Diethelm Reiner Kaminski

In Reihe gebracht



Roman war etwas hinter seiner Frau zurückgeblieben, weil er mehrfach vor Fotoläden stehen geblieben war, um sich die neuesten Kameramodelle anzuschauen. Nun bemühte er sich, Irina einzuholen, die sich kein einziges Mal nach ihm umgeblickt hatte. Er wollte seinen gewohnten Platz zu ihrer Linken wieder einnehmen, als ihn ein heftiger Schlag erschütterte, als ob Starkstrom durch seinen Körper gefahren wäre, als ob eine unsichtbare Hand ihn hinter Irina drückte. Mehrere Male versuchte Roman erneut, links oder rechts von Irina zu gehen. Jedes Mal dasselbe. Eine jäher Schmerz zwang ihn zurück in die alte Position. Sowie er direkt hinter ihr ging, war der Schmerz wie weggeblasen. Irina hatte bemerkt, dass er sie eingeholt hatte, drehte sich kurz um und sagte: „Was machst du? Komm neben mich. Ich mag es nicht, wenn ich ständig jemanden im Rücken habe.“
„Ich kann nicht“, sagte Roman. „Ich habe es versucht. Es geht nicht.“
„Lass den Unfug“, sagte Irina. „Du mit deinen ewigen Spielereien. Du bist mitunter wie ein kleines Kind.“
Roman blieb absichtlich ein paar Meter zurück, um auszuprobieren, ob das Problem auch bei anderen Menschen auftrat. Doch mühelos konnte er an anderen Passanten vorbeigehen, links ebenso wie rechts, in größerem Abstand ebenso wie ganz nah.
Erneut versuchte er, sich an die Seite Irinas zu schieben, doch davon ließ er gleich wieder ab, von unerträglichen Schmerzen durchzuckt.
Roman überlegte: Was war zu tun, wenn der lästige Zustand anhielt? Er war über zwanzig Jahre verheiratet, da musste man nicht mehr unbedingt Hand in Hand oder eingehakt durchs Leben gehen. Hinter Irina her zu latschen – damit konnte er sich arrangieren. Das hatte sogar den Vorteil, dass er sie im Auge behalten konnte und sie auf ihn und nicht er auf sie warten musste, wenn sie mal wieder ohne Vorankündigung in einer Boutique verschwunden war. Außerdem würde er eine gute Ausrede haben, wenn Irina ihn zu ungeliebten Stadtgängen beschwatzen wollte.
„Lieber nicht, wir fallen nur unangenehm auf, wenn wir Bekannten begegnen sollten“, konnte er sich jetzt herausreden.
Und daheim in der Wohnung? Sie würden umdisponieren müssen. Nebeneinander auf dem Sofa sitzen und Fernsehen gucken war ab sofort unmöglich. Der Kauf eines zweiten Fernsehers war unumgänglich. Schlafen im selben Bett ausgeschlossen. Das konnte Irina, die sich schon lange übers Romans lästiges Schnarchen beklagt hatte, nur begrüßen. Doch was war mit Sex?, fragte sich Roman besorgt. Als einzige Möglichkeit blieb die A-tergo-Position. Besser als gar nichts, sagte sich Roman. Sie würden sich schon daran gewöhnen. In ihrem Alter mussten sie sich dabei nicht unbedingt verliebt in die Augen schauen.
Sie mussten sich an vieles gewöhnen. Irina hatte inzwischen eingesehen, dass Roman nicht spielte, sondern nur dem Schmerz auswich, von dem er permanent bedroht war. Es dauerte nicht lange, bis sie erkannte, dass Roman ihr völlig ausgeliefert war. Es lag in ihrer Hand, ihm „freien Durchgang zu gewähren“, ihn „ruhig zu stellen“ oder ihn „schachmatt zu setzen“, wie sie es insgeheim nannte. Und welche Frau hatte es nicht gerne, Macht über einen Mann zu haben? Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass, wenn die Bewegung von Irina ausging, alles ganz normal lief. Sie konnte Roman überholen, sich links oder rechts an seine Seite stellen, ohne dass etwas geschah, doch wann immer Roman diesen Schritt tat, wurde er von einer unsichtbaren Kraft schmerzhaft bestraft.
Wollte Irina Roman ärgern, stellte sie sich ihm einfach in den Weg, sodass er, um Schmerz zu vermeiden, betteln musste: „Bitte, geh an mir vorbei. Ich mache das besser nicht. Du weißt ja, was dann passiert.“
Irina war es zufrieden. Endlich eine eheliche Ordnung ganz nach ihrem Geschmack. Vor einigen Wochen hätte sie noch nicht davon zu träumen gewagt. Ein wenig umständlich das Ganze, gewiss, aber die Vorteile überwogen.
 


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