Leben: Dass ich jeden Tag einen Tag älter wurde, dass mit dem kürzer werdenden Jahr immer weniger Geld auf meinem Konto war und dass ich mich oft über Kleinigkeiten erregte. Überflüssigerweise. Die beiden ersten Fäden kann ich nicht beeinflussen, aber den dritten Faden sehr wohl.
Für das neue Jahr habe ich mir fest vorgenommen, die Dinge gelassener zu sehen, mich nicht mehr zu ärgern und mich nicht mehr über Nichtigkeiten aufzuregen. Es lohnt nicht. Die Zeit ist zu kostbar, als dass man sie gedankenlos vergeuden sollte.
Am zweiten Tag des jungen Jahres schlendere ich guter Dinge durch unser beschauliches Wotzelhausen. Die Idylle wird gestört durch eine Schlägerei vor einer Kneipe. Ein ungleicher Kampf. Ein Hüne gegen ein mageres Männchen. Im vorigen Jahr hätte mich diese Unfairness wahnsinnig aufgeregt, ich hätte vielleicht sogar die Polizei gerufen, aber jetzt halte ich mich zurück, schaue vielmehr amüsiert der ungewöhnlichen Darbietung zu. Insgeheim wette ich, dass der Dünne gewinnt, weil ich mit dem Gedanken an meine eigene bescheidene Statur beim Kampf gegen einen Goliath eher auf der Seite Davids stehe. Aber die stille Wette verliere ich. Goliath lässt endlich von seinem blutenden Opfer ab, das auf dem Bürgersteig zusammengesunken ist. Ich ziehe schon ein Taschentuch aus meiner Jacke, um dem Mann das Blut abzuwischen, aber tue es dann doch nicht, weil mir einfällt, dass ich es später selbst noch gebrauchen könnte, und dann ärgere ich mich, wenn ich keins habe.
Beim Mittagstisch, den ich als mich Alleinerziehender täglich im Gasthof Zum goldenen Kalb einnehme, hätte ich Anlass genug, mich über den lahmarschigen, ignoranten, arroganten Kellner und das lauwarm servierte Menu aufzuregen. Aber alles hat zwei Seiten. Der Kellner trägt mit seinem Schlendrian dazu bei, dass auch ich innerlich zur Ruhe komme und meiner Umgebung größere Beachtung schenke, als wenn ich das augenblicklich auf den Tisch gestellte Essen eilig hinunterschlänge. Auch kann ich mir an der lauwarmen, aber dafür umso magenschonenderen Suppe nicht den Mund verbrennen.
Noch vor kurzem hätte es mich aus der Fassung gebracht, dass ein Fremder es wagt, sich in unserem Gasthof breitzumachen. Ich wäre aufgestanden und hätte ihn gefragt: „Haben Sie sich in der Adresse geirrt? Hier ist nur Platz für echte Wotzelhausener. Nicht für Hergelaufene. Kommen Sie etwa gar aus Buxxhofen?“ Und wenn der Eindringling sich geweigert hätte, meiner freundlichen Aufforderung Folge zu leisten, hätte mir das vollständig den Appetit verdorben. Heute sitzen gleich drei Fremde im Goldenen Kalb und sprechen, obwohl es Deutsche sind, ein Kauderwelsch, das meinen Ohren weh tut. Ich stehe trotzdem nicht auf, um sie zurechtzuweisen, nicht weil es drei sind und ich nur einer, sondern weil mich ihre Aussprache belustigt und ich mir sage: Die können sich von uns und unserer Wotzelhausener Lebensart noch eine dicke Scheibe abschneiden.
Auf dem Nachhauseweg überrasche ich an der Bushaltestelle eine Gruppe Jugendlicher bei Verschönerungsarbeiten am Unterstand und an den Fahrplantafeln. „Wirkt gleich viel fröhlicher“, sage ich anerkennend, „kann ich euch irgendwie zur Hand gehen?“
„Mach dich vom Acker, Opa“, sagt der Anführer, „oder brauchste auch´n frischen Anstrich?“ Schon richtet er seine Sprühdose gegen mich.
„Nee, ganz ehrlich“, sage ich, „gefällt mir, was ihr da macht. Würde ich auch gerne können“, und da lässt er von mir ab und widmet sich wieder mit großer Hingabe seiner verdienstvollen ehrenamtlichen Tätigkeit. Letztes Jahr noch hatte ich ein ganz falsches Bild von unserer Jugend. Neuerdings gebe ich mir Mühe, ihre Kultur zu verstehen: ihre Kreativität, ihren individuellen künstlerischen Ausdruckswillen, ihre originellen Sprüche. Um die deutsche Sprache ist mir gleich weniger bange, wenn ich junge Leute nuscheln höre.
Gegen Abend besuchen mich meine beiden sieben- und achtjährigen Neffen, um mir persönliche Neujahrswünsche von Schwester und Schwager zu überbringen. So haben sie wieder eine Briefmarke gespart. Außerdem dürfen sie hoffen, aus meiner Großzügigkeit finanzielle Vorteile zu ziehen. Früher hätte mich dieses leicht zu durchschauende Manöver auf die Palme gebracht, doch jetzt freue ich mich, zwei unverhoffte Partner für ein paar Runden „Mensch ärgere dich“ zu haben.
Nach der vierten Runde explodiere ich: „Ihr kleinen Banditen. Meint ihr denn, ich merke nicht, wie ihr schummelt? Beim Würfeln, beim Setzen, und überhaupt. Schluss. Mit euch spiele ich nicht mehr. Ich wollte jedem von euch 50 Euro fürs Sparschwein geben, aber Betrüger werden nicht noch belohnt. Lasst euch erst wieder bei mir blicken, wenn ihr ehrlich geworden seid.“
Wie begossene Pudel und mit leeren Händen ziehen die beiden ab.
Zugegeben, so ganz gelungen ist es mir auf Anhieb noch nicht, mir jeden Ärger vom Hals zu halten, aber ich tröste mich damit, dass mir ja noch 363 Tage bleiben.
 


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.01.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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