Linda Ruthenberg

Sandburgen


Der Geruch nach Salz, diese Frische, das Rauschen des Meeres, all dies rief Erinnerungen an ihre Kindheit wach, als sie noch klein war, noch nicht einmal ein Schulkind. Sie fuhren im Urlaub oft ans Meer. Zum Zelten. Sie liebte es im Wasser zu spielen und am Strand Sandburgen zu bauen. Sie liebte diese kleinen, vergänglichen Kunstwerke. Wie lange hatte sie schon keine mehr gebaut. Von dem Stein, auf dem sie jetzt saß, schaute sie herab auf den Sandstrand. Muscheln und anderes Treibgut lagen hier und da verteilt. Es musste vor kurzem gestürmt haben, ging es ihr durch den Kopf. Ansonsten war der Strand leer. Keine Menschenseele weit und breit. Es war noch viel zu früh. Die Sonne war noch gar nicht ganz aufgegangen. Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr. Kurz vor sechs. Vor nicht einmal vier Stunden hatte sie ihre Wohnung verlassen. Ihre gemeinsame Wohnung. Tränen stiegen in ihr auf. Tränen der Wut und der Einsamkeit. Sie wollte nicht weinen, doch eine Träne nach der anderen tropfte auf den Stein, auf dem sie saß und hinterließ dunkle Stellen, die nur langsam verblassten.
 
Als sie früher die Sandburgen baute, dachte sie sich dabei immer Geschichten aus. Von einem König und einer Königin und vielen Wächtern, die die Beiden beschützten. Sie erschuf immer einen Burggraben um potentielle Gefahren abzuwenden. Doch die Burg überlebte nie bis zum nächsten Morgen und doch gab sie nie auf immer wieder neue zu bauen.
 
Als sie zusammen kamen, versprach er ihr, dass er ihr niemals wehtun würde, dass er immer für sie da sein würde. Viele Jahre haben sie mit einander verbracht, sich eine Zukunft ausgemalt. Eine gemeinsame Zukunft. Alles war fein gewesen, wie in diesen Geschichten, die sie sich als Kind immer ausgedacht hatte, bis zu dem gestrigen Tag.
 
Sie schloss die Augen, wollte alles vergessen, wollte ihn vergessen, doch es ging nicht. Seine um Verzeihung bittenden Worte, seine den ihren ausweichenden Blicke, sein nervöses Verhalten und das Knallen der Tür nachdem sie ihn aufgefordert hatte zu gehen, liefen wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab. Er hatte alles zerstört, was er hätte in ihr und zwischen ihnen zerstören können. Ihm verzeihen, nein, das konnte sie nicht. Stattdessen wollte sie alles zerstören, alles, was sie an ihn in ihrer liebevoll eingerichteten Wohnung erinnerte. Doch sie schaffte es nicht. Schon beim ersten Bild wich ihr sämtliche Kraft aus den Händen.
 
Sie musste raus und fuhr so schnell sie konnte an den Ort, wo sie schon immer die Wirklichkeit vergessen konnte. An den Ort an dem sie jetzt saß.
Sehnsüchtig sah sie zum Horizont, hoffte auf das Erwachen aus einem all zu reellen Albtraum. Sie fühlte sich hilflos und klein. Sie wollte, dass es regnet, doch stattdessen schien die Sonne, stattdessen roch die Luft so wunderbar frisch nach Sommer, stattdessen beruhigte sie das Rauschen des Meeres.
 
Eine weitere Stunde verging, dann erhob sie sich von ihrem Stein, setzte sich in den Sand und fing an eine neue Sandburg zu bauen…

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