Klaus-Peter Behrens

Artefaktmagie, Teil 25

Im Licht der verbliebenen Fackeln, die der Flussdurchquerung nicht zum Opfer gefallen waren, machten sie sich wieder auf den Weg, der nun steil bergauf direkt auf eine schmale Felsspalte zuführte. Entsprechend anstrengend war der Aufstieg.
Glyfara, die in ihren nassen Kleidern fror, glitt etliche Male ab und hatte dem Umstand, daß sie sich noch kein Bein gebrochen hatte, nur Michael zu verdanken, der jedesmal beherzt zugriff, wenn die Elbin in Schwierigkeiten geriet. Auf diese Weise kämpften sich Zwerge, Mensch und Elbin Meter für Meter den beschwerlichen Steilhang hinauf, bis sie schließlich den schmalen Felseinschnitt erreichten.
Majestätisch ragte die Felswand nahezu lotrecht in die Höhe, in welcher der Einschnitt wie eine häßliche, gezackte Narbe auf dem ansonsten makellosen Granit wirkte. Grimmbart und Streitaxt zwängten sich zuerst hinein.
„Sieht ja verlockend aus“, murmelte Michael bevor er ihnen folgte, nicht jedoch ohne vorher noch einen Blick zurück zum Fluß zu werfen, der nunmehr nur noch als vages Schemen auszumachen war. „Mach es gut, Wühler“, flüsterte er, dann wandte er sich der engen Klamm zu. Unangenehm wurde ihm bewußt, was das letzte Mal passiert war, nachdem er sich durch einen so schmalen Einschnitt gezwängt hatte. Doch zu seiner Beruhigung verlief diese Durchquerung ohne Zwischenfall.
Nach endlosen Metern mühsamen Vorankommen weitete sich der Spalt unvermittelt wieder und mündete in eine gigantische Kaverne. Trotz des immerwährenden, blaßgrünen Licht, das auch hier für eine minimale Beleuchtung sorgte, war die Dimension nur ansatzweise zu erahnen. Michael vermutete, daß es sich um eine riesige Gasblase aus der Frühzeit dieser Welt handelte, die in dem damals zähflüssigen Gestein den Weg nach oben nicht geschafft hatte und hier eingeschlossen worden war. In der Schule hatte er von derartigen Phänomen gehört. Probeweise stieß er einen gellenden Pfiff aus, der mit etlicher Verzögerung als Echo zurückkam. Diese Kaverne schien wahrlich gigantisch zu sein, und Michael hatte das unbestimmte Gefühl, daß sie noch ein paar unangenehme  Überraschungen für sie bereit hielt. Streitaxt schien das ähnlich zu sehen.
„Prima, wenn hier unten ein paar Verwandte dieses Viehs aus dem Fluß leben, wissen sie jetzt, daß wir hier sind“, zischte er verärgert über Michaels Experiment.
„Falls es hier unten noch mehr Jäger gibt, bekommen die früher oder später ohnehin mit, daß wir hier sind“, knurrte Grimmbart, dessen Stimme in der Tiefe der Höhle verhallte. Widerwillen war der Zwerg beeindruckt, von dem, was er sah. Er verstand etwas von Höhlen und Gewölben, und diese gigantische Steinhalle übertraf alles, was er je gesehen hatte.
Glyfara, die gerade den Spalt hinter sich gebracht hatte, pfiff beim Anblick der Kaverne anerkennend durch die Zähne.
„Macht ihr das eigentlich mit Absicht“, fragte Streitaxt ungehalten, doch Glyfara beachtete ihn gar nicht. Dafür nahm sie der Anblick der titanischen Kaverne viel zu sehr gefangen.
„Das wird ja immer größer hier unten“, flüsterte sie ehrfürchtig. Prüfend versuchte sie, in dem unwirklichen Licht das Ausmaß der Höhle zu erfassen. Es gelang ihr nicht. Große Teile lagen vollständig im Dunklen. Hier unten hätte sich ein ganzes Dorf befinden können, ohne daß das aufgefallen wäre.
„Ich glaube, diesmal gehe ich als Kundschafterin voran, damit wir nicht wieder in eine Falle laufen. Dieses Terrain ist zu unübersichtlich.“
Grimmbart schüttelte entschieden den Kopf.
„Kommt nicht in Frage“, sagte er mit Nachdruck. „Wir bleiben zusammen. Jeder achtet auf seinen Partner und hält die Waffe griffbereit.“
Glyfara zuckte mit den Achseln. „Hier unten bist du der Boß.“
Nachdem auch die verbliebenen Gefährten den Spalt hinter sich gebracht hatten, drang die Gruppe geschlossen in die Höhle vor. Im flackernden Licht der Fackeln wirkte diese auf Michael noch bizarrer. Die Stalaktiten, die an vielen Stellen an der Decke hingen, kamen ihm wie bedrohliche Dolche vor, die nur darauf warteten, abzufallen und ihm den Gar aus zu machen.
Der Boden der Höhle war hingegen zur allgemeinen Erleichterung erstaunlich eben, so daß sie gut vorankamen. Michael schätzte, daß sie eine gute Stunde unterwegs waren, als Glyfara ihn auf etwas aufmerksam machte, daß eigentlich gar nicht sein konnte.
„Jetzt schneit es auch noch“, bemerkte die Elbin erstaunt.
„Höchst ungewöhnlich in einer Höhle, in der Tat“, stimmte ihr Spürgold zu, der die weißen Flocken auf seinem Handrücken betrachtete.
Sie waren weder kalt, noch naß.
Michael spürte, wie ihm flau in der Magengrube wurde. Von diesem Phänomen hatte er schon im Erdkundeunterricht gehört.
„Das ist kein Schnee“, erklärte er den staunenden Gefährten. „Das sind Gipskristalle.“ Mit der Hand wies er zur weit über ihnen befindlichen Höhlendecke. Das Licht der Fackeln reichte gerade noch aus, um ein paar imposante, weiße Gebilde an der Höhlendecke erkennen zu lassen. „Sie sind sehr empfindlich und reagieren auf Temperaturschwankungen. In einer kleinen Höhle würde unsere Körperwärme schon ausreichen, damit sich Gipsflocken lösen könnten, in dieser Höhle hingegen...“
„Was willst du damit andeuten?“, fragte Streitaxt alarmiert.
„Daß hier irgend etwas verdammt Großes durchgekommen ist, das hierfür verantwortlich ist“, flüsterte Michael.
Angesichts dieser Schlußfolgerung zog die Elbin sogleich ihren Bogen von der Schulter.
„Äxte bereit“, befahl Grimmbart . „Achtet vor allem auf die Schatten. Anscheinend teilen wir die Höhle hier mit jemanden.“
Sorgfältig musterten die Gefährten daraufhin die Umgebung, doch außer ein paar bizarren Schatten, war nichts Außergewöhnliches zu entdecken.
„Weiter“, knurrte Grimmbart schließlich. „Sehen wir zu, daß wir hier wegkommen.“
Die Gruppe erhöhte darauf hin ihr Marschtempo. Jede Konversation war nun verstummt. Alle fürchteten sich vor dem, was hier unten lauern könnte und vermieden daher jedes unnötige Geräusch. Nach Michaels Ansicht war das zwar Quatsch, da ihre Fackeln ohnehin die Aufmerksamkeit eines Jägers auf sich ziehen würden, auf der anderen Seite konnte es nicht schaden, wenn man zumindest hören konnte, woher der Angriff kam.
Aber der blieb aus.
Nach einiger Zeit hörte das Pseudoschneetreiben schließlich zur allgemeinen Erleichterung wieder auf, obwohl noch immer genügend phantastische Gipsgebilde an der Decke hingen. 
Nach endlosen weiteren Stunden anstrengenden Klettern und Marschieren zog sich die Höhlendecke plötzlich steil in die Höhe. Nachdem sie einige gewaltige Felssäulen passiert hatten, mußten sie enttäuscht feststellen, daß das andere Ende der Höhle aus einer Granitwand bestand. Soweit man es erkennen konnte, gab es weiter oben einen Vorsprung. Möglicherweise ging es dort weiter. Michael schätzte die Höhe der Wand auf gute zwanzig Meter.
„Und du bist sicher, daß das der richtige Weg ist?“, fragte Glyfara skeptisch.
„Nein, aber ich sehe keine Alternative. Zurück über den Fluß können wir nicht, und einen anderen Weg scheint es nicht zu geben. Also bleibt nur zu hoffen, daß es dort oben weiter geht“, erwiderte Grimmbart. Müde ließ sich der Zwerg auf einem Felsbrocken nieder und nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche. "Einer von uns muß dort hoch und nachsehen und dann das Seil hinunter lassen, falls es dort oben einen Weg geben sollte. Zum Glück haben wir noch immer das Seil, sonst würden wir jetzt in der Klemme stecken“, erläuterte er die Situation, mit einem anerkennenden Seitenblick auf Glyfara.
Michael schluckte. Er hoffte nur, daß er nicht schon wieder dieser Jemand sein würde. Diese Wand sah verdammt steil aus und wäre vermutlich sogar für einen Freeclimber eine Herausforderung. Zu seiner Überraschung ergriff Glyfara die Initiative.
„Dort hinauf ist doch nun wirklich kein Problem“, schnaufte sie verächtlich. Michael sah die Elbin an, als habe die den Verstand verloren. Blutaxt hingegen grinste gutmütig.
„Logisch, euch Elben steckt das Klettern ja auch im Blut. Schließlich lebt  ihr immer noch auf Bäumen.“
„Wir leben nicht auf Bäumen, wir schützen nur den Wald“, wies Glyfara ihn wütend zurecht. Grimmbart winkte ab.
„Beruhige dich, er hat doch nur Spaß gemacht!“
Blutaxt nickte bestätigend. Michael fand zwar, daß das nicht so ganz zu seinem dreisten Grinsen paßte, doch Glyfara schien sich damit zufrieden zu geben.
„Was soll man auch von einem Zwerg anderes erwarten“, murmelte sie, während sie bereits prüfend die Felswand betrachtete. Die sah nicht gerade leicht zu bezwingen aus. Vielleicht hätte sie nicht so angeben sollen, doch jetzt gab es kein Zurück mehr, wenn sie nicht das Gesicht verlieren wollte.
„Gib mir das Seil“, forderte sie Streitaxt auf, der ihr sofort das zwanzig Meter lange, zusammen gerollte Seil überreichte. Es war immer noch feucht. Sorgfältig wickelte die Elbin es sich um den Leib.
„Sag mal, weißt du eigentlich, was du da tust?“, fragte Michael besorgt.
„Uns den Hintern retten“, gab Glyfara brüsk zurück. „Außerdem sind wir ein Team. Da ist jeder mal an der Reihe. Du hast den Fluß gemeistert, ich werde diese Wand für uns überwinden. Ich frage mich nur, wozu diese Zwerge gut sein sollen“, bemerkte sie spöttisch.
„Ganz einfach, ohne uns würdet ihr nie hier heraus finden“, konterte Grimmbart trocken.
„Das wird sich noch zeigen.“ Sorgfältig verknotete Glyfara die Enden des Seils, dann wandte sie sich der steilen Felswand zu. „Packen wir es an“, murmelte sie.

Das Wasser des unterirdischen Flusses umspülte die Felsen im Flußbett und bildete an diesen Stellen wirbelnde Strudel. Nachdenklich, mit dem Rücken an einen uralten, steinernen Brückenpfeiler gelehnt, folgten die Augen des Wandlers dem Flußlauf auf der Suche nach einer Möglichkeit, ihn überqueren.
Es gab keine.
Und doch war es der Elbin und ihren Getreuen gelungen, dieses Hindernis zu überwinden; denn die Spur endete hier. Der Wandler vermutete, daß sie die Brücke hinter sich abgerissen hatten, nachdem sie sie überquert hatten. Zumindest wies einer der Brückenpfeiler frische Spuren eines Hanfseils auf. Er hingegen besaß kein Seil.
Wie also sollten sie ihnen folgen?
Probeweise hatte er einen seiner Getreuen in den Fluß geschickt. Die Strömung hatte den kleinen, krummbeinigen Dämonen mit sich gerissen, kaum daß das Wasser seine Oberschenkel umspült hatte.
Er war nicht wieder aufgetaucht.
Der Blick des Wandlers glitt nun über die glitschigen Felsen im Flußbett. Ein Stück unterhalb der Brückenpfeiler standen sie an einigen Stellen gerade noch so dicht beieinander, daß man mit mehreren, äußerst gewagten Sprüngen auf die andere Seite gelangen könnte, auch wenn ein Sprung auf die feuchten Felsen im Prinzip einem Selbstmordversuch gleichkäme.
Aber hatten sie eine Wahl?
Zumindest wäre es einen Versuch wert. Mit ausgestreckter Klaue wies der Wandler auf einen kleinen, grünschuppigen Dämonen, dessen Gesichtsausdruck angesichts der brodelnden Flut zu seinen Füßen pures Entsetzen widerspiegelte.
„Ich habe einen Auftrag für dich“, wisperte er mit unheilvoller Stimme.
 
Glyfara Zuversicht schwand. Die ersten paar Meter hatten zwar kein Problem dargestellt; denn es hatte genug kleine Vorsprünge und Spalten gegeben, die den Aufstieg fast schon zu einem Kinderspiel machten. Allerdings wurde der Aufstieg jetzt, nachdem sie das erste Drittel hinter sich gebracht hatte, deutlich beschwerlicher. Möglichkeiten, Halt zu bekommen, gab es praktisch nicht mehr, und wenn, lagen sie weit auseinander. Glyfara benötigte jetzt ihr ganzes Geschick, um nicht abzustürzen. Die Folgen eines solchen Absturzes verdrängte sie aus ihrem Bewußtsein. Wie eine Fliege klebte sie über dem Erdboden an der glatten Wand und musterte den nächsten Punkt zum Festhalten. Ein kleiner Sims, ein beachtliches Stück oberhalb ihres derzeitigen Standpunkts. Glyfara bezweifelte, daß sie ihn erreichen konnte. Genauso gut hätte sie nach dem Mond angeln können. Doch eine weitere Möglichkeit sah sie nicht. Was also blieb ihr anderes übrig, als es zu versuchen? Mit zusammengebissenen Zähnen streckte sie sich soweit wie möglich nach oben. Millimeter für Millimeter tastete sie sich mit den Fingerspitzen voran, ängstlich darum bemüht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, doch so weit sie sich auch streckte, es fehlte immer noch ein gutes Stück. Dafür registrierte Glyfara mit ihrem feinen Gespür plötzlich eine andere Gefahr. Der schmale Vorsprung, auf dem sie halsbrecherisch balancierte, knirschte mit einem Mal unter ihren Füßen. Glyfara wußte, was das zu bedeuten hatte. Sie würde jeden Augenblick den Halt unter den Füßen verlieren. Entschlossen visierte sie den so dicht über ihr liegenden, rettenden Sims an. Dann spannte sie die Muskeln und sprang, keine Sekunde zu spät, denn im nächsten Augenblick brach der schmale Absatz, auf dem die Elbin eben noch mit ihrem ganzen Gewicht balanciert hatte, weg. Ein Aufschrei ertönte aus den Kehlen der Gefährten, als Glyfara für einen Augenblick mit einer Hand an der Kante wie ein Pendel hin und her schwang und die Gefährten am Boden in Deckung sprangen, um nicht von den herabstürzenden Steinen erschlagen zu werden. Dann gelang es Glyfara, auch mit der zweiten Hand zuzugreifen und sich hinaufzuziehen. Zitternd blieb sie ein paar Sekunden liegen, bevor sie einen Blick in die Tiefe riskierte.
„Alles in Ordnung“, rief sie und winkte den Gefährten zaghaft zu, die beinahe von dem Steinhagel erschlagen worden wären und nun deutlich den Abstand zur Steilwand vergrößert hatten, während sie immer noch versuchte, ihre zitternden Glieder wieder unter Kontrolle zu bekommen. So schwer hatte sie sich den Aufstieg nicht vorgestellt. Mit einem Seufzen setzte sie sich auf und visierte den nächsten Punkt auf ihrer Etappe an. Dann blinzelte sie erstaunt. Es hatte wieder zu schneien angefangen.
Weiter unten hatte man das Phänomen ebenfalls bemerkt.
„Das bedeutet Ärger“, teilte Michael den Gefährten mit, die erstaunt das einsetzende Schneetreiben um sie herum bewunderten. Grimmbart befahl daraufhin, die Fackeln in einem Halbkreis um sie herum im Boden zu befestigen. Auf diese Weise mußten sie zumindest nicht im Dunkeln kämpfen, falls irgend etwas auf die Idee kommen sollte, sie anzugreifen. Mit feuchten Fingern umklammerte Michael nun seinen Kampfstab und spähte in die Dunkelheit jenseits der Fackeln. Doch der Pseudoschneefall war inzwischen so stark, daß das natürliche, schwache Höhlenlicht nicht mehr ausreichte, um außerhalb des Lichtkreises etwas erkennen zu können. Spürgold hatte neben Michael Stellung bezogen. Die Axt hielt er mit beiden Händen umklammert, während er nervös die bedrohlichen Schatten jenseits des Lichtkreises musterte.
„Da draußen ist etwas, kannst du es auch spüren?“, fragte er Michael, dem daraufhin ein Schauder über den Rücken lief.
„Ich hoffe, du irrst dich“, antwortete er gedrückt.
Fünfzehn Meter weiter oben kämpfte Glyfara inzwischen im Schneetreiben gegen die Schwerkraft.  Die letzten Meter waren wieder etwas leichter zu bewältigen gewesen, dafür bildeten die verbleibenden nun kaum einen Ansatzpunkt mehr. Glyfara machte es sich auf einem kleinen Absatz so gut es ging bequem, um ihre Lage zu überdenken. Anscheinend gab es nur die Optionen, umzudrehen, oder ihren Hals auf den letzten Metern zu riskieren. Ein letztes Mal musterte sie die nahezu spiegelglatte Felswand. Dann schluckte sie ihre Furcht hinunter und visierte eine winzige Vertiefung im Fels an, die ihr zumindest ein wenig Halt bieten würde. Je eher sie oben war und das Seil hinunter lassen konnte, desto besser wäre das für ihre Gefährten.
Wer wußte schon, was dort unten in den Schatten lauerte?
Vorsichtig streckte sie den rechten Arm aus und tastete nach der Vertiefung über ihr.

Gnorm zitterte wie noch nie zuvor in seinem Leben; denn der kleine Dämon erlebte etwas, das ihm bisher fremd gewesen war.
Er verspürte Angst.
Todesangst, die sich allmählich zu nackter Panik ausweitete. Seine Augen glitten über die rutschigen Felsen zur anderen Seite des Flusses. Er verabscheute fließendes Wasser, und er haßte diese Höhle, die nichts mit seiner Heimat gemeinsam hatte. Nirgendwo blubberten wohltuende heiße Schwefelquellen, deren Aroma noch weithin zu riechen waren. Kein feuerspeiender Berg tauchte den Horizont in rotes Licht, und er vermißte den Moder des Sumpfes, in dem er beheimatet war.
Den Moder!
Was hätte er jetzt für ein warmes Schlammbad gegeben?
Vermutlich alles.
Statt dessen war er gezwungen, sein kleines Leben in dieser feuchtkalten Umgebung für etwas zu riskieren, das er noch nicht einmal verstand. Ja, er wußte noch nicht einmal, wie er überhaupt in diese Situation geraten war. Das letzte, an das er sich erinnerte, war der Anblick eines prächtigen Exemplars einer Sumpform gewesen, jener wohlschmeckenden Schlangen, die tief im Sumpf lebten und schwer zu jagen waren. Er hatte gerade seinen Speer schleudern wollen, als er sich plötzlich mit anderen zusammen in einer ihm völlig unbekannten Gegend wiedergefunden, in der es widerlich süß nach Blumen gerochen hatte, der Himmel ekelerregend blau gewesen war und war ihm begegnet.
Dem gefürchteten Wandler und Handlanger des Fürsten.
Wer sich ihm widersetzte, endete unweigerlich in den Verliesen, nicht jedoch, ohne zuvor den Einfallsreichtum der Folterknechte bewundern zu dürfen. Vor Schreck war Gnorm der Speer aus den Klauen geglitten, und er hatte demütig den Blick abgewendet. Was der Wandler ihm mit zischender Stimme im Anschluß befohlen hatte, hatte er zwar nicht verstanden, aber trotzdem unterwürfig genickt, sich in sein Schicksal ergeben und nicht aufbegehrt. Bei dem Anblick des brodelnden Flusses begann er sich jedoch zu fragen, ob er es vielleicht nicht doch besser getan hätte. Aber dafür war es nun zu spät.
Er seufzte innerlich und schätzte noch einmal die Entfernung zwischen den einzelnen Felsbrocken im Wasser ab. Dann spannte er seine Muskeln an und rannte los.

Ein wildes Zischen ließ Michael zusammenfahren. Die anderen verharrten stocksteif in ihrer Position. Nun gab es keinen Zweifel mehr, daß irgend etwas im Dunkeln unterwegs war. Grimmbart, der seitlich von einem mächtigen Felsbrocken Stellung bezogen hatte, gab den anderen ein Zeichen, sich auf die Mitte des Fackelrings zu konzentrieren, doch Michael konnte immer noch nichts erkennen. Spürgold zog ihn zu sich herunter und preßte seine Lippen an sein Ohr.
„Direkt voraus ist etwas, und es scheint verdammt groß zu sein“, flüsterte er nervös. „Mach jetzt bloß keine hektischen Bewegungen.“
Wie ein Geisterschiff im Nebel, tauchte tatsächlich der Umriß eines gewaltigen Untiers aus dem Schneetreiben auf. Aufrecht, auf zwei massiven Hinterbeinen gehend, maß es gut drei Meter in der Höhe. Sein großer Schwanz, der für die ausgewogene Balance sorgte, peitschte unruhig über den Boden, als es am Rande des Fackelkreises stehenblieb und die Gefährten argwöhnisch musterte. Die kurzen Vorderbeine, die sich in Michaels Kopfhöhe befanden und mit gefährlich aussehenden Klauen versehen waren, zuckten nervös. Witternd streckte es den gewaltigen Reptilienkopf vor.
„Scheiße“, entfuhr es Michael beim Anblick des blitzenden Gebisses, das mit Zähnen bestückt war, die an spitze Dolche erinnerten. Vor Schreck taumelte er ein Stück zurück, bis er mit dem Rücken an die Felswand stieß. Das Ungeheuer musterte ihn mit seinen dunklen Augen tückisch. Michael hätte geschworen, daß sich eine unheilvolle Intelligenz in den schwarzen Augen widerspiegelte. Das machte das Wesen noch gefährlicher.
„Abwarten, auf keinen Fall greifen wir zuerst an. Falls wir Glück haben, scheut es das Feuer und verschwindet wieder“, befahl Grimmbart mit angespannter Stimme. Michael beneidete ihn um seine Ruhe.
Der Kopf des Ungeheuers pendelte jetzt von rechts nach links. Ein paar Mal hatte es angesetzt, den Fackelkreis zu durchschreiten, doch dann im letzten Moment wieder abgebrochen. Wütend reckte es den Kopf vor und brüllte so laut, daß Michael die Ohren klingelten. Der faulige Aasgeruch, der ihn wie ein übler Wind traf, raubte ihm fast den Atem. Lange würden seine Nerven das nicht mehr aushalten.
Das Brüllen des Reptils hatte beinahe dafür gesorgt, daß Glyfara den Halt verloren hätte. Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie erkannte, daß ihre Gefährten von einem Ungeheuer bedroht wurde, das dem aus dem Fluß ähnelte. Dieses Exemplar hatte offenkundig die Spuren in dem Tunnel hinterlassen. Von ihrer Position aus entdeckte sie jedoch noch etwas, was den Gefährten unten anscheinend völlig entging, da sie sich vollkommen auf ihren Angreifer konzentrierten. Von rechts und links näherten sich noch weitere dieser Ungeheuer, geschickt die Schatten ausnutzend. Entsetzt erkannte sie, daß es sich bei den Angreifern nicht um gefährliche, dumme Tiere, sondern um intelligente Jäger handelte. Ganz bewußt spielte der eine den Lockvogel, damit seine Jagdgefährten aus dem Dunklen unbemerkt und blitzschnell zuschlagen konnten. Ihre Stimme überschlug sich vor Panik, als sie dies den Gefährten mitteilte.
„Achtung, links und rechts nähern sich noch mindestens zwei von den Drecksviechern! Das ist eine Falle!“

Mit einem Knurren fuhr der Reptilienkopf hoch und fixierte die Elbin hoch oben in der Steilwand, während die Zwerge sofort einen Ring bildeten, um ihre Flanken zu schützen. Die Bestie schien zu erkennen, daß ihre Beute die Taktik durchschaut hatte, denn im nächsten Moment griff sie mit einem wütenden Brüllen an. Zeitgleich, in perfekter Choreographie, tauchten zwei weitere Angreifer aus dem Schneetreiben auf, die dem ersten in nichts nachstanden. Hilflos beobachtete Glyfara von oben den Angriff. Der Bogen hing ihr zwar immer noch über dem Rücken, doch in dieser wackeligen Position konnte sie ihn nicht einsetzen. Sie mußte weiter nach oben, wenn sie ihren Gefährten helfen wollte.
Am Boden der Höhle war inzwischen ein Kampf auf Leben und Tod entbrannt. Mit drei Riesenschritten stürmte die Bestie auf Michael los, wobei sie Spürgold einfach über den Haufen rannte, während ihre beiden Begleiter die Zwerge angriffen. Verzweifelt warf sich Michael zur Seite, als der weit geöffnete Kiefer blitzschnell auf ihn zufuhr und rollte sich über die Schulter ab. Mit einem häßlichen Klicken trafen die tödlichen Zahnreihen nur wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt aufeinander. Michaels Herz klopfte bis zum Hals. In höchster Panik sprang er wieder auf die Füße und brachte sich rückwärts in vermeintliche Sicherheit. Mit einem verärgerten Fauchen fuhr der Kopf der Bestie herum. Die bösartigen Augen richteten sich auf Michael, der zitternd seinen Stab in Abwehrposition brachte. Mit einem Zischen fuhr der Stahl aus der verstärkten Spitze. Die Bestie legte den Kopf wie ein Vogel auf die Seite und beäugte mißtrauisch die Waffe in Michaels Händen. Dann senkte sie langsam den Kopf und duckte sich, die Muskeln angespannt. Michael wurde klar, daß sie jeden Moment angreifen würde, und ein zweites Mal würde er ihr wohl kaum entkommen. „Hilfe!“, brüllte er verzweifelt, doch sein Schrei ging im allgemeinen Kampflärm unter.
Am rechten Ende des beleuchteten Halbkreis focht Grimmbart gerade mit drei Getreuen einen aussichtslos erscheinenden Kampf, denn die Schuppen der Bestie wirkten wie Panzerplatten, so daß die meisten Hiebe der Zwerge wirkungslos abglitten. Als eingespieltes Kampfteam war es ihnen bisher zwar gelungen, die Bestie auf Distanz zu halten, ob sie diese hingegen auch besiegen würden, stand auf einem anderen Blatt. Gegen so einen Gegner hatte noch keiner der Zwerge gekämpft. Lediglich die kurzen Vordergliedmaßen, die Augen und ein Teil des Halses schienen ungeschützt zu sein. Das machte es den Zwergen extrem schwer, es zu verwunden, geschweige denn zu töten. „Zielt auf die Augen, alles andere ist sinnlos“, wies Grimmbart seinen Kampftrupp an, als ein erneuter Vorstoß Bluthands fehlschlug. Ohne Schaden anzurichten, prallte die scharfe Streitaxt von dem gepanzerten Bein der Bestie ab. Mit einem Fauchen riß sie den Kopf herunter. Gefährliche Zahnreihen wurden sichtbar als sie nach dem Zwerg schnappte. Der wich zur Seite aus, doch zu langsam. Mit der Präzision einer Klapperschlange erwischten die mörderischen Kiefer den linken Arm Bluthands. Hilflos mußten die anderen mit ansehen, wie ihr Gefährte mit einem gewaltigen Ruck in die Höhe geschleudert wurde. Mit dem Mut der Verzweiflung stürmten sie los, doch für Bluthand kam jede Rettung zu spät. Für einen Augenblick sah es so aus, als ob er am höchsten Punkt der Flugbahn schwerelos in der Luft hängen würde, doch dann stürzte er unerbittlich den weit geöffneten, gewaltigen Kiefern der Bestie entgegen.
„Verdammtes Vieh“, schrie Grimmbart außer sich vor Wut, als ein Geräusch wie brechendes Holz das Ende des Kampfgefährten verkündete. „Bringt das Mistvieh endlich um, bevor es uns alle erledigt!“

Mit einem klatschenden Geräusch landete Gnorm auf dem ersten Felsblock inmitten des brodelnden Wassers, ruderte mit den Armen während er ohne innezuhalten zum zweiten Sprung ansetzte. Das Geheimnis bestand darin, den Schwung auszunutzen. Sollte er auch nur einem Moment zögern, würde er es nicht mehr bis zum nächsten Felsen schaffen.
Aber Gnorm hatte nicht die Absicht zu scheitern.
Schon passierte er den zweiten, dann den dritten Felsen, und dann kam der Sprung über den größten Abschnitt.
Unter Aufbietung der gesamten Sprungkraft seiner Gelenke, die ihm im Sumpf das Vorwärtskommen in besonders matschigen Umfeld erleichterten, wurde sein Körper förmlich über das Wasser katapultiert. Den Blick fest auf den gewaltigen Felsen im Wasser, der letzten Etappe vor dem anderen Ufer geheftet, entging ihm dabei völlig, daß sich unter ihm im Wasser etwas bewegte. Ein riesiger Schatten glitt dicht unter der Oberfläche mit rasender Geschwindigkeit auf die Stelle zwischen den Felsen zu. 
Er hatte es tatsächlich geschafft!
Mit einem dumpfen Geräusch landete er auf dem großen, feuchten Felsbrocken. Seine schwefelgelben Augen leuchteten für einen Augenblick vor Freude über sein unglaubliches Glück.
Aber nur für einen winzigen Moment.
Sein Instinkt, der im Laufe in den Sümpfen seiner Heimat geschult worden war, warnte ihn, daß etwas nicht stimmte.
Aber es war bereits zu spät.
Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde explodierte das Wasser hinter ihm nahezu, als der Jäger aus dem Wasser schoß. Seine Kiefer umschlossen Gnorm bevor dieser auch nur einen Angstschrei ausstoßen konnte. Das letze, was Gnorm in seinem Leben wahrnahm, war das tiefschwarze, brodelnde Wasser, auf das er, gefangen zwischen den Kiefern des Jägers, zuflog. Dann wurde es dunkel um ihn.

Streitaxts Gruppe steckte in Schwierigkeiten. Das rasende Ungeheuer hatte bereits einen Zwerg erwischt, und es sah nicht danach aus, als ob es sich damit zufrieden geben würde. Doch auch die Zwerge hatten sich nicht lumpen lassen. Dort, wo sich einmal die rechte Klaue des Ungeheuers befunden hatte, war jetzt nur noch ein Stumpf, aus dem unablässig dunkles Blut wie aus einer Fontäne schoß. Trotzdem machte sich Streitaxt wenig Hoffnung. Wenn noch mehr von den Biestern auftauchen sollten, konnten sie einpacken. Doch um sich Sorgen zu machen, hatte er keine Zeit. Mit einem wütenden Knurren schoß das Monster erneut auf ihn zu. Mit Todesverachtung blieb Streitaxt stehen, die Axt mit beiden Händen zum Zuschlagen erhoben. Im letzten Moment wich der Zwerg geschickt den zuschnappenden Kiefern zur Seite aus, während er gleichzeitig zu einem gewaltigen beidhändigen Hieb zum Kopf des Ungeheuers ausholte. Zu spät erkannte das Biest die Gefahr. Ein hohes Quietschen erklang, als das Beil tief in das Auge des Monsters eindrang. Kreischend riß es den Kopf nach hinten und entwand dem Zwerg so die Axt, die noch immer tief im Kopf des Untiers steckte. Sofort setzten die anderen Zwerge nach, um ihre Chance zu nutzen. Streitaxt, der plötzlich ohne Axt dastand, hielt nervös nach etwas Ausschau, das er als Waffe benutzen konnte. Seine Augen entdeckten nicht weit entfernt den glücklosen Kampfgefährten, der der Bestie bereits zum Opfer gefallen war. Selbst im Tod umklammerten die Finger noch immer den Griff der Waffe. Grimmig löste Streitaxt die Finger seines Kameraden. Sein Tod sollte nicht umsonst gewesen sein. „Ich räche dich“, versprach er.

In achtzehn Meter Höhe arbeitete sich derweil Glyfara verbissen weiter zur Felskante hinauf, als ihr ein fauliger Gestank in die Nase stieg. Unwillkürlich hielt sie an und richtete den Blick auf die im Dunklen über ihr liegende Felskante. Ein gewaltiger Reptilienkopf erschien plötzlich in ihrem Blickfeld. Erschrocken hielt sie die Luft an. Bitte entdecke mich nicht, betete sie lautlos vor sich hin, während sie sich an die Felswand preßte und versuchte, unsichtbar zu werden. Deutlich konnte sie sogar über den von unten herauf schallenden Kampflärm hören, wie die Bestie prüfend die Luft durch die Nüstern zog. Dann öffneten sich die Kiefer wie zu einem bösartigen Grinsen. Langsam senkte sich der schuppige Kopf in Glyfaras Richtung. 

Michael verharrte wie angewurzelt in seiner Position. Die lidlosen, an schwarzen Stein erinnernden Augen, mit den ihn das Biest unverwandt anstarrte, hatten etwas Hypnotisches. Hilflos hielt er den Kampfstab wie eine Lanze vor seinen Körper, doch er bezweifelte, daß er dem Ungeheuer damit ernsthaft etwas anhaben konnte. Die Bestie schien zu einer ähnlichen Einschätzung gekommen zu sein. Ihr Kopf pendelte noch einmal prüfend hin und her, dann griff sie an. Wie eine Lokomotive raste der Reptilienkopf auf Michael zu, der wie gelähmt dastand, als er einen Wald von Zähnen auf sich zukommen sah. Diesmal war es wohl vorbei.

Grimmbart hatte gerade ein ähnliches Problem. Obwohl er ständig neue Angriffstaktiken versucht hatte, waren bisher alle Angriffe wirkungslos geblieben. Mit einem Hieb ihres muskulösen Schwanzes hatte die Bestie bei ihrem letzten Versuch gleich zwei Zwerge auf einmal von den Beinen geholt, doch nur einer hatte sich wieder erhoben. Mit den Zähnen knirschend registrierte Grimmbart, daß die Anzahl seiner Krieger rapide abnahm. Dann bemerkte er, daß sich die emotionslosen Augen der Bestie nun direkt auf ihn hefteten. Offensichtlich hatte sie erkannt, daß er der Führer dieses lästigen Haufens war. Entschlossen, dem ein Ende zu setzen, entblößte sie ihre Zahnreihen. Grimmbart schluckte bei dem Anblick und griff nach seiner Wurfaxt. In der linken Hand die schwere Streitaxt, in der rechten die Wurfaxt haltend, erwartete er den Angriff.
„Nun mach schon, ich habe nicht ewig Zeit“, knurrte er. Als hätte die Bestie die Worte verstanden, zuckte der Reptilienkopf fauchend vor.

Glyfara kämpfte inzwischen mit dem Brechreiz. Der Geruch nach Verwesung war kaum zu ertragen, als das Biest sein Kopf über den Rand der Plattform zu ihr nach unten schob und sie wütend anbrüllte. Die rasiermesserscharfen Klauen kratzten über den Fels, als sie sich noch ein Stück weiter hinunter beugte, doch die Elbin blieb außerhalb ihrer Reichweite. Wütend zog sich die Bestie auf die Plattform zurück und suchte nach einer besseren Möglichkeit, um an ihre Beute heranzukommen. Glyfara zitterte inzwischen am ganzen Leib. Dann gewann die Wut über ihre aussichtslose Situation die Oberhand. Mit den Füßen stemmte sie sich so gut es ging fest in zwei winzige Felsspalten, dann nahm sie vorsichtig ihren Bogen ab, immer bemüht, das Gleichgewicht zu halten. Aus einer derartigen Position hatte sie zwar noch nie einen Pfeil verschossen, doch bekanntlich gab es für alles ein erstes Mal. Entschlossen legte sie einen Pfeil auf die Sehne. „Du wirst es noch bereuen, mich getroffen zu haben“, flüsterte sie grimmig.

Michael hatte derweil mit dem Leben abgeschlossen. Sein ganzes Blickfeld wurde nur noch von dem abscheulichen Schlund der Bestie ausgefüllt. Verzweifelt sprang er zurück und stolperte über einen Stein. Rückwärts zu Boden gehend entging er nur um Haaresbreite den zuschnappenden Kiefern, die Millimeter vor seinem Gesicht aufeinander trafen. Das Biest setzte sogleich nach. Ihr am Boden liegendes Opfer war nun eine leichte Beute. Erneut schossen die geöffneten Kiefer vor, doch im letzten Moment prallte ein knurrendes, haariges Bündel von sechzig Kilo Gewicht seitlich gegen den gewaltigen Schädel und lenkte den tödlichen Biß so zur Seite ab. Statt Michael zwischen die Zähne zu bekommen, erwischte die Bestie nur Staub und kleine Felsbrocken. Wütend riß sie den Kopf herum und fixierte das haarige Bündel, das es gewagt hatte, sie anzugreifen. Michael fiel vor Staunen der Kinnladen herunter, als er sah, wer ihm das Leben gerettet hatte.
„Kämpfen“, knurrte der Wühler wütend.

Goldhand hatte seinem Namen bisher alle Ehre gemacht. Nur ihm hatten die Kameraden es zu verdanken, daß die Bestie nur noch über eine Vorderklaue verfügte. Entschlossen hielt er nun die Wurfaxt in seiner Hand und wartete auf die richtige Gelegenheit, um ihr auch noch das letzte Augenlicht auszublasen. Aber obwohl er der beste Wurfaxtwerfer der ganzen Truppe war, schien er einfach kein Glück zu haben. Ein paar Mal hatte er schon zum Wurf angesetzt, aber die Bestie hatte jedesmal im letzten Moment den Kopf weg gedreht. „Lenkt sie endlich ab, sonst komme ich nie zum Zug“, brüllte er über den Lärm hinweg. Streitaxt hob seine Axt zum Zeichen, daß er verstanden hatte.
„Komm her du häßliches Vieh, ich will dir die Nasenhaare stutzen“, brüllte er aus Leibeskräften und schwenkte wild seine Axt. Mit einem Ruck schwang der gewaltige Kopf herum. Das Biest wußte, was eine Herausforderung war, auch wenn es die Worte nicht verstand. Die anderen Gegner waren vergessen. Jetzt galt es nur, diesen Winzling zu vernichten. In dem verbliebenen Auge funkelte die bloße Mordlust. Goldhand grinste grimmig. „Dreh den Kopf noch ein wenig, meine Schöne. Ich habe eine Überraschung für dich.“

Der Wandler war frustriert. Ein nicht unbeträchtlicher Teil seiner Gefolgschaft war den Fluten des Flusses zum Opfer gefallen. Nur er selbst seine Schnüffler und eine Handvoll Fußvolk hatten es geschafft, den Fluss zu überqueren, nachdem die Flussbestie ihren  Jagdtrieb befriedigt hatte und abgetaucht war. Aber noch viel mehr ärgerte es ihn, daß die verfluchte Elbin und der Junge ihm noch immer einen Schritt voraus waren.
Mit einem mißmutigen Blick musterte er den klaffenden Einschnitt in der hoch aufragenden Felswand, zu der ihn die Schnüffler geführt hatten. Offenbar hatten seine Gegner diesen Weg gewählt.
Was würde ihn auf der anderen Seite erwarten?
Das nächste, kaum zu überwindende Hindernis?
Der Wandler knurrte ungehalten, während er sich durch den engen Spalt quälte. Doch zu seiner Überraschung erwartete ihn auf der anderen Seite lediglich eine Kaverne, deren Ausmaße er nicht abschätzen konnte.
Mit einem Nicken zu den Schnüfflern hin, senkten diese die Nasen zum Boden und drangen in die Tiefe der Kaverne vor. Dem ungeduldigen Knurren nach zu urteilen, war die Spur frischer als bisher. Der Wandler klackte bei dieser Erkenntnis erwartungsvoll mit den Klauen. Mit ein wenig Glück, würde er die beiden bald in den Klauen haben.

Ein Schlund, der Tod und Verderben versprach, raste auf den unerschütterlichen Grimmbart zu, der bis zum allerletzten Moment wartete. Dann warf er die Wurfaxt mit tödlicher Präzision in den weit geöffneten Schlund und sprang sofort rückwärts aus der Reichweite der Bestie. Als die Axt im Inneren schmerzhaft Knorpel und Sehnen durchtrennte, fuhr der Kopf der Bestie zurück, als sei sie gegen einen Bus geprallt. Jubel brach aus, als die Bestie außer sich vor Wut brüllte und wild den Kopf schüttelte, um den brennenden Schmerz in ihrem Hals loszuwerden, was nur dazu führte, daß sich die Axt immer mehr verklemmte.
„Geben wir ihr den Rest“, schrie Grimmbart entschlossen. Wie ein Mann stürmten die Zwerge brüllend auf ihren angeschlagenen Gegner zu. Die Äxte blitzten im Schein der Fackeln.

Am oberen Rand der Plattform war erneut der häßliche Reptilienkopf erschienen. Mit zur Seite geneigten Kopf musterte die Bestie die unter ihr an der Felswand hängende Beute. In den dunklen Augen, mit denen die Bestie sie anstarrte, glaubte Glyfara die pure Bosheit zu erkennen. Die Bestie stand jetzt ein paar Meter weiter rechts als zuvor. Dort befand sich ein kleiner Felsvorsprung, auf den sie nun eines ihrer gewaltigen Hinterbeine senkte und vorsichtig die Standsicherheit erprobte. Zu Glyfaras Leidwesen, schien der Vorsprung das Gewicht zu tragen. Ein triumphierender Ausdruck glitt über die häßlichen Gesichtszüge, als das Biest sich ganz auf den Vorsprung hinunterließ. Nun sollte es eigentlich seine Beute erreichen können.
Glyfara spannte den Bogen und wartete. Zurück konnte sie nicht mehr, denn mit dem Bogen in der Hand konnte sie nicht klettern. Und genug Zeit, ihn wieder umzuhängen, hatte sie nicht. „Du oder ich“, flüsterte sie grimmig. Die Bestie knurrte grollend, dann senkte sie den gewaltigen Schädel.
Michael wagte nicht, zu dem Wühler hinüber zu laufen. Vorsichtig richtete er sich auf und hielt nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau, doch die gab es definitiv nicht. Eines war ihm jetzt klar. Einen Kampf gegen die Bestie konnte weder er noch der Wühler gewinnen. Er bezweifelte sogar, das die kampfwütigen Zwerge diesen Ungeheuern gewachsen waren. Soweit er das beurteilen konnte, erging es denen auch nicht besser als ihm. Hier half nur die Flucht. „Versteck dich“, rief er dem Wühler zu. Sofort fuhr der Kopf der Bestie beim Klang von Michaels Stimme wieder in seine Richtung. Na großartig, jetzt habe ich es wieder auf mich aufmerksam gemacht, fluchte Michael in Gedanken.

Goldhand sah endlich den richtigen Moment für gekommen. Die Bestie hatte den Kopf gesenkt und fauchte Streitaxt aus Leibeskräften an. Für einen kurzen Augenblick war das ungeschützte Reptilienauge nun in Reichweite. Jetzt oder nie, ging es ihm durch den Kopf. Streitaxt hatte inzwischen das Gefühl, in einem Windkanal zu stehen. Der stinkende Atem blies ihm den Bart aus dem Gesicht und raubte ihm fast die Sinne, doch er hielt stand, die Axt zum Zuschlagen bereit. Aus den Augenwinkeln sah er etwas Blitzendes auf den Kopf der Bestie zufliegen. Jetzt würde jeden Moment die Hölle losbrechen. Er machte sich bereit.

Achtzehn Meter über dem Erdboden stand Glyfara ihrem schlimmsten Alptraum gegenüber. Die Bestie hatte sich soweit hinunter gebeugt, daß es nur noch einen guten Meter von Glyfara trennte. Sie konnte ihren stoßweisen, fauligen Atem riechen.
„Mach das verdammte Maul auf“, fluchte sie leise. Der Bogen in ihrer Hand zitterte zum ersten Mal in ihrem Leben. Die Sehne war zum Zerreißen gespannt. Zwar hätte sie auch versuchen können, eines der Augen zu treffen, doch sie hatte nur diese eine Chance und da wollte sie auf Nummer sicher gehen. Im Übrigen wurden die seitlich sitzenden Augen von einem Knochenwulst geschützt, der es fast unmöglich machte, sie frontal zu treffen. Erneut zog das Biest witternd die Luft ein, dann öffnete es fauchend seine häßliche Schnauze und entblößte so Zahnreihe um Zahnreihe. Glyfara ließ die Sehne los. Mit einem bösartigen Zischen verschwand der Pfeil tief im Schlund der Bestie. Brüllend vor Schmerzen riß diese den gewaltigen Schädel zurück und geriet so aus dem Gleichgewicht. Wie in Zeitlupe sah Glyfara den gewaltigen Körper über die Felskante kippen, bevor er mit rudernden Gliedmaßen in der Tiefe verschwand. Was das für die Gefährten bedeuten könnte, kam ihr erst jetzt in den Sinn.

Weiter unten hatte sich Michaels Gegner zum Angriff entschlossen. Schützend riß Michael die Arme vor den Kopf, als der gewaltige Schädel auf ihn zu schnellte. Zu seiner Überraschung blieb der tödliche Biß aber aus. Statt dessen ertönte ein gewaltiger Knall, der für einen Augenblick den Boden unter seinen Füßen erschütterte. Erstaunt riß er die Arme wieder herunter und staunte nicht schlecht. Statt einer Bestie, befanden sich nun zwei übereinander Gestapelte vor ihm, jedoch machte keine der beiden den Eindruck, als ob sie ihn jemals wieder angreifen würden. Offenkundig war eine der Bestien oben abgestürzt und hatte seinen Angreifer unter sich zerquetscht. Dann fiel ihm siedendheiß ein, was das bedeutete. Auf dem vermeintlich sicheren Plateau befanden sich noch mehr von den Biestern, und dorthin war Glyfara unterwegs. Entsetzt riß er den Kopf nach hinten und hielt nach der Elbin Ausschau. Erleichterung durchflutete ihn, als er sie wohlbehalten am oberen Rand der Klippe auf einem Felsvorsprung stehen sah. Glyfara ihrerseits musterte besorgt das Geschehen zu ihren Füßen.
„Alles in Ordnung da unten?“, rief sie mit bebender Stimme.
Erst jetzt realisierte Michael, in welcher Gefahr er geschwebt hatte.
„Zwei Meter weiter links und ich hätte keine Sorgen mehr gehabt“, brüllte er trocken zurück, während er versuchte, sein rasendes Herz wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sein Gegner war erledigt, und soweit er es beurteilen konnte, waren die Zwerge gerade im Begriff mit den anderen Bestien kurzen Prozeß zu machen. Zumindest von dieser Seite schien alsbald keine Gefahr mehr zu drohen, was nicht bedeuten mußte, daß sie dafür nicht woanders auftauchen konnte. Zum Beispiel achtzehn Meter oberhalb von ihm. 
„Glaubst du, dort sind noch mehr von den Biestern?“
„Ich hoffe nicht.“
Die Anspannung in ihrer Stimme war selbst unten am Boden noch deutlich heraus zu hören. „Jedenfalls dürfte der, den ich nach unten geschickt habe, keine Schwierigkeiten mehr machen“, rief sie mit grimmiger Befriedigung.
„Platt“, bestätigte der Wühler und grub probeweise seine Zähne in eines der Hinterbeine. Nichts geschah.
„Sei bitte vorsichtig, die Viecher sind verdammt gefährlich.“
„Was du nicht sagst“, murmelte Glyfara leise während sie entschlossen die Felskante über sich musterte. Ihr war alles andere als wohl zu Mute. Schließlich gab sie sich einen Ruck.
„Ich klettere jetzt auf das Plateau und lasse euch so schnell es geht das Seil hinunter, haltet noch einen Augenblick durch.“
Vorsichtig überwand sie die letzten zwei Meter und spähte vorsichtig über den Rand des Plateaus. Nichts regte sich. Ein langer, kaum erleuchteter Gang führte von dem Plateau in den Berg hinein. Glyfara atmete tief durch, dann schwang sie sich auf das Plateau hinauf und wickelte eilig das Seil von ihrem Körper, während sie gleichzeitig nach einer Möglichkeit zum Befestigen Ausschau hielt. Immer wieder glitt ihr Blick beklommen zu dem düsteren Gang hinüber. Zu ihrer Erleichterung zeigte sich dort kein weiteres dieser Ungeheuer. Glyfara hoffte inständig, daß es sich bei diesem Exemplar um einen Einzelgänger gehandelt hatte, wobei sie die Erinnerung an das Rudelverhalten dieser Gattung zu ignorieren versuchte.

Wird fortgesetzt..............
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