Ute Abele

Die Hunde




 

 
Ich war auf gleicher Höhe mit den Hunden... zweien, einer links und einer rechts von mir. Wir rannten.
Ich spürte die warmen, kraftvollen Körper, wir hechelten, wir wurden gezogen von einem Geruch, dem
wir folgten, er wurde stärker und stärker... stieg tiefer und tiefer in die Nase, wir schmeckten es schon
überall auf unseren Zungen, unsere Nasen waren längst umhüllt davon... es war genüsslich, vielversprechend...
Es war Blut. Und es zog uns dorthin, wo es am stärksten war... deutlich, der Geruch eines Menschen... Da!
Unser Drang, uns darauf zu stürzen war durch einen inneren Bann gestoppt. Wir schalteten sofort um auf
das, was wir gelernt hatten... wir kläfften, laut, lauter, wild, unaufhörlich. Als unsere Menschen endlich
hinter uns auftauchten... hatte ich plötzlich einen ganz anderen Blick auf die Szenerie. Von weiter oben,
von Menschenhöhe. Ich spürte hinter mir einen Baum... ich lehnte an ihm... ich realisierte meinen menschlichen
Körper. Da lag ein Mädchen, ihr Oberkörper, der an einer Eiche gelehnt hatte, war seitlich umgekippt. Ihre
Arme, und ihre Kleidung, der Waldboden um sie herum, alles war voller Blut. Ihre langen blonden Haare
lagen wirr über ihrem Gesicht. Neben ihr standen zwei aufgeregt bellende Hunde. Zwei. Menschen näherten
sich aufgeregt, blieben stehen, schauten geschockt auf das Mädchen, knieten sich zu ihr, untersuchten sie...
Sie war tot. Die Hunde kamen auf einmal zu mir... sie liefen seltsam, hochbeinig und schauten mir mit
hochgereckten Köpfen direkt ins Gesicht. Ich merkte, dass sie mit mir sprechen wollten... und nach einer
Weile verstand ich, was sie sagten. Worte waren es nicht. Ich kann nicht beschreiben welche Art von
Kommunikation es war, doch sie war sehr präzise und unmissverständlich. Diese Hunde waren keine Hunde,
sondern Wesen, die als Hunde inkarniert waren. Jetzt sah ich, dass die Hunde folgsam hinter den Menschen
lagen. Und diejenigen, die mit mir sprachen, waren ihre Geister oder Seelen... welches Wort ist da das richtige?
Und ich? Wie kam es, dass ich mit ihnen gerannt war, mich gefühlt hatte wie diese Hunde, das Blut gerochen
und davon angezogen war und jetzt als Mensch an diesem Baum stand? Ich konnte mich an nichts erinnern,
was geschehen war, bevor ich mit den Hunden gerannt war. Die Geister der Hunde halfen mir. "Du bist hier
wegen des Mädchens! Du wolltest sie noch einmal sehen. Erinnerst du dich noch nicht?" "Nein!" "Warte nur
ab, die Erinnerung wird kommen, wenn du dich noch etwas weiter entfernt hast. Sie ist noch nicht ganz gestorben,
obwohl ihr Körper bereits tot ist." "Ihr meint... ich bin sie??" "Du warst sie." "Und wer seid ihr?" "Wir sind
Freunde von dir... sehr alte Freunde. Du wirst es gleich wieder wissen. Es hat alles seine Richtigkeit." "Wieso
wisst ihr das alles, obwohl ihr noch lebendige Körper habt?" "Unsere Körper sind die von Hunden. Hunde haben
kein Ego, sie wissen immer wer sie wirklich sind. Und sie akzeptieren ihre beiden Ebenen. Das ist für sie kein
Konflikt." Plötzlich hörte ich die laute Stimme eines Menschen, der etwas sagte. "Das Mädchen hat sich an den
Armen verletzt, sie ist verblutet!" Der Polizist notierte das offenbar. Die Eltern des Mädchens, "meine Eltern"
standen da, starr und stumm. Meine Erinnerung kam wieder. Ich erkannte mich selbst und meine Eltern. Ich
wusste, weshalb ich dort lag. Ich hatte mich endlich befreit... ich hatte meine Pulsadern geöffnet... an einem
Baum sitzend, in "meinem" Wald. Es war fast zwingend gewesen, ich hatte keine andere Möglichkeit gesehen
nach all den Unsäglichkeiten, die ich zuhause tagtäglich erleben musste. Und jeder wusste es. Ich wusste jetzt,
was jeder dachte. Ich konnte in ihre Gehirne schauen und konnte sehen, dass ihre Herzen leer waren. Alles was
sie taten, war Fassade. So war es immer gewesen und jetzt hier, im Wald, ebenfalls. Sie taten als wären sie
betroffen, aber im Grund waren sie froh. Ich war unbequem. Man hatte mich viel zu sehr gequält. Ich wurde
älter und hätte mich irgendwann wehren können. Nun also war es so, dass sie meinen Selbstmord in einen Unfall
umdeuteten. Wieder um der Fassade willen. Der Polizist musste doch sehen, dass das keine zufälligen Verletzungen
waren! Aber er blieb dabei. Das Messer lag unter dem Laub, niemand wollte es entdecken. Der Polizist und die
Eltern kannten sich, und da war eine Gleichschwingung auf der mentalen Ebene, ich konnte es genau sehen. Sie
konnten sich nicht widersprechen. - "Die Welt ist absurd... was sie hier tun, ist normal für sie", sagte einer meiner
vierbeinigen Freunde, der das alles ebenfalls sehen und erkennen konnte. "Jetzt ist die Frage, ob du das hinter dir
lassen kannst oder ob du zurückwillst, um das aufzuklären und sie mit allem zu konfrontieren. Sie werden es
dabei belassen, weil es so für sie einfacher ist!“ Der andere sagte: „Du kannst jetzt noch zurück. Entscheide
dich." Ich blickte auf das tote Mädchen, auf die Eltern, die Hundeführer, die Polizisten. Ich erinnerte mein ganzes
Leben vom Ende bis zurück zum Anfang. Ich verstand, dass ich nichts aufklären konnte. Sie waren ja fest entschlossen,
nichts zu hören, nichts zu sehen, nichts zu sprechen, was wahr gewesen wäre. Ich wollte auch nichts rächen und
nichts anklagen. Ich war auf einmal in Frieden. Und diese Leuten taten mir nur noch ein wenig leid. Ich spürte
Erleichterung, und Freiheit wehte wie ein warmer, einladender Wind über meinen Geistkörper. Dieser Wind war
bereit, mich mit sich fortzuwehen, und ich war einverstanden. Plötzlich wurde die Szene vor mir immer kleiner
und kleiner, bis sie schließlich ganz verschwunden war... als wäre niemals irgendetwas davon Wirklichkeit gewesen.
Die Geister der Hunde waren noch bei mir, sie hatten mich begleitet, doch nun mussten sie zurückkehren. Sie
wünschten mir „gute Reise“ und wurden in den unsichtbaren Punkt zurückgezogen, in welchem meine Vergangenheit
entschwunden war.


© Ute Abele


 


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.01.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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