Diethelm Reiner Kaminski

Die Pforte zum Paradies



„Hast du noch ein paar für mich?“
Mulali hielt seine knöcherne Hand auf, aber Zurala dachte gar nicht daran, sie zu füllen.
„Wir haben die Blätter gezählt und dann gerecht geteilt. Ich finde es nicht fair, wenn du jetzt was von meiner Ration haben willst. Ich spüre genauso Hunger und Durst wie du, und du weißt, dass es immer schwieriger wird, Kamkuru-Blätter zu finden. Die lange Trockenheit, die Heuschreckenplage letzten Monat. Du musst lernen, dir deine Ration einzuteilen und nicht alles auf einmal zu essen.“
„Aber wenn ich doch Hunger habe. Bei mir hält die Wirkung eben nicht so lange vor wie du. Wahrscheinlich, weil ich als Mann viel größer und schwerer bin als du“, verteidigte sich Mulali gegenüber seiner jüngsten Frau, mit der er sich aufgemacht hatte, um die so lebenswichtigen Kamkuru-Blätter zu sammeln. Seine beiden älteren Frauen waren zu schwach. Sie lagen in der Hütte auf ihren Strohmatten und beteten, dass die Suche erfolgreich sein möge. Alle bekannten Stellen, wo sie sich in besseren Zeiten problemlos mit den begehrten Blättern eingedeckt hatten, waren bis auf das letzte Blättchen abgegrast. Nur dürre Zweige und Dornen. Ungenießbar.
„Ich kenne einen Ort, wo es noch reichlich Blätter geben könnte. Mein Vater hat mich, als er noch lebte, ein paar Mal dorthin mitgenommen. In einem geschützten Tal in den Turundu-Bergen, schwer zu finden, aber ich weiß nicht, ob ich mich noch an den Weg erinnern kann. Das letzte Mal waren mein Vater und ich vor drei Jahren hier“, erzählte Zurala.
„Dann lass es uns wenigstens versuchen“, sagte Mulali, den der Hunger mächtig in den Eingeweiden zwackte, „vielleicht haben wir Glück. Und wenn nicht, ist es egal, wo wir sterben, ob hier oder dort oben.“
„Hier hast du noch ein Blatt, damit du durchhältst. Zwei Tagesmärsche sind es sicherlich bis zum dem Tal. Wenn wir den richtigen Weg nicht gleich finden, sogar noch länger“, zeigte sich Zurala großzügig. Was hätte sie auch davon, wenn Mulali vorher schlapp machte und sie sich in dieser gefährlichen Einöde allein behaupten müsste. Marodierende Banden, Hungernde, die in ihrer Verzweiflung vor nichts zurückschreckten, wilde Tiere, giftige Schlangen. Sie brauchte einen männlichen Beschützer, auch wenn Mulali nicht gerade ein Muster an Mut und Kraft war.
Zurala hatte einen guten Orientierungssinn und ein hervorragendes Gedächtnis. Statt der veranschlagten zwei Tage benötigten sie nur etwas mehr als die Hälfte. Das Tal war nur durch ein schmales Felsentor zu erreichen. Das war wohl der Grund, weshalb es offenbar niemand außer Zurala kannte. Sie trauten ihren Augen nicht. Grüne Kamkuru-Büsche bis zum Ende des Talkessels, und nicht nur Kamkuru-Büsche, auch Feigenbäume mit reifen Früchten, Säulenkakteen mit leuchtend roten Kaktusfrüchten, und auf dem Boden, zwischen Ranken und Blättern versteckt, gelbe Flaschenkürbisse.
„Wir sind gerettet. Hier bleiben wir“, wollte Zurala rufen, aber sie war zu schwach, ihre Stimme versagte. Ohnmächtig sank sie neben den starren Körper Mulalis zu Boden, der die ausgemergelten Arme ausgestreckt hielt, um die Früchte des Paradieses zu ernten.
 


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