Helmut Wurm

Sokrates und die Schüler an einer Bushaltestelle im Winter

 

 

Sokrates steht morgens an einer Bushaltestelle und möchte mit einem Schulbus zu einer Schule fahren. Mit ihm wartet eine Gruppe Schüler verschiedenen Alters. Es ist Winter mit Schnee und Glatteis und der Bus verspätet sich deswegen erheblich oder kann wegen Straßen-glätte gar nicht fahren. Sokrates beobachtet deswegen die Schüler und hört, nicht ganz ohne Interesse, ihre Gespräche mit. Es handelt sich um Schüler aller Altersstufen, um Jungen und Mädchen, um Deutsche und Migranten.

 

Zuerst stehen die meisten noch ziemlich stumm herum, noch müde, an die Wände der Bushaltestelle gelehnt und warten. Einige gähnen, einige essen noch schnell Süßigkeiten, denn offensichtlich hat es morgens nicht zum Frühstück gereicht, einige haben Kopfhörer auf, einige bedienen das Handy... Es ist ein ganz alltäglicher Morgen. Es ist kalt und es schneit leicht.

 

Der Bus kommt nicht pünktlich.

 

Das macht einige missmutig und sie beginnen auf das kalte Wetter zu schimpfen, in dem sie hier warten müssen. Ihre Sprache ist die moderne Schüler-Umgangssprache, voll unnötiger Kraftworte und Füllworte wie heij, super, geil, klasse... Es ist gewissermaßen die moderne Bürgersteig-Sprache der Jugend. Das ist für Sokrates ein Grund, sich über die Jugendsprache Gedanken zu machen.

 

Sokrates (sinniert still für sich): Das ist offensichtlich der neue Jugend-Dialekt, aber nicht mehr lokal-dialektal gefärbt, sondern überregional-neu-modern. Beeinflusst vermutlich vom Englischen und Amerikanischen, von den modernen Songs, von der Sprache des Chattens, der üblichen Unterhaltungssendungen im Fernsehen, von billigen Komik-Heften, e-Mails, Werbung, usw. ... Und in wenigen Minuten sollen diese Schüler in der Schule ein gepflegtes Hochdeutsch sprechen und schreiben. Können sie denn das überhaupt? Kann man sich als Jugendlicher so leicht umstellen? Hochdeutsch ist mittlerweile für viele eine Fremdsprache geworden, eine Fremdsprache neben Englisch und Französisch. Haben nicht schon manche Lehrer teilweise diese moderne Jugend-Sprache angenommen, um leichter mit den modernen Schüler zurecht zu kommen? Und ist nicht auch ein Teil der modernen Jugendlektüre im Fach Deutsch in dieser Sprache abgefasst?

 

Mir kam folgender Fall zu Ohren: Ein Lehrer las als Lektüre im Fach Deutsch ein Jugendbuch, das genau in dieser modernen „Bürgersteig-Sprache“, also in der modernen Jugendsprache abgefasst war. In der nachfolgenden Klassenarbeit zu dieser Lektüre lehnten sich die Schüler an diese jugendnahe Sprache des Textes und damit an ihre jugendliche Umgangssprache an. Der Lehrer strich nun bei seiner Korrektur solche umgangssprachlichen Ausdrucksweisen rot

an und ließ diese negative Beurteilung auch in seine Benotung einfließen. Er hätte zumindest bei seiner Aufgabenstellung darauf hinweisen müssen, dass er ein gutes Deutsch erwartet hat.

 

Man achtet in den Schulen zu wenig konsequent auf ein gutes Deutsch. Das gilt besonders für die Nichtdeutsch-Fächer. Denn auch jede Stunde in Physik, Mathematik, Erdkunde, Kunst ist auch eine Deutschstunde...

 

Der Bus kommt nicht, er hat Verspätung.

 

Die Schüler beginnen, aus Langeweile ihre Schulbrote oder weitere Süßigkeiten auszupacken. Einige haben nichts mitgenommen, weil sie sich auf den Essensverkauf durch den Hausmeister verlassen haben. Dort kann man schon vor dem Unterricht etwas kaufen. Dafür reicht nun die Zeit nicht mehr und das macht ärgerlich. Einige Schüler schimpfen laut, andere schmausen mit vollen Backen, einige verteilen mildtätig Süßigkeiten an andere. Sokrates betrachtet, was da besorgte Mütter mitgegeben haben oder was die Schüler an Nasch- und Knabberwerk dabei haben. Und er hört, was diejenigen Schüler, die bei dem Hausmeister kaufen wollten, sich dort ausgewählt hätten oder was sie jetzt gerne essen würden. Es sind keine Kleinigkeiten, die den Schülern einfallen... Sokrates betrachtet die Schüler genauer und stellt fest, dass es Schlanke wie zu seiner Zeit in Athen kaum noch gibt. Fast alle sind gut genährt oder mollig, viele sind

übergewichtig, einige sogar beängstigend dick. Vor allem bei einigen Mädchen stellt er das fest. Er beginnt nachzudenken.

 

Sokrates (sinniert still für sich): Die deutsche Jugend wird von Jahr zu Jahr dicker, deutlich übergewichtiger. Vor einigen Jahrzehnten war noch das Schlankheitsideal zumindest bei den Mädchen verbreitet, aber das ist vorbei. Die Jungen treiben etwas mehr Sport und deshalb gibt es nicht so viele Krass-Übergewichtige unter ihnen. Aber dick, zu früh schon dick, sind auch viele Jungen.

 

Das ist kein unerklärlicher Vorgang. Was bieten die Supermärkte alles an Essen, an Naschwerk und an Knabberwerk an, leuchtend-lecker verpackt... Und die Werbung im Fernsehen besteht zu einem erheblichen Teil aus kulinarischen Hinweisen verschiedenster Art. Und mehrmals in der Woche gibt es auf den meisten Fernsehkanälen Kochkurse, Kochsendungen, Starköche, kulinarische Wanderungen... Die Jugend muss ja den Eindruck bekommen, dass ein Teil des modernen Lebenssinnes und Lebensgenusses aus Essen besteht... Heutzutage isst man in Deutschland nicht mehr, weil man Hunger hat, sondern weil man wieder etwas von den vielen leckeren Angeboten zu essen in der Lage ist... Hat man eigentlich schon genauer untersucht, welche Auswirkung die ständige Zunahme von Aroma- und Geschmacksstoffen in der Nahrung auf das Essverhalten und auf die Gewichtszunahmen in der Bevölkerung hat? Vermutlich wird eine solche Untersuchung von der Nahrungsmittelindustrie, der chemischen Industrie und vom Gaststättenverband nicht gewünscht...

 

Der Bus kommt immer noch nicht.

 

Immer mehr Schüler greifen zu ihren Handys, rufen andere Schüler an anderen Haltestellen oder zu Hause an. Fast jeder hat jetzt ein Handy in der Hand. Einige rufen den Wetterbericht für diesen kalten Morgen auf, denn sie haben ein Handy mit Internet. Einige surfen allgemein im Internet, andere mailen an Freunde und Bekannte oder lesen gerade neu eingegangene Mails...

 

Die vielen Handys haben einige Schüler thematisch dazu hingelenkt, sich über ihre gestrigen

Aktivitäten und neuen Kenntnisse mit den digitalen Medien auszutauschen. Sie berichten sich von neuen oder leistungsstärkeren Geräten, von neuen Programmen, von Abstürzen, Viren und anderer Malware, von angesehen Videos, vom surfen im Internet... Sokrates hat ein neues Thema zum Nachdenken:

 

Sokrates (sinniert still für sich): Die heutige Jugend beginnt sich aus der realen Welt allmäh-lich zurück zu ziehen und sich in eine fiktional-medial-technische Welt zu begeben. Man kann die heutige Jugend als SMS-Jugend bezeichnen, denn ein großer Teil ihres Freiraumes ist mit Sitzen-Mailen–Surfen ausgefüllt. Findet sich diese Jugend noch genügend in der realen Welt der Schule und der Ausbildung zurecht? Hat sie noch genügend Bewegung an der frischen Luft?

 

Wie können auf diesem Hintergrund moderne Lehrer in ihren Unterricht so viel neue Medien wie möglich einsetzen wollen und den permanenten PC-Arbeitsplatz für jeden Schüler fordern? Die Schule muss ein Gegengewicht der Ausgewogenheit zu dieser medial-fiktionalen Welt sein. Die eigene Phantasie der Schüler muss neben dieser bunten Google-Welt entwickelt werden... Hat man die Gefahren durch die neuen Medien wirklich genügend erkannt und steuert man in den Schulen dagegen?

 

Der Bus kommt immer noch nicht.

 

Der größere Teil der Schüler beginnt sich zusammenzustellen und zu überlegen, wo sie jetzt hingehen könnten. Offensichtlich hat der Bus eine erhebliche Verspätung und das könnte man ja ausnutzen, den Tag ohne Schule zu verbringen. Zurück nach Hause zu gehen kommt für viele nicht in Frage. Aber wie wäre es mit McDonald? Dort gäbe es jetzt so tolle Riesen-Snacks. Oder mit einem Kinobesuch? Für den neuesten 3-D-Film würde so viel Werbung gemacht. Als weitere Vorschläge werden der Media-Markt oder der Saturn-Medienmarkt genannt, die hätten so sensationelle Angebote in den Beilagen zur regionalen Zeitung. Oder ein Jeans-Shop mit Super-Discount-Preisen... Alle prüfen den Inhalt ihrer Geldbörsen und es zeigt sich, dass jeder genügend Geld dabei hat, um etwas zu kaufen.

 

Man habe ja auch einen akzeptablen Grund, in die Stadt zu gehen, meinen die meisten: Die Schulbusse führen offensichtlich wegen des schlechten Wetters nicht. Und man müsse nicht länger als 10 Minuten auf Schulbusse warten, mehr könne man Schülern nicht zumuten. Man erwarte von ihnen in der Schule ja auch Pünktlichkeit. Und die Lehrer hätten schnell den schriftlichen Tadel wegen verspäteter Rückkehr aus der Pause bei der Hand... Dabei kämen die Lehrer aber selber oft unpünktlich in den Unterricht, weil sie angeblich Elterngespräche oder andere pädagogische Gespräche im Lehrerzimmer gehabt hätten...

 

Und zu Fuß zur Schule zu gehen, das könne heute niemand mehr von der Jugend erwarten. Entweder führen Busse oder das Eltern-Taxi... Man sei es ja auch gar nicht mehr gewohnt, regelmäßig und so weit zu Fuß zur Schule zu gehen... Und bei diesem Wetter schon gar nicht!

 

Der größere Teil der wartenden Schüler nimmt seine Taschen und Ranzen und geht Richtung Innenstadt, nicht Richtung Schule oder Zuhause. Nur wenige wollen noch warten oder zu Fuß zur Schule gehen. Sokrates steht mit wenigen Schülern an der Bushaltestelle und grübelt:

 

Sokrates (sinniert still für sich): Aus den letzten gehörten Äußerungen ergeben sich für mich

als Konsequenzen mehrere Überlegungen:

 - Die Jugend ist sehr beeinflussbar durch die Werbung. Nutzt das die Werbung aus oder geht

   sie damit verantwortungsbewusst um?

 

 - Die Jugend ist ein Wirtschaftsfaktor, der nicht unterschätzt werden darf. Sie hat Geld und

   kauft gerne ein. Nutzt das die Wirtschaft aus oder geht sie damit verantwortungsbewusst

   um?

 

 - Obwohl die heutigen Jugendlichen in der Regel so bequem und geräumig wie in noch keiner

   Generation vorher wohnen, haben viele kein Zuhause-Gefühl. Es sehnt sie nicht nach Hause.

 

 -  Die Eltern werden hauptsächlich als kleine Dienstleistungs-Zelle verstanden, die die Kinder

    zu versorgen und zu fahren hat. So verstehen sich viele moderne Eltern auch selber so.

 

 -  Die heutige Jugend geht und wandert immer weniger, sie ist ganz dem Fahrzeug verfallen.

    Das ist mit einer der Gründe für das zunehmende Übergewicht und die Unsportlichkeit bei

    heutigen Jugendlichen.

 

Während Sokrates so sinniert, kommt der Bus. Er hat erst Schneeketten anlegen müssen, um die Schüler sicher zur Schule fahren zu können. Als der Busfahrer die wenigen Schüler sieht, die noch an der Bushaltestelle stehen, wird er ärgerlich und meint, deshalb hätte er sich nicht die Mühe des Umrüstens machen müssen. Er fährt trotzdem mit Sokrates und den wenigen Schülern zur Schule. Unterwegs laden sie noch diejenigen Schüler ein, die zu Fuß Richtung Schule gegangen sind. An der Schule stellen sie fest, dass die meisten Busse nicht gefahren sind oder auch mit Verspätung angekommen sind und dass die Hälfte der Schüler nicht zur Schule gekommen ist... Einige Lehrer machen jetzt den Vorschlag, alle Schüler wieder nach Hause zu schicken, mit einer halben Klasse könne man keinen richtigen Unterricht machen...!  

 

Sokrates ist über diesen Vorschlag entsetzt...

 

 

(Verfasst von discipulus socratis, der an diesem Morgen ebenfalls an der Bushaltestelle stand)

 

 

 

 

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Helmut Wurm).
Der Beitrag wurde von Helmut Wurm auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.01.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Helmut Wurm als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Für immer verloren (KRIMI) von Karin Hackbart



Spannender Krimi der im Ruhrgebiet spielt.

Inhalt: Der alleinerziehende Claus Becker erhält eines Morgens ein Telefonat von der Polizei, dass man seine Frau schwer verletzt aufgefunden habe.

Dies scheint aber unmöglich, da seine Frau bereits 6 Jahre zuvor bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam.

Wer ist diese Frau ?

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Schule" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Helmut Wurm

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Sokrates und der furchtbare Corona-Traum von Helmut Wurm (Corona / Coronavirus (SARS-CoV-2))
Eine Episode aus dem Biologieunterricht von Christina Wolf (Schule)
Mordlust 1956 von Paul Rudolf Uhl (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen