Im Licht der verbliebenen Fackeln, die der Flussdurchquerung nicht zum Opfer gefallen waren, machten sie sich wieder auf den Weg, der nun steil bergauf direkt auf eine schmale Felsspalte zuführte. Entsprechend anstrengend war der Aufstieg.
Glyfara, die in ihren nassen Kleidern fror, glitt etliche Male ab und hatte dem Umstand, daß sie sich noch kein Bein gebrochen hatte, nur Michael zu verdanken, der jedesmal beherzt zugriff, wenn die Elbin in Schwierigkeiten geriet. Auf diese Weise kämpften sich Zwerge, Mensch und Elbin Meter für Meter den beschwerlichen Steilhang hinauf, bis sie schließlich den schmalen Felseinschnitt erreichten.
Majestätisch ragte die Felswand nahezu lotrecht in die Höhe, in welcher der Einschnitt wie eine häßliche, gezackte Narbe auf dem ansonsten makellosen Granit wirkte. Grimmbart und Streitaxt zwängten sich zuerst hinein.
„Sieht ja verlockend aus“, murmelte Michael bevor er ihnen folgte, nicht jedoch ohne vorher noch einen Blick zurück zum Fluß zu werfen, der nunmehr nur noch als vages Schemen auszumachen war. „Mach es gut, Wühler“, flüsterte er, dann wandte er sich der engen Klamm zu. Unangenehm wurde ihm bewußt, was das letzte Mal passiert war, nachdem er sich durch einen so schmalen Einschnitt gezwängt hatte. Doch zu seiner Beruhigung verlief diese Durchquerung ohne Zwischenfall.
Nach endlosen Metern mühsamen Vorankommen weitete sich der Spalt unvermittelt wieder und mündete in eine gigantische Kaverne. Trotz des immerwährenden, blaßgrünen Licht, das auch hier für eine minimale Beleuchtung sorgte, war die Dimension nur ansatzweise zu erahnen. Michael vermutete, daß es sich um eine riesige Gasblase aus der Frühzeit dieser Welt handelte, die in dem damals zähflüssigen Gestein den Weg nach oben nicht geschafft hatte und hier eingeschlossen worden war. In der Schule hatte er von derartigen Phänomen gehört. Probeweise stieß er einen gellenden Pfiff aus, der mit etlicher Verzögerung als Echo zurückkam. Diese Kaverne schien wahrlich gigantisch zu sein, und Michael hatte das unbestimmte Gefühl, daß sie noch ein paar unangenehme Überraschungen für sie bereit hielt. Streitaxt schien das ähnlich zu sehen.
„Prima, wenn hier unten ein paar Verwandte dieses Viehs aus dem Fluß leben, wissen sie jetzt, daß wir hier sind“, zischte er verärgert über Michaels Experiment.
„Falls es hier unten noch mehr Jäger gibt, bekommen die früher oder später ohnehin mit, daß wir hier sind“, knurrte Grimmbart, dessen Stimme in der Tiefe der Höhle verhallte. Widerwillen war der Zwerg beeindruckt, von dem, was er sah. Er verstand etwas von Höhlen und Gewölben, und diese gigantische Steinhalle übertraf alles, was er je gesehen hatte.
Glyfara, die gerade den Spalt hinter sich gebracht hatte, pfiff beim Anblick der Kaverne anerkennend durch die Zähne.
„Macht ihr das eigentlich mit Absicht“, fragte Streitaxt ungehalten, doch Glyfara beachtete ihn gar nicht. Dafür nahm sie der Anblick der titanischen Kaverne viel zu sehr gefangen.
„Das wird ja immer größer hier unten“, flüsterte sie ehrfürchtig. Prüfend versuchte sie, in dem unwirklichen Licht das Ausmaß der Höhle zu erfassen. Es gelang ihr nicht. Große Teile lagen vollständig im Dunklen. Hier unten hätte sich ein ganzes Dorf befinden können, ohne daß das aufgefallen wäre.
„Ich glaube, diesmal gehe ich als Kundschafterin voran, damit wir nicht wieder in eine Falle laufen. Dieses Terrain ist zu unübersichtlich.“
Grimmbart schüttelte entschieden den Kopf.
„Kommt nicht in Frage“, sagte er mit Nachdruck. „Wir bleiben zusammen. Jeder achtet auf seinen Partner und hält die Waffe griffbereit.“
Glyfara zuckte mit den Achseln. „Hier unten bist du der Boß.“
Nachdem auch die verbliebenen Gefährten den Spalt hinter sich gebracht hatten, drang die Gruppe geschlossen in die Höhle vor. Im flackernden Licht der Fackeln wirkte diese auf Michael noch bizarrer. Die Stalaktiten, die an vielen Stellen an der Decke hingen, kamen ihm wie bedrohliche Dolche vor, die nur darauf warteten, abzufallen und ihm den Gar aus zu machen.
Der Boden der Höhle war hingegen zur allgemeinen Erleichterung erstaunlich eben, so daß sie gut vorankamen. Michael schätzte, daß sie eine gute Stunde unterwegs waren, als Glyfara ihn auf etwas aufmerksam machte, daß eigentlich gar nicht sein konnte.
„Jetzt schneit es auch noch“, bemerkte die Elbin erstaunt.
„Höchst ungewöhnlich in einer Höhle, in der Tat“, stimmte ihr Spürgold zu, der die weißen Flocken auf seinem Handrücken betrachtete.
Sie waren weder kalt, noch naß.
Michael spürte, wie ihm flau in der Magengrube wurde. Von diesem Phänomen hatte er schon im Erdkundeunterricht gehört.
„Das ist kein Schnee“, erklärte er den staunenden Gefährten. „Das sind Gipskristalle.“ Mit der Hand wies er zur weit über ihnen befindlichen Höhlendecke. Das Licht der Fackeln reichte gerade noch aus, um ein paar imposante, weiße Gebilde an der Höhlendecke erkennen zu lassen. „Sie sind sehr empfindlich und reagieren auf Temperaturschwankungen. In einer kleinen Höhle würde unsere Körperwärme schon ausreichen, damit sich Gipsflocken lösen könnten, in dieser Höhle hingegen...“
„Was willst du damit andeuten?“, fragte Streitaxt alarmiert.
„Daß hier irgend etwas verdammt Großes durchgekommen ist, das hierfür verantwortlich ist“, flüsterte Michael.
Angesichts dieser Schlußfolgerung zog die Elbin sogleich ihren Bogen von der Schulter.
„Äxte bereit“, befahl Grimmbart . „Achtet vor allem auf die Schatten. Anscheinend teilen wir die Höhle hier mit jemanden.“
Sorgfältig musterten die Gefährten daraufhin die Umgebung, doch außer ein paar bizarren Schatten, war nichts Außergewöhnliches zu entdecken.
„Weiter“, knurrte Grimmbart schließlich. „Sehen wir zu, daß wir hier wegkommen.“
Die Gruppe erhöhte darauf hin ihr Marschtempo. Jede Konversation war nun verstummt. Alle fürchteten sich vor dem, was hier unten lauern könnte und vermieden daher jedes unnötige Geräusch. Nach Michaels Ansicht war das zwar Quatsch, da ihre Fackeln ohnehin die Aufmerksamkeit eines Jägers auf sich ziehen würden, auf der anderen Seite konnte es nicht schaden, wenn man zumindest hören konnte, woher der Angriff kam.
Aber der blieb aus.
Nach einiger Zeit hörte das Pseudoschneetreiben schließlich zur allgemeinen Erleichterung wieder auf, obwohl noch immer genügend phantastische Gipsgebilde an der Decke hingen.
Nach endlosen weiteren Stunden anstrengenden Klettern und Marschieren zog sich die Höhlendecke plötzlich steil in die Höhe. Nachdem sie einige gewaltige Felssäulen passiert hatten, mußten sie enttäuscht feststellen, daß das andere Ende der Höhle aus einer Granitwand bestand. Soweit man es erkennen konnte, gab es weiter oben einen Vorsprung. Möglicherweise ging es dort weiter. Michael schätzte die Höhe der Wand auf gute zwanzig Meter.
„Und du bist sicher, daß das der richtige Weg ist?“, fragte Glyfara skeptisch.
„Nein, aber ich sehe keine Alternative. Zurück über den Fluß können wir nicht, und einen anderen Weg scheint es nicht zu geben. Also bleibt nur zu hoffen, daß es dort oben weiter geht“, erwiderte Grimmbart. Müde ließ sich der Zwerg auf einem Felsbrocken nieder und nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche. "Einer von uns muß dort hoch und nachsehen und dann das Seil hinunter lassen, falls es dort oben einen Weg geben sollte. Zum Glück haben wir noch immer das Seil, sonst würden wir jetzt in der Klemme stecken“, erläuterte er die Situation, mit einem anerkennenden Seitenblick auf Glyfara.
Michael schluckte. Er hoffte nur, daß er nicht schon wieder dieser Jemand sein würde. Diese Wand sah verdammt steil aus und wäre vermutlich sogar für einen Freeclimber eine Herausforderung. Zu seiner Überraschung ergriff Glyfara die Initiative.
„Dort hinauf ist doch nun wirklich kein Problem“, schnaufte sie verächtlich. Michael sah die Elbin an, als habe die den Verstand verloren. Blutaxt hingegen grinste gutmütig.
„Logisch, euch Elben steckt das Klettern ja auch im Blut. Schließlich lebt ihr immer noch auf Bäumen.“
„Wir leben nicht auf Bäumen, wir schützen nur den Wald“, wies Glyfara ihn wütend zurecht. Grimmbart winkte ab.
„Beruhige dich, er hat doch nur Spaß gemacht!“
Blutaxt nickte bestätigend. Michael fand zwar, daß das nicht so ganz zu seinem dreisten Grinsen paßte, doch Glyfara schien sich damit zufrieden zu geben.
„Was soll man auch von einem Zwerg anderes erwarten“, murmelte sie, während sie bereits prüfend die Felswand betrachtete. Die sah nicht gerade leicht zu bezwingen aus. Vielleicht hätte sie nicht so angeben sollen, doch jetzt gab es kein Zurück mehr, wenn sie nicht das Gesicht verlieren wollte.
„Gib mir das Seil“, forderte sie Streitaxt auf, der ihr sofort das zwanzig Meter lange, zusammen gerollte Seil überreichte. Es war immer noch feucht. Sorgfältig wickelte die Elbin es sich um den Leib.
„Sag mal, weißt du eigentlich, was du da tust?“, fragte Michael besorgt.
„Uns den Hintern retten“, gab Glyfara brüsk zurück. „Außerdem sind wir ein Team. Da ist jeder mal an der Reihe. Du hast den Fluß gemeistert, ich werde diese Wand für uns überwinden. Ich frage mich nur, wozu diese Zwerge gut sein sollen“, bemerkte sie spöttisch.
„Ganz einfach, ohne uns würdet ihr nie hier heraus finden“, konterte Grimmbart trocken.
„Das wird sich noch zeigen.“ Sorgfältig verknotete Glyfara die Enden des Seils, dann wandte sie sich der steilen Felswand zu. „Packen wir es an“, murmelte sie.
Das Wasser des unterirdischen Flusses umspülte die Felsen im Flußbett und bildete an diesen Stellen wirbelnde Strudel. Nachdenklich, mit dem Rücken an einen uralten, steinernen Brückenpfeiler gelehnt, folgten die Augen des Wandlers dem Flußlauf auf der Suche nach einer Möglichkeit, ihn überqueren.
Es gab keine.
Und doch war es der Elbin und ihren Getreuen gelungen, dieses Hindernis zu überwinden; denn die Spur endete hier. Der Wandler vermutete, daß sie die Brücke hinter sich abgerissen hatten, nachdem sie sie überquert hatten. Zumindest wies einer der Brückenpfeiler frische Spuren eines Hanfseils auf. Er hingegen besaß kein Seil.
Wie also sollten sie ihnen folgen?
Probeweise hatte er einen seiner Getreuen in den Fluß geschickt. Die Strömung hatte den kleinen, krummbeinigen Dämonen mit sich gerissen, kaum daß das Wasser seine Oberschenkel umspült hatte.
Er war nicht wieder aufgetaucht.
Der Blick des Wandlers glitt nun über die glitschigen Felsen im Flußbett. Ein Stück unterhalb der Brückenpfeiler standen sie an einigen Stellen gerade noch so dicht beieinander, daß man mit mehreren, äußerst gewagten Sprüngen auf die andere Seite gelangen könnte, auch wenn ein Sprung auf die feuchten Felsen im Prinzip einem Selbstmordversuch gleichkäme.
Aber hatten sie eine Wahl?
Zumindest wäre es einen Versuch wert. Mit ausgestreckter Klaue wies der Wandler auf einen kleinen, grünschuppigen Dämonen, dessen Gesichtsausdruck angesichts der brodelnden Flut zu seinen Füßen pures Entsetzen widerspiegelte.
„Ich habe einen Auftrag für dich“, wisperte er mit unheilvoller Stimme.
Glyfara Zuversicht schwand. Die ersten paar Meter hatten zwar kein Problem dargestellt; denn es hatte genug kleine Vorsprünge und Spalten gegeben, die den Aufstieg fast schon zu einem Kinderspiel machten. Allerdings wurde der Aufstieg jetzt, nachdem sie das erste Drittel hinter sich gebracht hatte, deutlich beschwerlicher. Möglichkeiten, Halt zu bekommen, gab es praktisch nicht mehr, und wenn, lagen sie weit auseinander. Glyfara benötigte jetzt ihr ganzes Geschick, um nicht abzustürzen. Die Folgen eines solchen Absturzes verdrängte sie aus ihrem Bewußtsein. Wie eine Fliege klebte sie über dem Erdboden an der glatten Wand und musterte den nächsten Punkt zum Festhalten. Ein kleiner Sims, ein beachtliches Stück oberhalb ihres derzeitigen Standpunkts. Glyfara bezweifelte, daß sie ihn erreichen konnte. Genauso gut hätte sie nach dem Mond angeln können. Doch eine weitere Möglichkeit sah sie nicht. Was also blieb ihr anderes übrig, als es zu versuchen? Mit zusammengebissenen Zähnen streckte sie sich soweit wie möglich nach oben. Millimeter für Millimeter tastete sie sich mit den Fingerspitzen voran, ängstlich darum bemüht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, doch so weit sie sich auch streckte, es fehlte immer noch ein gutes Stück. Dafür registrierte Glyfara mit ihrem feinen Gespür plötzlich eine andere Gefahr. Der schmale Vorsprung, auf dem sie halsbrecherisch balancierte, knirschte mit einem Mal unter ihren Füßen. Glyfara wußte, was das zu bedeuten hatte. Sie würde jeden Augenblick den Halt unter den Füßen verlieren. Entschlossen visierte sie den so dicht über ihr liegenden, rettenden Sims an. Dann spannte sie die Muskeln und sprang, keine Sekunde zu spät, denn im nächsten Augenblick brach der schmale Absatz, auf dem die Elbin eben noch mit ihrem ganzen Gewicht balanciert hatte, weg. Ein Aufschrei ertönte aus den Kehlen der Gefährten, als Glyfara für einen Augenblick mit einer Hand an der Kante wie ein Pendel hin und her schwang und die Gefährten am Boden in Deckung sprangen, um nicht von den herabstürzenden Steinen erschlagen zu werden. Dann gelang es Glyfara, auch mit der zweiten Hand zuzugreifen und sich hinaufzuziehen. Zitternd blieb sie ein paar Sekunden liegen, bevor sie einen Blick in die Tiefe riskierte.
„Alles in Ordnung“, rief sie und winkte den Gefährten zaghaft zu, die beinahe von dem Steinhagel erschlagen worden wären und nun deutlich den Abstand zur Steilwand vergrößert hatten, während sie immer noch versuchte, ihre zitternden Glieder wieder unter Kontrolle zu bekommen. So schwer hatte sie sich den Aufstieg nicht vorgestellt. Mit einem Seufzen setzte sie sich auf und visierte den nächsten Punkt auf ihrer Etappe an. Dann blinzelte sie erstaunt. Es hatte wieder zu schneien angefangen.
Weiter unten hatte man das Phänomen ebenfalls bemerkt.
„Das bedeutet Ärger“, teilte Michael den Gefährten mit, die erstaunt das einsetzende Schneetreiben um sie herum bewunderten. Grimmbart befahl daraufhin, die Fackeln in einem Halbkreis um sie herum im Boden zu befestigen. Auf diese Weise mußten sie zumindest nicht im Dunkeln kämpfen, falls irgend etwas auf die Idee kommen sollte, sie anzugreifen. Mit feuchten Fingern umklammerte Michael nun seinen Kampfstab und spähte in die Dunkelheit jenseits der Fackeln. Doch der Pseudoschneefall war inzwischen so stark, daß das natürliche, schwache Höhlenlicht nicht mehr ausreichte, um außerhalb des Lichtkreises etwas erkennen zu können. Spürgold hatte neben Michael Stellung bezogen. Die Axt hielt er mit beiden Händen umklammert, während er nervös die bedrohlichen Schatten jenseits des Lichtkreises musterte.
„Da draußen ist etwas, kannst du es auch spüren?“, fragte er Michael, dem daraufhin ein Schauder über den Rücken lief.
„Ich hoffe, du irrst dich“, antwortete er gedrückt.
Fünfzehn Meter weiter oben kämpfte Glyfara inzwischen im Schneetreiben gegen die Schwerkraft. Die letzten Meter waren wieder etwas leichter zu bewältigen gewesen, dafür bildeten die verbleibenden nun kaum einen Ansatzpunkt mehr. Glyfara machte es sich auf einem kleinen Absatz so gut es ging bequem, um ihre Lage zu überdenken. Anscheinend gab es nur die Optionen, umzudrehen, oder ihren Hals auf den letzten Metern zu riskieren. Ein letztes Mal musterte sie die nahezu spiegelglatte Felswand. Dann schluckte sie ihre Furcht hinunter und visierte eine winzige Vertiefung im Fels an, die ihr zumindest ein wenig Halt bieten würde. Je eher sie oben war und das Seil hinunter lassen konnte, desto besser wäre das für ihre Gefährten.
Wer wußte schon, was dort unten in den Schatten lauerte?
Vorsichtig streckte sie den rechten Arm aus und tastete nach der Vertiefung über ihr.
Gnorm zitterte wie noch nie zuvor in seinem Leben; denn der kleine Dämon erlebte etwas, das ihm bisher fremd gewesen war.
Er verspürte Angst.
Todesangst, die sich allmählich zu nackter Panik ausweitete. Seine Augen glitten über die rutschigen Felsen zur anderen Seite des Flusses. Er verabscheute fließendes Wasser, und er haßte diese Höhle, die nichts mit seiner Heimat gemeinsam hatte. Nirgendwo blubberten wohltuende heiße Schwefelquellen, deren Aroma noch weithin zu riechen waren. Kein feuerspeiender Berg tauchte den Horizont in rotes Licht, und er vermißte den Moder des Sumpfes, in dem er beheimatet war.
Den Moder!
Was hätte er jetzt für ein warmes Schlammbad gegeben?
Vermutlich alles.
Statt dessen war er gezwungen, sein kleines Leben in dieser feuchtkalten Umgebung für etwas zu riskieren, das er noch nicht einmal verstand. Ja, er wußte noch nicht einmal, wie er überhaupt in diese Situation geraten war. Das letzte, an das er sich erinnerte, war der Anblick eines prächtigen Exemplars einer Sumpform gewesen, jener wohlschmeckenden Schlangen, die tief im Sumpf lebten und schwer zu jagen waren. Er hatte gerade seinen Speer schleudern wollen, als er sich plötzlich mit anderen zusammen in einer ihm völlig unbekannten Gegend wiedergefunden, in der es widerlich süß nach Blumen gerochen hatte, der Himmel ekelerregend blau gewesen war und war ihm begegnet.
Dem gefürchteten Wandler und Handlanger des Fürsten.
Wer sich ihm widersetzte, endete unweigerlich in den Verliesen, nicht jedoch, ohne zuvor den Einfallsreichtum der Folterknechte bewundern zu dürfen. Vor Schreck war Gnorm der Speer aus den Klauen geglitten, und er hatte demütig den Blick abgewendet. Was der Wandler ihm mit zischender Stimme im Anschluß befohlen hatte, hatte er zwar nicht verstanden, aber trotzdem unterwürfig genickt, sich in sein Schicksal ergeben und nicht aufbegehrt. Bei dem Anblick des brodelnden Flusses begann er sich jedoch zu fragen, ob er es vielleicht nicht doch besser getan hätte. Aber dafür war es nun zu spät.
Er seufzte innerlich und schätzte noch einmal die Entfernung zwischen den einzelnen Felsbrocken im Wasser ab. Dann spannte er seine Muskeln an und rannte los.
Ein wildes Zischen ließ Michael zusammenfahren. Die anderen verharrten stocksteif in ihrer Position. Nun gab es keinen Zweifel mehr, daß irgend etwas im Dunkeln unterwegs war. Grimmbart, der seitlich von einem mächtigen Felsbrocken Stellung bezogen hatte, gab den anderen ein Zeichen, sich auf die Mitte des Fackelrings zu konzentrieren, doch Michael konnte immer noch nichts erkennen. Spürgold zog ihn zu sich herunter und preßte seine Lippen an sein Ohr.
„Direkt voraus ist etwas, und es scheint verdammt groß zu sein“, flüsterte er nervös. „Mach jetzt bloß keine hektischen Bewegungen.“
Wie ein Geisterschiff im Nebel, tauchte tatsächlich der Umriß eines gewaltigen Untiers aus dem Schneetreiben auf. Aufrecht, auf zwei massiven Hinterbeinen gehend, maß es gut drei Meter in der Höhe. Sein großer Schwanz, der für die ausgewogene Balance sorgte, peitschte unruhig über den Boden, als es am Rande des Fackelkreises stehenblieb und die Gefährten argwöhnisch musterte. Die kurzen Vorderbeine, die sich in Michaels Kopfhöhe befanden und mit gefährlich aussehenden Klauen versehen waren, zuckten nervös. Witternd streckte es den gewaltigen Reptilienkopf vor.
„Scheiße“, entfuhr es Michael beim Anblick des blitzenden Gebisses, das mit Zähnen bestückt war, die an spitze Dolche erinnerten. Vor Schreck taumelte er ein Stück zurück, bis er mit dem Rücken an die Felswand stieß. Das Ungeheuer musterte ihn mit seinen dunklen Augen tückisch. Michael hätte geschworen, daß sich eine unheilvolle Intelligenz in den schwarzen Augen widerspiegelte. Das machte das Wesen noch gefährlicher.
„Abwarten, auf keinen Fall greifen wir zuerst an. Falls wir Glück haben, scheut es das Feuer und verschwindet wieder“, befahl Grimmbart mit angespannter Stimme. Michael beneidete ihn um seine Ruhe.
Der Kopf des Ungeheuers pendelte jetzt von rechts nach links. Ein paar Mal hatte es angesetzt, den Fackelkreis zu durchschreiten, doch dann im letzten Moment wieder abgebrochen. Wütend reckte es den Kopf vor und brüllte so laut, daß Michael die Ohren klingelten. Der faulige Aasgeruch, der ihn wie ein übler Wind traf, raubte ihm fast den Atem. Lange würden seine Nerven das nicht mehr aushalten.
Das Brüllen des Reptils hatte beinahe dafür gesorgt, daß Glyfara den Halt verloren hätte. Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie erkannte, daß ihre Gefährten von einem Ungeheuer bedroht wurde, das dem aus dem Fluß ähnelte. Dieses Exemplar hatte offenkundig die Spuren in dem Tunnel hinterlassen. Von ihrer Position aus entdeckte sie jedoch noch etwas, was den Gefährten unten anscheinend völlig entging, da sie sich vollkommen auf ihren Angreifer konzentrierten. Von rechts und links näherten sich noch weitere dieser Ungeheuer, geschickt die Schatten ausnutzend. Entsetzt erkannte sie, daß es sich bei den Angreifern nicht um gefährliche, dumme Tiere, sondern um intelligente Jäger handelte. Ganz bewußt spielte der eine den Lockvogel, damit seine Jagdgefährten aus dem Dunklen unbemerkt und blitzschnell zuschlagen konnten. Ihre Stimme überschlug sich vor Panik, als sie dies den Gefährten mitteilte.
„Achtung, links und rechts nähern sich noch mindestens zwei von den Drecksviechern! Das ist eine Falle!“
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Klaus-Peter Behrens).
Der Beitrag wurde von Klaus-Peter Behrens auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.01.2011.
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