Sokrates hat eine Einladung erhalten, in einer neu eingerichteten Gesamtschule/Einheitsschule an einer Unterrichtsstunde im Sekundarbereich I teilzunehmen. Eingeladen hat ihn die Schulleitung dieser Schule, die von ihrem Konzept, dass alle Schüler möglichst in eine Schule gehen sollen, sehr überzeugt ist. Das sei am gerechtesten und effizientsten für alle. Sokrates hat sich eine Musikstunde in einer Klasse 8 ausgewählt, weil ihm hier die Bandbreite der Begabungen und Kenntnisse sehr breit zu sein scheint und er deswegen am besten die Vorzüge und Nachteile solchen Gesamt-Unterrichts erkennen könne.
Die Schulleitung (der Schulleiter und seine beiden Konrektoren) begrüßen Sokrates vor der betreffenden Klasse. Sie glauben so fest an die Richtigkeit ihrer Idealvorstellung, dass alle Schülertypen zusammen unterrichtet werden sollen und dass dadurch die Volksbildung am besten angehoben wird, dass sie keine kritischen Überlegungen dazu in ihrer Umgebung tolerieren. Sie wollen überzeugen oder andere Ansichten nieder kämpfen. Das merkt man ihnen in allen ihren Äußerungen an. Sie gehen zu der Klasse, die Sokrates ausgesucht hat, eine Klasse 8 innerhalb dieser Gesamtschule. Sokrates hat dabei Zeit, zu sinnieren:
Sokrates (im Stillen für sich): Es ist doch eine merkwürdige Sache mit dem Glauben und mit den Idealvorstellungen bei den Menschen. Man kann diese schwierige Anlage seit den Anfängen der Geschichte verfolgen.
Beim Glauben hören alle kritischen Überlegungen auf. Hier stößt mein alter Lehrsatz: „Alles nachprüfen, alles nachwiegen, alles nachlesen“ sehr häufig auf eine unüberwindbare Mauer des Glaubens gegenüber dem wachen Denken... In wie vielen Bereichen blockiert dieses „Glauben“ die Vernunft und ist das Tor zu vielem Schaden, den sich die Menschen „in gutem Glauben“ selber zufügen. Das fängt bei den Religionen an... Der engstirnige Glaube in Kleinigkeiten verhindert, dass sich die glaubenden Menschen auf die gemeinsamen hohen Ziele im Kern aller Religionen besinnen und einigen können... Als ich im engeren Schülerkreise den Olymp als Sitz der Götter anzweifelte und das dann an die Öffentlichkeit drang und als ich sagte, man solle mir zeigen, dass die Götter auf dem Olymp so leben, wie es unsere Mythen und Sagen überliefern, wurde ich angeklagt und musste den Giftbecher trinken... Wie viel Glauben gibt es in der Politik und löst Kriege und Streit aus...
Und dann diese Idealvorstellungen! Der Mensch ist nicht ideal geschaffen und die Erde ist in ihren Bedingungen nicht ideal. Vermutlich deswegen streben viele Menschen nach idealen Zielen, die besser
als die Realität sind.
Und nun auch in der Schulpolitik dieser Glaube und diese Idealvorstellungen. Dabei sollten doch gerade in der Bildung die Vernunft zusammen mit Verantwortungsgefühl und Offenheit die jungen Menschen erziehen und fördern, weit entfernt von engstirnigen pädagogischen Idealismen und Glaubens-Vorgaben...
Wer sachlich das Schulwesen in Vergangenheit und Gegenwart analysiert, der stellt schnell fest, dass man je nach Situation, Schülergruppe und angestrebten Zielen jeweils eine andere Schulstruktur benötigt. Die Jugend aller Zeiten benötigt ein pluralistisches Schulwesen, in dem sich jeder gemäß seiner Individualität und Berufsziel die dazu passende Schulform aussuchen kann. Wie kann man dann auf dem Hintergrund solcher Erkenntnis behaupten - nein glauben - dass allein die Gesamtschule/die Einheitsschule die richtige Schulform sei...
Und das glauben nun Menschen, die studiert, teilweise promoviert haben und sogar Kollegen von mir sind... Ja! Besonders schlimm, ja gefährlich war es zu allen Zeiten, wenn Akademiker Ideal-Vorstellungen hatten oder unbeirrbar an etwas glaubten. Dann ist es besonders schwer, aus diesem Irrweg oder aus diesem einseitigen Glaubens-Weg wieder heraus zur geistigen Offenheit zu kommen...
Sokrates und die Schulleitung sind mittlerweile an die Klassentür der ausgewählten Klasse 8 gekommen. Der Schulleiter legt die Hand auf die Klinke und sagt pathetisch mit leuchtenden Augen:
Der Schulleiter: Nun treten wir gewissermaßen in eine große einklassige Dorfschule ein. Erst jetzt sind wir in Deutschland wieder zu der Einsicht gekommen, welch gute, gerechte und interessante Schulformen solche einklassigen Dorfschulen waren und wie die Lehrer gezwungen waren, gute Arbeit zu leisten. Als Idealvorstellung für die Zukunft schweben mir jene früheren Dorfschulen vor, in denen der Lehrer alle Altersstufen möglichst gleichzeitig unterrichtete, in denen bereits die Jüngeren von dem Stoff der Älteren und in denen die weniger Begabten von der Einsicht der Begabteren mit lernten – in denen es also weder organisatorische Rücksichten auf das Alter noch auf die angeblichen Begabungsunterschiede gab, in denen alle Schüler in einer gleichen Lerngruppe waren. – Alle Kinder sind gleich und lernen gleich! Der Irrweg des gegliederten Schulwesen muss langsam aber unaufhörlich zu Ende gehen und ist hier bei uns schon zu Ende. Treten Sie ein in die alte-neue beste Schulform, die nivellierende Einheitsschule mit nivellierenden Einheitsklassen...
Während sie in die Klasse gehen und sich auf die Stühle im Hintergrund setzen, hat Sokrates Zeit, vor sich hin zu reflektieren:
Sokrates (im Stillen für sich): Diese angeblich einklassigen Dorfschulen waren doch gar keine
nivellierenden einklassigen Dorf-Gesamtschulen. Sie waren meistens kleine mehr-klassige Schulen ohne trennende Raum-Wände mit Differenzierungen nach Leistung und Fleiß innerhalb einer Sitzreihen-Klasse. Denn innerhalb einer Bankreihe mit gleichaltrigen Schülern zeigte die Sitzreihenfolge den Leistungsstand der einzelnen Schüler an. Und der gute Volksschullehrer bot diesen unterschiedlich begabten und unterschiedlich leistungswilligen Schülern innerhalb einer solchen Bank-Klasse auch nicht den gleichen Unterricht an, sondern differenzierte sein Bildungsangebot und seine Forderungen je nach der Begabung und Leistung innerhalb einer solchen Klassenreihe. Man könnte mit einem modernen Begriff von „Binnendifferenzierung“ innerhalb einer Klasse sprechen. Aber das ist heute schon vielen Gesamtschul-Vertretern, besser vielen Gesamtschul-Gläubigen, bereits zu viel Differenzierung, zu viel Möglichkeit
für die Herausbildung von unterschiedlichen Lerngruppen-Niveaus...
Der Unterricht beginnt. Es ist eine überschaubare, aber trotzdem nicht gerade kleine Klasse. Der Musiklehrer möchte in einer Unterrichtsreihe Grundlagen des Gitarrenspielens vermitteln und möchte heute damit beginnen. Er hat es so eingerichtet, dass alle Schüler eine Gitarre vor sich liegen haben, überwiegend eigene, aber auch von der Schule ausgeliehene. Er benutzt einen Overhead-Projektor, um Folien mit Griffformen aufzulegen und die Tafel, um Details genauer zu veranschaulichen.
Es zeigt sich bald, dass die Vor-Kenntnisse sehr unterschiedlich sind. Er hat Schüler vor sich sitzen, die bereits seit Jahren Gitarre spielen und Schüler, für die das Instrument noch völlig fremd ist. In der Klasse sind musikalisch begabte und musikalisch unbegabte Schüler und Schüler, die schnell und langsam lernen. Es gibt einige Schüler, die an Musik Interesse haben und solche, die musikalisch uninteressiert sind. Einige Schüler haben schon seit längerem Klavier- oder Geigenunterricht, haben aber kein Interesse am Instrument Gitarre. Und in der Klasse sitzen einige Schüler, die überhaupt an Schule und besonders an musischen Fächern wenig oder kein Interesse haben... Eine schillernde Gemengelage also von unterschiedlichen Schülertypen.
Der Unterricht verläuft diesen Unterschieden entsprechend. Wenn der Lehrer den Anfängern etwas erklärt, langweilen sich die Fortgeschrittenen und umgekehrt. Wenn er etwas üben lässt und sich nach denen richtet, die schneller lernen, legen die Langsameren die Gitarren weg und umgekehrt. Und generell versuchen diejenigen, die sich gar nicht für Musik bzw. für Gitarre interessieren, etwas anderes zu machen, zu reden, in der Klasse herumzulaufen... Der Musiklehrer ist ständig beschäftigt, sich auf die unterschiedlichen Schülertypen jeweils kurzzeitig einzustellen. Er ist sichtbar gefordert und bald in Schweiß gebadet...
Das ist für Sokrates Anlass, über diese schwierige Unterrichts-Situation nachzusinnen.
Sokrates (im Stillen für sich): Was für ein Alleskönner und Multitalent muss dieser Lehrer in solch einer Einheitsklasse sein... Und wie anstrengend ist der Unterricht für ihn... Dabei geht doch der Trend in der Wirtschaft, im Berufsleben dahin, dass man sich spezialisiert, sich auf einen Schwerpunkt innerhalb seines Arbeitssegments konzentriert, um dort besonders gut und kompetent zu sein... Und dieser Lehrer hier geht, nein muss gehen, den entgegen gesetzten Weg zum Alleskönner... In den Schulen vollzieht sich offensichtlich derzeit ein Anachronismus zu den Erfahrungen in der modernen Arbeitswelt.
Und wie anstrengend ist dieses Unterrichten als notweniger Lehrer-Alleskönner... Lange kann man solch eine Anstrengung nicht durchhalten... Erhöhte Ausfälle in der Schule infolge Erschöpfung und Krankheit sind vorprogrammiert... Dabei bemüht man sich doch in der modernen Arbeitswelt, die Gesundheit der Arbeitenden zu schonen, denn Krankheitsausfälle belasten die Kosten... In den Schulen vollzieht sich offensichtlich derzeit ein Anachronismus zu den Erfahrungen in der Arbeitswelt allgemein.
Was soll man davon als nüchterner kritischer Denker halten?...
Der Unterricht ist zu Ende, der etwas erschöpfte Lehrer, die Schulleitung und der immer mehr nachdenklich gewordene Sokrates verlassen die Klasse und gehen zurück. Die Schulleitung bemerkt diese Nachdenklichkeit des Sokrates und versucht, in ihrem ideologischen Glaubens-Sinne einen positiven Ausblick zu formulieren – oder besser hinzubiegen:
Der Schulleiter: Man muss bei unserer Vision, bei unserem Gesamtschul-Konzept, zwischen dem vordergründigen Eindruck und den tiefer liegenden Gewinnen unterscheiden.
Vordergründig fallen die etwas größere Unruhe in der Klasse auf und die Notwendigkeit, sich auf sehr unterschiedliche Schüler einzustellen. Das ist gewissermaßen der Preis für die gerechtere und bessere Schulorganisation. Aber wer genauer analysiert, der erkennt, dass die Vorteile überwiegen, dass nämlich die Lernschwächeren und weniger Interessierten doch, bewusst oder unbewusst, die besseren Schüler sich als Vorbilder genommen und mehr gelernt haben, als sie eigentlich zugeben. Das wird sich später dadurch auszahlen, dass die Motivation zum Lernen oder Sich-Weiterbilden bei vielen Schülern zunimmt und dass das mittlere Bildungsniveau in unserer Gesellschaft dadurch steigt. Wir brauchen nämlich eine erhöhte mittlere Bildung in der Bevölkerung und keine gestufte Bildung von sehr weit gebildeten bis wenig gebildeten Bevölkerungsgruppen. Das mittlere Niveau ist unser Ziel... Dadurch entsteht z.B. auch kein Bildungs-Dünkel, kein Gymnasial-Dünkel, der sich automatisch entwickelt, wenn eine Gruppe separat für sich besonders gefördert wird – wenn sie auch noch so begabt ist...
Die Begabten und erst recht die Hochbegabten betrachten wir mit Misstrauen, das ist nicht unser Klientel... Das sind Sondergruppen in der Gesellschaft, deren Zeit vorbei ist. Die Zukunft gehört der Masse, dem Massendenken und der mittleren Massen-Bildung. In den unteren und mittleren Bevölkerungsschichten werden wir uns mit unserer Gesamtschul-Vision immer mehr durchsetzen. Die breiten Bevölkerungs-schichten entscheiden in einer Demokratie die Wahlen... Die Gesamtschule wird dann dauerhaft die Schule der Zukunft werden und bleiben.
Damit haben sie das Schulleiterzimmer erreicht und Sokrates verabschiedet sich. Aber im Hinausgehen überlegt er noch:
Sokrates (im Stillen für sich): Die Entwicklung wird vermutlich anders verlaufen. Die Einheitsschule, die Gesamtschule wird nicht die Zukunft sein, sondern nur eine vielleicht notwendige Durchgangs- und Erfahrungsphase. Das Bildungswesen wird sich bald wieder aufgliedern. Das werden die Wirtschaft, die Schüler und die Eltern einleiten, fordern und durchsetzen. Wie das in der Praxis dann im Einzelnen aussieht, kann verschieden sein. Aber prinzipiell werden sich folgende Mindest-Tendenzen durchsetzen:
- Die Gesellschaft und Wirtschaft werden für ihre unterschiedlichen Aufgaben unterschiedlich begabte und ausgebildete Menschen benötigen und verlangen.
- Die hochbegabten Schüler und die Eltern dieser Kinder werden eine bessere, gesonderte Förderung verlangen.
- Die Schüler und die Eltern von Schülern, die weniger leicht oder nur langsamer lernen, werden wünschen, dass ihre Kinder nicht mehr durch die Anwesenheit von Schülern verunsichert werden, die leichter/schneller lernen, und dass spezielle Klassen für weniger begabte oder langsamer lernende Schüler eingerichtet werden.
- Die meisten Eltern und Schüler werden verlangen, dass Schüler mit nur geringen oder gar keinen Bildungsinteressen nicht mehr den Unterricht der anderen belasten und gesondert unterrichtet werden.
- Und die künftigen Lehrer werden wieder gemäß ihrer individuellen Interessen und Fähigkeiten Schwerpunkte in ihrer Tätigkeit anstreben – sofern überhaupt noch viele Studenten Lehrer werden wollen, weil vermutlich viele durch den Alles-Können-Lehrer abgeschreckt worden sind.
Damit wird eine Mindest-Differenzierung im Schul- und Bildungswesen wieder kommen. Nur schade über den Zeitverlust durch diesen Umweg über die Einheitsschulphase – Aber vielleicht ist er notwendig, denn Glauben und Visionen benötigen die Erschütterungen durch die Realität, um wieder zu Ausgewogenheit zurück zu finden. Aber solche Spannungen und Wellen zwischen Realitäten und Glauben, Ideologien,
Visionen und Idealvorstellungen hat es schon immer gegeben.
Mit diesen Gedanken verlässt Sokrates das Schulgebäude.
(Aufgeschrieben von discipulus socratis, dem Sokrates anschließend seinen Besuch in der Einheitsschule und seine Reflexionen dazu erzählt hat)
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.01.2011.
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