Aleksandar Gievski

Dunkles Wasser unter dünnem Eis

Der zwölfjährige Tom Cane kommt voller Energie durch die Haustüre gestürmt und schmeißt seine neue Schultasche in den vor ihm liegenden Gang. Tom schreit „Mom? Dad? Seid ihr zuhause? Ich geh Schlittschuhfahren! Ach, ihr seid ja in der Arbeit.“,  während er sich seine Stiefel und seine Jacke auszieht. Er geht durch die Tür die sich gleich rechts von ihm befindet, die erste nach der Eingangstür, in die Küche. Er holt sich aus dem Kühlschrank ein Tablett mit Wurst und Käse, legt es dann auf die Arbeitsplatte um sich belegte Brote zu schmieren.
Für seine zwölf Jahre weiß er genau was er macht da seine Eltern beide berufstätig sind und es sehr oft vorkommt, dass er sich allein sein Essen zubereiten muss. Was für ihn weiter nicht schlimm ist, denn er genießt die Zeit alleine zuhause und weiß ja ganz genau, dass seine Eltern pünktlich zwischen halb fünf und fünf eintrudeln.
So wie er sich das geschnittene Brot aus dem Brotkasten nimmt, nimmt er sich auch einen Zettel vom Zettelblock und einen Stift aus dem Becher von der Fensterbank vor ihm.
 

MOM & DAD
Bin am Waldsee beim Schlittschuhfahren. Bin so um 5:00 Uhr wieder zuhause.


Es ist der letzte Schultag vor den Winterferien und Toms Lehrerin hat die Klasse vor dem regulären Unterrichtsende entlassen. Aus dem Grund ist er viel früher zuhause als sonst. Warum die Zeit nicht nutzen, denkt er sich. Die Schnitten sind schnell gemacht und in Brotpapier eingewickelt, bis auf eine die er sich gleich in den Mund schiebt. Mit der Schnitte im Mund packt er seine Schultasche und rennt damit rauf in den ersten Stock, in sein Zimmer, um seine Schlittschuhe und seinen blauen Rucksack zu holen. Den Rucksack auf dem Rücken, die Schlittschuhe über seine Schultern hängend und eine etwas ältere, rote Winterjacke an, kommt er die Treppe wieder herab gedüst, um sich auf schnellste Weise seine dicken Winterschuhe anzuziehen und sich dann auf den Weg zu machen.

Der Waldweg der zu dem kleinen See führt ist komplett zugeschneit. Man erkennt ihn nicht mehr als diesen nur dass die hohen Fichten die sich links und rechts davon befinden eine Schleuse errichtet haben die einen zum Ziel führen.
Fast hypnotisch hört der kleine Tom dem Knirschen unter seinen Sohlen zu, bei jedem Schritt den er macht. Mist ich hab meine Mütze vergessen, denkt sich Tom. Aber so kurz vor dem Ziel wollte er auch nicht mehr umdrehen und außerdem ist es für die Jahreszeit wärmer wie es sein soll. Von Weitem schon, durch die Bäume durch, sieht er den See. Jemand ist auf die gleiche Idee gekommen wie er. Die Person die auf dem Eis ihre Runden dreht ist aus dieser Entfernung nicht zu erkennen. Man sieht nur eine Gestalt, fast schon geisterhaft, zwischen den Bäumen durchflimmern und immer wieder aufflackern. Tom geht weiter, denn er weiß, dass der Platz leicht für Zwei reicht. Der See ist nicht größer wie ein halber Basketballplatz und ist im Sommer nicht mal zum Baden geeignet, wegen den ganzen Ästen und Baumstämmen, die auch jetzt aus dem Eis herausragen, und das Schwimmen unmöglich machen. Er nähert sich dem Ufer und erkennt langsam die Person die sich elegant über das Eis bewegt. Ein hübsches Mädchen, ungefähr in seinem Alter, mit langen schwarzen Haaren die wellenartig ihre Bewegungen mitmachen. Sie trägt einen dieser Glitzeranzüge die beim Eiskunstlauf üblich sind. Tom hockt sich auf einen Baumstumpf und entknotet seine Schlittschuhe. Unerwartet spritzt ihm Schnee ins Gesicht und zwingt ihn dazu sein Gesicht mit seinen Händen zu schützen. Er reibt sich die Augen frei während das hübsche Mädchen sich vor ihm aufbaut. Sie hat ihn durch eine Vollbremsung völlig mit Eisschnee eingehüllt.

„Hey, was soll‘n das?“, fragt Tom. 
„Ich will nicht, dass du hier fährst“, schnauzt ihn das Mädchen, mit einem fiesen Ausdruck im Gesicht, an.
„Und warum bitte nicht?“
„Weil du‘s eh nicht kannst“,  antwortet ihm das hübsche Mädchen mit einem lässigen Unterton bevor sie wieder weiter fährt. 
Obwohl sich Tom von ihr eingeschüchtert fühlt, möchte er trotzdem fahren. Er hat sich die ganze Zeit schon drauf gefreut. Der zeig ich es, sagt er sich selbst und springt dann mit energischen Schritten Richtung Eis. Sein Plan ist es mit einem weiten Sprung über einen verfaulten Stamm der am Rand liegt und ihm den Weg versperrt, auf das Eis aufzusetzen und elegant nach einer 180° Drehung rückwärts weiter zu fahren. Weit , weit und hoch springt er drauf los. Doch die Sache geht schnell daneben und er rutscht mit seiner ersten Berührung der Kufen auf dem Eis weg. Es erinnert an Slapstick Einlagen von Stummfilm Komödianten wie Dick und Doof. Mindestens drei Sekunden lang kann er seinen schwankenden Tanz halten bis nicht doch das Unvermeidbare passiert. Seine Füße zieht es nach vorne weg in die Höhe und er landet ungebremst und mit voller Wucht auf dem Rücken und seinem Hinterkopf. Er liegt nur noch flach da, sein Blick zeigt Richtung Himmel. Um ihn herum scheint alles in einer merkwürdigen Stille einzutauchen. Er kriegt nur schwer Luft und kann sich nicht mehr bewegen. Es wird ihm schwarz vor Augen, die Dunkelheit entsteht in seinem äußeren Sichtfeld und arbeitet sich langsam den Weg zur Mitte vor. Für ihn nur noch die Silhouette des Mädchens, kommt angefahren und beugt sich über ihn. „ Ich hab‘s dir ja gesagt… hättest lieber auf mich gehört. Komm, ich helf dir.“
  
Tom und das Mädchen, das übrigens Hahrja heißt, gehen nebeneinander, schlendernd durch den Wald. Obwohl sich die beiden gerade erst kennengelernt haben, verstehen sich die Zwei wie alte Kumpels. Sie schieben mit ihren Füßen den Schnee vor sich hin und reden über Videospiele. 
„ Super Mario Galaxy ist schon cool aber Paper Mario hat was klassisches, und dass man zwischen den Dimensionen wechseln kann macht die Sache noch cooler“, erzählt ihm Hahrja.                                  
„Ist schon cool, da gebe ich dir recht aber die Grafik bei Galaxy ist von ganz anderen Spielen noch nicht übertroffen worden und die uneingeschränkte Bewegungsfreiheit macht die Sache einfach frei.“ 
„Und deshalb geht der Spielspaß verloren weil alles so offen ist und mit der Zeit anstrengend wird.“ 
„Ach, kommt auf die Routine an.“ Beide werfen sich in dem gleichen Moment ein kurzes Lächeln zu.
„Wie weit ist denn noch bis zu dir nachhause?“, fragt Tom. „Nicht mehr weit. Siehst du diesen Kanal da?“ Sie zeigt mit dem Finger auf einen eckig betonierten Kanal der sich ein Stück weiter im Wald befindet und neben ihrem Weg entlang fließt. „Ja klar“, antwortet Tom. „Dem müssen wir folgen.“
Nach ein paar weiteren Videospiel- und Trickfilm-Diskussionen bemerkt Tom, dass in einigen Metern der Kanal nach rechts in den dichten Wald verschwindet. Tom bleibt in der Biegung stehen und schaut, dem ungefähr zwei Meter breiten, kerzengerade in den Wald verlaufenden Kanal nach. Durch die endlose Länge des Kanals und durch den dichten, dunklen und ein wenig angsteinflößenden Wald, bekommt Tom ein sehr flaues Gefühl im Magen. Wie sollen wir am Kanal langgehen wenn kein Weg da ist?, denkt sich der Junge. „Komm jetzt Tom! Hier geht es lang, es ist nicht mehr weit!“ ruft ihm Hahrja zu, bevor sie zwischen dem Bäumen und dem Gestrüpp verschwindet. Die wird schon wissen was sie tut,  denkt er sich erneut. Unter anderen Umständen würde er nicht in den Wald gehen, denn es gibt viele böse Geschichten über den Wald. Aber er kann ja auch nicht vor einem Mädchen als Angsthase dastehen und außerdem hat sie ihm eine heiße Schokolade versprochen wenn sie ankommen. Er folgt ihr durch das Gestrüpp. Er sieht nicht wirklich wohin er geht, denn Äste und Zweige peitschen ihm ins Gesicht. „Warte!“, schreit Tom aber Hahrja erhöht das Tempo noch auf Laufschritt. Hohe Büsche muss er teilen und überwinden. Angst durchströmt ihn, sie nicht mehr einzuholen. Er läuft und läuft aber es scheint so als ob er ihren Schritt nicht halten kann. Vor lauter Verzweiflung streckt er unterm Laufen seinen rechten Arm nach ihr aus und versucht erneut zu rufen, doch es kommt nur ein luftringendes Keuchen aus ihm heraus, das Stopp! bedeuten soll. Doch in diesem Moment als er sich denkt, er kann nicht mehr, und sich aufgeben möchte und einfach stehen bleibt, ist er angekommen. Die Welt aus Büschen, Bäumen und Ästen die ihm entgegen peitschte wurde zu einer fr! eien Lic htung mitten im Wald auf der ein altes Haus steht. Hahrja steht neben ihm mit einem dicken Grinsen im Gesicht und ohne den Anschein zu erwecken irgendwie abgekämpft zu sein. Tom dagegen hat seine Hände auf die Knie gelegt und schnauft wie eine kleine alte Lokomotive. „Hier ist es Tom, hier werden wir warten.“ Diese Worte kommen mit einem kranken Unterton aus Hahrjas Mund aber Tom hat sie gar nicht wahrgenommen und geht ihr einfach hinterher in Richtung Haus.
 
Umso näher sie dem Haus kommen, desto lauter wird es. Es sind Turbinen aus dem Inneren des Gebäudes, die den Lärm verursachen. Sie werden vom Kanal angetrieben der in der Mitte des Gebäudes, unten durchfließt und auf der anderen Seite wieder heraus kommt. Man könnte fast denken, das Wasser würde vom Haus verschlungen. Der Turbinenraum befindet sich ebenerdig und wird von drei Fenstern mit Licht versorgt die aber so verschmutzt sind, dass man nicht hinein sehen kann. Die beiden müssen über eine alte Holzbrücke gehen auf der schon einige Bretter fehlen, um zu der Eingangstür zu gelangen. 
Der raue Putz des Gebäudes und der gelbe Anstrich erinnern an ein altes Bauernhaus wie man es aus Heimatfilmen kennt. Das Flair wird durch die alte Holzbank links von der Tür und den Rosenstrauch dahinter nochmal unterstrichen. Eigentlich ein sehr schönes Haus wäre nur nicht diese Einsamkeit die das Gebäude umgibt. Hahrja hält einen einzelnen großen Schlüssel in der Hand mit der sie die schwere Holztür öffnet. Hinter der Holztür rechts befindet sich eine weitere Tür, die vermutlich zu den Turbinen führt und links geht eine schmale Treppe nach oben in die Wohnung. „Komm mit“, sagt Hahrja und geht die Treppe hinauf die bei jedem Aufsetzen ein jammerndes Quietschen von sich gibt. Oben geht‘s nochmal um 180° rum in einen kurzen Gang. Rechts vom Gang steht ein hoher Schuhschrank und auf dem Boden liegt ein bunt gestreifter, durchgelaufener Teppich der mit Turnschuhen, Schlappen und Gummistiefeln vollgestellt ist. Gegenüber vom Schrank ist eine Halbglastür mit undurchsichtigem, rundgeschliffenem Glas.           
Hahrja schaltet das Licht ein. „Zieh dir bitte die Schuhe aus“, sagt sie ihm. Sie ziehen sich beide die Schuhe aus dann geht sie als erste durch die Tür. Sie stehen in der Wohnküche. Links die Küchenzeile mit Hängeschränken, geradeaus noch eine Tür, rechts unter dem Fenster eine Eckbank mit Tisch davor. Tom geht zuerst zu dem Fenster. Er sieht wie der Kanal aus dem dichten Nichts kommt und direkt unter ihm wieder versch! windet. „Willst du Zucker zu deiner Schokolade?“  Tom dreht sich geschwind um. „Ein bisschen nur“, antwortet er und setzt sich dann auf die Eckbank. Er mustert den Raum während sie mit dem Geschirr klimpert. „Oh man, so ein Scheiß. Du, ich komm gleich wieder, ich muss nur mal schnell was holen. Bin aber gleich wieder da.“ Hahrja verlässt den Raum ohne Tom nochmal einen Blick zu zuwerfen. Vielleicht wollte er ihr noch was sagen doch sie war zu schnell weg. Und jetzt sitzt er da.

Eine unheimliche Ruhe macht sich im Zimmer breit. Es ist so leise geworden, dass Tom sich selbst atmen hören kann. Er sitzt noch wenige Minuten, mit abgestütztem Kopf auf der Eckbank bis ihm etwas, eigentlich Unnormales auffällt. Er merkt gerade, dass er außer seinem eigenen Atem nichts anderes mehr hört. Er hebt sein Kopf und schaut nach links zum Fenster. Obwohl die Fenster so alt sind und jedes Geräusch durchlassen müssten, hört er nichts. Nicht einmal das laute Vogelgezwitscher was sie den ganzen Weg über begleitet hat. Und wo sind die Turbinen die sich keine zwei Meter unter ihm befinden, die beim vorbei gehen so einen Lärm von sich gegeben haben, dass man sich fast nicht unterhalten konnte. Doch das Schlimmste was ihn unerwartet mit  Angst erfüllt ist ihm erst jetzt klar geworden: er kann Hahrja nicht mehr hören. Im gleichen Moment springt er reflexartig auf und ruft „Hahrja!“ Ein lauter Knall gefolgt von einem hellen Licht der das ganze Zimmer zum Strahlen gebracht hat und die Stille zerreißt, zwingt ihn in die Deckung. Der kleine Tom steht starr vor Angst in gebeugter Position und mit den Händen über dem Kopf da. Nur langsam kann er sich überwinden seine Arme runter zu nehmen, um zu schauen, was denn passiert ist. Es ist dunkel geworden. Oder? Nicht dunkel. Es ist Nacht.

Der Junge hat so viel Angst, dass er nicht mal mehr weiß, was er zuerst machen soll, sich bepinkeln oder anfangen zu weinen. Er sieht wieder durch das Fenster und kann es kaum glauben. Das Mondlicht scheint herein und der, bis vor wenigen Sekunden noch taghell leuchtende Himmel ist übersät mit Sternen. Sein Blick wandert durch den Raum. Seine Augen passen sich nur langsam der tiefen Dunkelheit des Raumes an, doch die Umrisse der Küchenschränke werden sichtbar. Alles scheint normal nur bei der Halbglastür durch die sie gekommen sind hat sich etwas verändert. Es sieht so aus als zeichneten sich die Umrisse einer großen, stämmigen Person ab. Nicht wirklich zu erkennen, nur wie ein Schatten in einer dunkleren Umgebung. Soweit das möglich ist. Seine Sprache ist verstummt und er will in diesem Moment auch nichts sagen. Sein einziger Gedanke ist: Weg von hier! Vor dem Tisch möchte er nicht entlang denn da würde er der Gestalt zu nahe kommen. Er entschließt sich, über die Eckbank zu klettern und durch die zweite Tür in den nächsten Raum zu verschwinden. Sein Herz schlägt so heftig, dass er das Trommeln in seinen Ohren vernehmen kann. Mit einer katzenähnlichen Geschmeidigkeit tastet er sich über die Bank hinweg zur Tür. Das Bild von der noch hellen Küche, die er sich eingeprägt hat, hilft ihm dabei, nur sein Blick verlässt nie die regungslose Gestalt vor der Halbglastür. Nicht einmal dann als er die Tür erreicht und rückwärts durch sie hindurch geht. 

Der Raum ist schwach mit einem dumpfen Rot beleuchtet. Er schließt die Tür ganz sachte und horcht zur Sicherheit ob sich auf der anderen Seite nicht etwas bewegt. Für einen kurzen Moment kann er entspannen. Ihm ist klar, dass er der Küche entkommen ist aber was würde ihn hier erwarten. Ohne die Türklinke loszulassen dreht er seinen Kopf vorsichtig nach links in Richtung Raummitte. Es ist das Schlafzimmer. Ihm gegenüber steht das große Elternbett, mit zwei hölzernen Nachtkästchen an den Seiten,  auf der jeweils eine brennende Kerze steht. Die Bettdecken und die Kissen sind perfekt auf dem Bett arrangiert. Darüber hängt ein postergroßes Familienportrait. Rechts vom Bett steht, ganz an der Wand, ein schwerer, alter zweitüriger Kleiderschrank aus massiver Eiche, der bis zur Decke reicht. Durch den ausgearbeiteten Kranz des Schrankes, der sich von oben im Efeumuster nach unten schlängelt und die mit Rosenblüten verzierten Türen umrahmt und durch die Größe wirkt er wie ein Portal, das unbedingt geöffnet werden möchte. Tom lässt die Türklinke los und dreht sich zum Schrank, damit er ihn besser sehen kann. Er sieht, dass an der Spitze des Kranzes der aus Holz geschnitzte Efeu etwas umwickelt. Ein Totenkopf der schräg nach unten schaut. Man könnte denken, er überprüft die Leute die vor ihm stehen. Tom kommt aus dem Starren nicht mehr raus. Je länger er hinschaut desto schneller verschwinden auch seine Gedanken aus seinem Kopf. Angezogen von dem Ding macht Tom kleine Schritte darauf zu. Wie durch fremde Beeinflussung streckt er seinen Arm danach aus als wollte er ihn von Weitem schon öffnen. Wehrlos mit weit geöffneten Augen und einer Strenge im Gesicht stampft er weiter. Doch als er vor dem Bett steht schreit aus dem Nichts eine laute Stimme „ Bleib stehen!“ Schnell aufgewacht aus seiner kurzen Trance dreht er sich in alle Richtungen, um zu sehen wer gerufen hat aber der Raum ist immer noch leer. „Hahrja, Hahrja warst du das?“, fragt Tom den leeren Raum. „Ich hab doch gesagt, ich bin gleich wieder da“, antwortet ! die Stim me aus dem Nichts. Tom versucht die Richtung der Stimme zu lokalisieren und landet dabei, mit seinem Blick auf dem Familienportrait, das über dem Bett hängt. Auf dem Bild ist ein junges Ehepaar zu sehen, die gemeinsam ein Baby halten. Vor den beiden Erwachsenen steht Hahrja, die den Arm des Mannes festhält. „Wo bist du? Wieso ist das Licht ausgegangen?“, fragt Tom mit großer Verzweiflung in der Stimme. „Na hier bin ich du Doof-Dödel.“ Tom kann seinen Augen nicht trauen. Das Mädchen auf dem Bild lässt den Arm los und geht einige Schritte vor bis zum Bildrand. Sie wird nicht größer wie bei Leuten im Fernsehen die näher an die Kamera kommen, doch trotzdem macht es den Anschein als ob man grad in einen blickt. „Ich hab dir doch gesagt, dass du warten sollst“, fängt Hahrja an „Du bist aber aufgesprungen und wolltest gehen. In die Dunkelheit. Sie ist sehr gefährlich. Stock und Stein zermahlt dir dein Gebein. Denn Sie können dich sehen in der schwärzesten Nacht, ach was sag ich, sie sind die Nacht. Die Dunklen. Ohne richtige Gestalt. Nur ihre Augen funkeln immer hell wie die Sterne. Wie Sterne - alles dunkel mit hellen Punkten. Aber Angst brauchst du noch keine haben in diesem Haus. Ich glaube nicht, dass sie dich holen aber sie müssen noch sehen was die Waage ihnen sagt.“ „Was redest du denn da? Ich will nachhause!“, überkommt es den kleinen Jungen mit weinender Stimme und Tränen im Gesicht. „Mach dir keine Sorgen, es dauert nicht mehr lange, dann komm ich und hol dich ab“, verspricht ihm Hahrja noch auf dem Weg zurück zu dem Mann dessen Arm sie wieder fest umklammert, um dann wieder in dem Bild zu erstarren.  
        
Tom steht da ohne jede Hoffnung. Was soll ich jetzt nur tun?  Er kann seine Gedanken nicht mal zu Ende denken, da verspürt er etwas an seinem rechten Bein. Ein leichter Druck als ob ihn jemand heimlich packen wollte. Als er runter schaut, sieht er nicht was das sein soll. Er geht einen Schritt zurück und merkt, dass der Druck größer wird. Er reagiert mit mehr Kraft und zieht etwas unter dem Bett hervor. Ein Schatten der sich an sein Bein festgeklammert hatte? Ein Schatten der sich bewegen lässt, mit dem Körper eines Menschen? Zu Neuem erschrocken springt Tom mit lautem Schrei in die Höhe, tritt gegen das Nichts am Boden, um sich zu befreien, was ihm auch gelingt. Beim letzten Schlag gegen den Kopf des Wesens lässt es ihn los, es reißt sich aber mit beiden Händen seinen Kopf nach hinten. Ein Zischen ertönt während das passiert. Es schauen ihn jetzt zwei funkelnde, weiße Augen an die ihm Wut signalisieren.                                                                  
WEG!  Der Fluchtinstinkt, aufgepumpt mit Adrenalin, lässt ihn schreiend loslaufen. Vergessen, das ähnliche Wesen in der Küche, rennt er durch die Tür mit schlackernden Armen. Durch die Küche durch, ohne zu bremsen wieder durch die Halbglastür. Er bemerkt in seiner Flucht nicht mal, dass die Küche hell erleuchtet gewesen ist und dass er in den dunklen Gang rennt. Er stürzt fast die Treppe runter aber er kann sich noch abfangen. Endlich, die Eingangstür. Aber sie ist verschlossen. Er zieht und drückt, haut und tritt dagegen doch es hilft nicht. Durch sein Hin- und Her Gehüpfe kommt er zufällig gegen die Tür die zum Turbinenraum führt, die sich öffnet und ihn nach hinten hinein befördert. Auf dem Rücken liegend und nach Luft ringend muss er sich erst neu orientieren.         
Links von ihm befinden sich die zwei raumhohen Turbinen, die so einen Lärm von sich geben, dass einem die Gedanken flackern. Er sieht aber nur die Umrisse in der Dunkelheit. Daneben sind die Fenster, die er von draußen schon gesehen hatte. Er springt schnell auf und rennt zu ihnen hin. Er hat wieder kein Glück. Die Fenster sind so in die Wand eingelassen dass man sie nicht öffnen kann. Sie dienen nur dem Zweck, mehr Licht in den Raum zu lassen. Tom möchte aber nicht aufgeben und wirft sich mit voller Wucht dagegen. Wieder und wieder und wieder, bis er sich nicht den Kopf stößt und flach auf dem Boden, vom Mondlicht das durch das Fenster scheint angestrahlt, daliegt.           
Die Turbinen verstummen langsam. Nach einer Zeit ist es sogar ganz leise. Eine herrliche Ruhe und Tom überkommt ein warmes Gefühl, fast schon wie Geborgenheit. Wenn das jetzt so bleibt dann könnte er liegenbleiben und seine Kräfte sammeln, um aus diesem grässlichen Haus zu entkommen. Er denkt über seine Eltern nach -Die machen sich bestimmt schon Sorgen- die schon seit Stunden zuhause sein müssten, wenn man nach der Tageszeit geht die sich beim rausschauen aus dem Fenster ergibt. Er verflucht es, dass er mit Hahrja mitgegangen ist. Wieso hat er das überhaupt gemacht? Er weiß nicht mal mehr, wie er mit ihr ins Gespräch gekommen ist. Sie ist schuld, entschließt Tom. Unerwartet und aus der Dunkelheit des Raumes hört Tom ein Flüstern zwischen zwei Personen. Er hockt sich hin und schiebt sich unter eins von den Fenstern. Was geflüstert wird kann er nicht verstehen. Dann, aus einem anderen Eck noch mehr Stimmen. In kürzester Zeit werden es immer mehr. Ein Durcheinander das immer lauter wird. Der Raum scheint sich zu füllen. Die Stimmen drängeln sich direkt rein. Je mehr Stimmen desto weniger Hemmungen, einige schreien jetzt schon. Sie versuchen sich gegenseitig zu übertönen. Von Weitem kann er sogar eine Sirene wahrnehmen. 
Tom hält sich mit seinen Händen die Ohren zu, schließt die Augen und schreit so laut wie er nur kann. Plötzlich, ein Schlag mit der flachen Hand in sein Gesicht. Er reist die Augen wieder auf. Der Turbinenraum ist hell erleuchtet, aber durch die Sonnenstrahlen die von draußen durch das Fenster scheinen unter dem er sitzt. Die Turbinen sind auch wieder so laut wie davor. Die kleine, hübsche Hahrja steht über ihm. 
„Hey, was ist los mit dir?“, fragt sie. 
„Wo bin ich?“ 
„Komm jetzt. Wir müssen gehen.“ 
„Wohin denn?“
„Na weiter, oder willst du für die Ewigkeit hier bleiben?“ 
„Nein, nein wirklich nicht. Ich komm schon mit.“ 
Tom rappelt sich auf und stellt sich hin. Sie schaut ihn mit einem strahlenden Lächeln an und vermittelt zugleich eine spürbare Freundlichkeit. Sie nimmt ihn an der Hand und führt ihn bis zur Tür, wo sie sich gegenüber stellen. „Jetzt geht’s nachhause“, sagt Hahrja und öffnet die Tür in der ein grelles Licht erscheint. Sie zieht Tom mit durch die Tür in das Licht.

Der Krankenwagen fährt gerade vom Waldsee gen Stadt. Den Weg zurück, den der kleine Tom benutzt hat, um zum See zu gelangen. Eine Schar von Leuten hat sich um den See versammelt. Überwiegend Polizisten. Ein Reporter steht, weiter weg von den Leuten, mit einem Polizisten vor dem abgegrenzten Bereich und redet, er macht sich Notizen.  

„In dieser Woche hatten wir einfach zu hohe Temperaturen. Das Eis war einfach zu dünn“, sagt der Polizist.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.02.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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