Diethelm Reiner Kaminski

Großmutters Geheimnis



Die Standuhr unserer Großmutter hatte uns durch unsere Kindheit und Jugend begleitet. Stumm. Nie hatten wir sie ticken und schlagen hören. Nie hatte sich der lange Perpendikel bewegt. Wenn man jung ist, achtet man nicht auf Kleinigkeiten, aber nachdem meine Oma schon lange tot und die Uhr in den Besitz unserer Familie übergegangen war, wusste ich plötzlich, dass das „nie“ falsch war. Ich muss drei oder vier gewesen sein, als die Standuhr für immer verstummte, und dieser Zeitpunkt fiel mit dem Todesjahr meines Großvaters zusammen, an den ich mich kaum erinnere. So muss es gewesen sein: Meine Großmutter hielt die Uhr an dem Tage an, an dem ihr Mann gestorben war und weigerte sich, sie wieder in Gang zu setzen, wie wenn die Seele ihres Mannes in die Wanduhr geschlüpft sei und nicht gestört werden durfte. Oder sie betrachtete die Uhr als Symbol fortwährender Trauer, die sie anders nicht zeigen konnte oder wollte. Das alles sind Vermutungen, denn meine Großmutter sprach nie darüber, mit uns Kindern schon gar nicht. Wie oft bedrängten wir sie, die Uhr reparieren zu lassen, oder später, als wir uns technisch schon einiges zutrauten, uns zu erlauben, die große Glastür zu öffnen und selber zu versuchen, die Uhr wieder auf Trab zu bringen. Doch Großmutter sagte rigoros. „Das geht nicht. Die ist kaputt.“ Oder: „Lasst die Finger von der Uhr. Kümmert euch um euren eigenen Kram.“ Einmal war sie bitterböse, als sie meinen Bruder Günter neben der geöffneten Uhr ertappte. Sie sprach eine Woche nicht mehr mit ihm. Und da wir unsere Großmutter sehr liebten, die uns mit Räuberpistolen und  vielen kleinen und großen Geschenken verwöhnte, die keinerlei praktischen Nutzen hatten, gingen wir dieses Risiko nie wieder ein. Nach und nach waren wir uns immer sicherer, dass irgendetwas in dieser Uhr versteckt sein müsse. Ihr Erspartes? Ihr Testament? Das Foto eines ein Leben lang vor ihrem Mann verheimlichten Geliebten? Sie schürte dieses dunkle Geheimnis, indem sie uns immer wieder einschärfte. „Eins müsst ihr mir versprechen. Rührt bitte die Uhr nicht an, wenn ich nicht mehr bin. Lasst sie, wie sie ist. Glaubt mir, es ist besser so.“
Wir versprachen es hoch und heilig und brachen das Geheimnis noch am Tag ihres Todes. Zu stark war unsere Neugier, das Geheimnis der Standuhr endlich zu lüften.
Eingezwängt zwischen Uhrwerk und Zifferblatt entdeckten wir ein leeres Fläschchen, nichts weiter. „Zyankali“ stand in akkurater schwarzer Tintenschrift unter einem handgemalten Totenkopf mit gekreuzten Knochen auf dem vergilbten Etikett.
Unsere Herzen klopften. War unsere Großmutter eine Mörderin? Hatte sie Großvater vergiftet? Ein anderer Todesfall war bisher in unserer Familie nicht vorgekommen. Nachdem wir den Fund unseren Eltern gestanden hatten, meldeten sie diesen pflichtgemäß der Polizei. Die kriminaltechnische Untersuchung ergab, dass niemals Zyankali in dem Fläschchen gewesen war, nur völlig harmloser Hustensaft. Wir waren enttäuscht. Großmutter liebte es, sich mit einer Aura des Geheimnisvollen zu umgeben. Offensichtlich wollte sie sich auch im Tode noch interessant machen und so erreichen, dass wir sie noch lange in Erinnerung behielten.
Diese Eigenschaft muss sich auf mich vererbt haben, denn die Geschichte von der stummen Standuhr mit der Giftflasche habe ich erfunden. Von Anfang bis Ende. Nur um meine eigentlich langweilige Familiengeschichte ein wenig interessanter zu machen. Meine Großmutter und die Standuhr hat es aber wirklich gegeben. Großmutter konnte es jedoch auf den Tod nicht leiden, wenn eine Uhr stillstand. Als die Standuhr einmal streikte, hat sie sie eigenhändig repariert. Und sie tickt und schlägt noch heute, ohne auch nur eine Minute vor- oder nachzugehen.
 

 

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