Felix M. Hummel

Sechs Kugeln

Es war still und doch glaubte er zu hören, wie jeder seiner Schritte auf dem Asphalt, der nur von einer dünnen Scheeschicht bedeckt war ein pochendes Geräusch erzeugte. Ein Klopfen, dass in dem langen Korridor aus mehligem Himmel und den Wänden von kahlem Holundergestrüpp tausendfach wiederhallte und sogar das sachte Gurgeln des Kanales neben dem Weg übertönte. Sonst gab es nichts. Die Autobahn, mit ihrem ständig schreienden Blutfluss tat nichts zur Sache.

Er hatte den Blick fest auf seine Füße gerichtet, wenn er nach vorne sah, machte es ihn nur unsicher. Kleine Schneebröckchen fielen bei jedem Schritt von seinen Schuspitzen und landeten einige Zentimeter, bevor er seine Fuß erneut absetzte, vor ihm. Immer und immer wieder, mit jeder Sekunde, die er seinen Weg fortsetzte, waren sie ihm schon einen Schritt vorraus. Er wusste, dass es lächerlich war, er wusste, dass es darum nicht ging, aber allein die Symbolkraft, die diese harmlosen Eiskristalle ausstrahlten, machte ihn zornig. Darum hob er den Kopf wieder und schaute auf das im Dunst verborgene Ende des Weges. Es war nicht sein Ziel, er musste vorher abbiegen, aber es war ein guter Punkt, um sich festhalten zu können.

Er biss sich auf den Zeigefinger und zog die linke Hand aus dem Handschuh. Flüchtig sah er auf die Uhr, fünf vor zwölf, dann tastete er prüfend über die Tasche seines Anoraks. Der harte, unförmige Gegenstand, der in seiner Handfläche lag, gab ihm für einige Minuten neue Sicherheit, bis ihm milde Kälte in die Finger schnitt und er sie wieder verbergen musste.

Es war viel zu hell. Es hätte Nacht sein sollen, und es war ein Weg, auf dem es keine Straßenlaternen gab. Der Schnee hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Jene lange erwartete, weiße Pracht, die so kurz nach Weihnachten endlich eingetroffen war, sie warf das kränkliche, orange Licht der Natriumdampflampen, die in der sehr nahem Stadt die Straßen säumten, zurück in die Luft, als wollte sie ihm Sand in die Augen streuen.

Endlich zweigte der schmalere, aber ebenfalls geteerte Fahradweg in das offene Feld ab. Genau bis zur Mitte wollte er noch gehen, bis sich der Strommast und die alte Eiche bei dem Schuppen hinter der Brücke überschnitten. Von da aus konnte man die Stadt und das Dorf, welches er nun, den Berg hinauf, vor sich hatte, gut einsehen. Immerhin, er wollte keine zusätzlichen Unannehmlichkeiten verursachen, die ein Ort näher oder weiter weg von einer Siedlung für sich gehabt hätte. Natürlich, eigentlich hätte es ihn überhaupt nicht zu kümmern brauchen, aber schließlich konnte sich doch jeder um nichts scheren, weshalb es irgendjemand doch tun musste. Manche kümmerten sich eben bei so einem Schritt mehr um sich selbst als um andere. Er war der Meinung, wenn man das egoistischste tat, was man überhaupt tun konnte, dann sollte man es seiner Umwelt so leicht wie möglich machen. Er hatte für alles gesorgt:

Er hatte nicht geredet, sich hoffentlich auch nichts anmerken lassen. Er hatte alle ausstehenden Rechnungen beglichen, sogar die GEZ nachgezahlt, den Kühlschrank geleert, enteist und abgestellt, schließlich auch die Wohnung geputzt, alles Alte entsorgt und alles brauchbare in Umzugskartons verpackt.

Er zog, erneut mit den Zähnen, beide Handschuhe aus und steckte sie in die rechte Jackentasche. Ebenso feierlich nahm er die Mütze vom Kopf. Dann öffnete er den Reißverschluss der linken Tasche und ließ die Hand hineingleiten. Mit einem entspannten Seufzen schloss er seine Finger um den Griff und zog den kleinen Revolver hervor. Es war nicht leicht gewesen an so etwas zu kommen. Es verstand sich ja von selbst, dass es legal hatte sein müssen, schließlich wusste er nicht, wie genau die Rechtslage sein würde, wenn etwas schief laufen sollte.

Ja, genau, auch wenn etwas nicht ganz funktionieren sollte, war der Platz hier sehr gut gewählt. Er blickte hinauf zum Dorf, dann zur Stadt hinter sich und schließlich über die fernen Äcker, die sich zu seinen beiden Seiten erstreckten. Weit genug, wenn er nur leicht fehlte und nah genug, wenn es ganz schlimm werden sollte.

Ei sanfter Wind kam auf, ein Rascheln kroch träge durch die Holunderäste unten am Hang, am Kanal vor der Stadt. Eigentlich war alles gar nicht schlecht, dachte er. Finanziell lief alles gut, er hätte sich mehr leisten können, als er bisher immer getan hatte. Er wusste selbst nicht worauf er sparte. Auch der Familie ging es gut, sein Freundeskreis, auch wenn er ihn als „oszilierend“ zu bezeichnen pflegte, taugte für geistreiche Gespräche ebenso wie für Erhohlung. Die Arbeit war einfach nur stinklangweilig. Nicht mehr und nicht weniger, also keine Katastrophe. - Doch. Sie war so langweilig und er empfand sie als so sinnlos, dass es ihn jeden Tag aufs Neue davor graute. Sie trug also einen Teil dazu bei, das musste er nun zugeben.

Die Liebe. - Davon gab es keine. Hatte es nie gegeben. Jedenfalls keine, die zu irgendwas geführt oder jemals ausgesprochen worden wäre. Obwohl er es gewollt hatte, er kaum einen richtigen Versuch dazu gemacht. Es schien ihm so unendlich kompliziert und unergründlich, das er dahinter immer eine Art Magie, die man entweder auf Anhieb verstand oder niemals in deren Genuss kam, vermutet hatte. Mit jedem Jahr das mehr verstrich, wurde er sich in dem Gedanken sicherer, dass es eigentlich für ihn keine Hoffnung auf Liebe gab. Es war seine eigene Schuld, er konnte es einfach nicht und wenn er sich noch so nach einem Mädchen verzehrte. Der Gedanke an so etwas wurde mit der Zeit so großartig, so göttlich, das er sich nicht mehr würdig fühlte überhaupt noch einen Schritt zu tun.

Nun war es eben so weit. Schlecht war es sicher nicht. Er hatte alles noch einmal nachgeschlagen, sich aber gerade noch zurückhalten können einen Zettel mit Stichpunkten mitzubringen. Auch den bereits fein säuberlich auf teurem Papier abgefassten Abschiedsbrief hatte er im letzten Moment doch noch verbrannt. So etwas war einfach nicht nötig.

Mit einem weiteren entspannten Seufzer schloss er beide Hände um den Revolver und ließ die Trommel, um eine letzte Kontrolle durchzuführen, heraus schnappen.

Alles sechs Kammern waren leer.

Er knickte mit dem Knien ein als hätte er einen Schlag in die Magengrube bekommen, konnte sich aber noch fangen bevor er auf den Boden krachte. Ein übles Drücken in seiner Kehle, ein bodenloses, kraftloses Gefühl im Magen und allen Gliedern drohte ihm, dass er sich gleich übergeben würde. Sein Kiefer hing schlaff herunter.

Welcher Teufel hatte die Kugeln herausgenommen? Alle sechs! Wahrscheinlich lagen sie, fein säuberlich in einer Reihe, zu Hause auf einem der Kartons und warteten darauf in die Kammern geschoben zu werden. Wie konnte er nur so dumm sein? Wie immer! Wie immer und an jedem einzelnen Tag machte er nie etwas falsch, nur dann wenn es um ihn selbst ging, dann lief es nicht.

Mit einem Schrei schleuderte er die Waffe in hohem Bogen von sich. Im selben Moment sprang er hinterher über den verschneiten Acker und versuchte panisch auszumachen wo sie aufgeschlagen war. Seine Hände wühlten wie wild zwischen Schee und hartgefrorenem Lehmboden. Er zerkratzte sich die Finger, ein Nagel riss ganz ab. Er heulte, er fluchte und grub immer weiter.

Nach einigen Stunde entfernte er sich einige Meter auf dem Weg, als wolle er nach Hause zurückkehren, doch er kam nicht weit und rannte wieder auf das Feld.

Dieses Spiel wiederholte sich einige Male, bis er schließlich, der Morgen graute bereits fahl, endgültig geschlagen nach Hause zurückkehrte.

Eine Geschichte von 2006, welche ich einmal in etwa zwanzig Minuten geschrieben habe. Sonderbarerweise wusste ich von ihrer Existenz und ihrem ungefähren Inhalt als ich "Nur keine Umstände" schrieb - dennoch sind die Geschichten zum Teil fast identisch. Quasi ein Eigenplagiat.Felix M. Hummel, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.02.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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