Alexander Brandt

Blind Date, 1. Akt, November


 „Oh, leider haben wir kaum noch Platz. Wollen Sie sich nicht
zu der jungen Dame dort setzen?“ Ich sah mich um. An einem kleinen Tisch war
noch ein Stuhl frei. Der Kellner begleitete mich zu dem Platz. Bevor er etwas
sagen konnte, fiel ich ihm ins Wort.
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, aber würde es Ihnen
etwas ausmachen, wenn ich mich zu Ihnen setze?“ Ich verbeugte mich leicht. Sie
lächelte freundlich und schüttelte eifrig den Kopf. Auf dem Tisch strahlte mich
ein hellgelber Tequila Sunrise an. Leicht fragend schaute ich ins Nichts, bis
mich eine zauberhaft melodische Stimme ins Diesseits zurückholte.
„Natürlich dürfen Sie mir Gesellschaft leisten.“ Ich
bedeutete dem Kellner, ebenfalls einen Tequila Sunrise zu wollen. Ich setzte
mich. Meine Gedanken hingen bei der Frage, warum es ausgerechnet heute Abend so
voll sein musste. Sonst kam keiner zu Live-Musik. Vielleicht mögen die alle Jazz… Ich schaute mich weiter um, ohne
wirklich wahr zu nehmen, dass mittlerweile zwei grasgrüne Augen auf mir ruhten.
„Sie sind ziemlich unhöflich.“ Die melodische Stimme klang
nun rau.
„Hm?“ Meine Blicke trafen die ihren. Erst jetzt kam ich
dazu, mir die Frau, die mir schon zwei Minuten gegenüber saß, genauer
anzusehen. Erst schnitten ihre stechenden Blicke wie grüne Rasiermesser in
meine Seele, doch dann wirkte sie überrascht, beinahe erschrocken.
Wahrscheinlich hatte sie mein verträumter Blick aus der Fassung gebracht. Eine
hellbraune, fast noch dunkelblonde Strähne fiel ihr ins Gesicht. Die Konturen
ihres Gesichts waren fein gezeichnet und umschmeichelten ihre zart roten
Lippen. Ich schaute in das Gesicht einer lebenden Puppe. Der Kellner unterbrach
meine Gedanken.
„Vielen Dank.“ Der Bedienstete machte kehrt und ich wandte
mich an meine Gesellschaft. „Ich muss meine gedankliche Hilflosigkeit
entschuldigen. Ich heiße Vincent.“
„Wird ja auch Zeit.“ Sie hielt mir die rechte Hand entgegen.
„Angenehm, ich bin Leonie.“
„Es tut mir wirklich Leid.“
„Was beschäftigt dich denn so sehr?“ Sie hatte sich ein
wenig nach vorn gebeugt, so dass mich der Ausschnitt ihres Oberteils wahrlich
ansprang. Es fehlte nicht viel und ich wäre vom Stuhl gefallen, so überrumpelt
kam ich mir vor. Meine Blicke flüchteten Richtung Decke. Meine Finger spielten
nervös mit einem Bierdeckel.
„Nichts, worüber man sich Sorgen machen sollte.“ Meine
Stimme zitterte ein wenig.
„Du bist süß. Du lügst, nur damit ich nicht traurig werde.“
„Nein, so ist das nicht.“ Meine Blicke wanderten auf das
Getränk. Ich erhob das Glas und stieß mit ihr an. Ihre Augen waren nun
freundlich und voller Leben. „Danke, dass ich deine Gesellschaft genießen darf.
Magst du Jazz?“
„Ja, schon, manchmal. So kann man einen ruhigen Abend
verbringen.“ Sie musste wohl sehen, dass ich erneut dabei war, mich für das
Eindringen in ihre Ruhephase zu entschuldigen, denn sie warf mir einen
liebevollen Blick zu. „Wie alt bist du?“
„Naja, junge 20.“ Sie musste lachen. So eine Leichtigkeit…
„Gut gesagt. Das ist erheiternd. Aber interessiert es dich
denn gar nicht, wie alt ich bin?“
„Schon, aber man fragt eine Frau nicht nach dem Alter. Das
ist tabu.“
„Hab dich nicht so oder wirke ich dermaßen alt?“ Ich konnte
die Röte in meinem Gesicht beinahe spüren. Erneut begann sie leise zu lachen.
„N-nein. Natürlich nicht. Aber viel älter als ich bist du
ganz bestimmt nicht, auch wenn deine Art zu sprechen darauf schließen lassen
könnte.“ Ihre Miene änderte sich schlagartig.
„Rede ich etwa dermaßen wie eine alte Oma?“, fauchte sie.
„Du drehst mir das Wort im Munde um.“
„Du drückst dich so dämlich aus. Ich bin erst 19.“ Sie
drehte sich leicht eingeschnappt weg. Nach einigen Sekunden begann nun auch die
Musik. Ruhige Saxophonklänge flogen durch den Raum. Die grünen Augen leuchteten
nun förmlich. Irgendwie schön… Und die
Musik beruhigt… So müssen Abende zum Entspannen sein…  „Jetzt sitzt du hier, aber interessiert dich
deine Tischpartnerin denn gar nicht?“ Ich wurde aus meinen leeren Gedanken
gerissen.
„Nein, nein. Nur möchte ich nicht zu aufdringlich wirken,
nachdem du mir schon diesen Platz hier gewährtest.“ Sie begann laut zu lachen.
Jedoch ging es im Gerangel der Stimmen und der Töne unter.
„Hahahaha. Du bist wirklich witzig. Muss ich dir wirklich
was erzählen oder dir alles aus der Nase ziehen? Also…“
„Hey, hey, hey. Ist ja gut. Arbeitest du derzeit
irgendetwas?“
„Nö. Bin gerade mit der Schule fertig. Ich habe noch mehr
oder weniger Ferien.“
„Ich nehme an, dass du danach studieren wirst?“
„Ja. Ich hatte das Glück eine von ganz wenigen zu sein. Ich
konnte ja nicht ahnen, dass sich knapp 4000 Bewerber nur dort für Psychologie
interessieren. Dafür hat mein 1,2er Abi aber doch gereicht.“ Ich lächelte sie
beglückwünschend an, ohne ein Wort zu sagen. Fragt sich nur, ob sie intelligent ist oder auch lebensnah…
„Und was ma…“ …chst du
heute Abend hier ganz allein? Das wollte ich sie eigentlich fragen, jedoch
ging es einfach nicht. Sie schaute mich wieder an, nachdem ihre Blicke lang im
Raum herumgeirrt waren.
„Wie bitte? Was wolltest du sagen?“ Sie hätte nichts sagen
müssen. Man konnte ihre Blicke ohne Probleme lesen. Man sah bei ihr direkt in
die Seele.
„Hm, wie du dir so die Zeit vertreibst, außer in solchen
Bars zu sitzen.“
„Achso. Ich spiele Handball. Und gehe gern des Nachts
spazieren, aber nur wenn es regnet.“ In meinen Blickwinkel fiel das Fenster,
gegen welches weiche Tropfen klopften. Einige Minuten saß ich schweigend da,
schaute nur zum Fenster. Einen Schirm
habe ich dabei… Ein Kichern weckte mich. Mein Kopf zuckte herum.
„Du träumst mir hier zuviel. Aber ich weiß, was du denkst“,
flüsterte sie. Sie hob die Hand und der Kellner erschien am Tisch. „Wir würden
gern zahlen…“
„…ICH würde gern zahlen. Das Getränk der Dame geht auf meine
Rechnung.“
Nach draußen drangen nur noch leise, dumpfe Klänge. Ich
spannte den Schirm und wartete. Eigentlich
eine schöne Nacht… Spazieren im Regen, irgendwie kitschig…
„Du schläfst ja schon wieder fast!“ Lachend stakste sie die
drei Stufen des Eingangs herunter. Ich lächelte zurück und hielt ihr den Schirm
über den Kopf. „Du bist seltsam. Du lügst ständig, um nicht unhöflich zu
wirken. Und ich merk es auch noch. Dennoch finde ich dich irgendwie süß. Du
wolltest vorhin wissen, warum ich allein in dieser Bar saß.“ Mein Mund stand
offen. Einige Tropfen plätscherten gegen meine Stirn. „Wenn du den Schirm nur
über mich hältst, wirst du doch ganz nass“, meinte sie vorwurfsvoll.
„Das macht nichts. Ist doch nur Wasser.“ Mich ignorierend
drückte sie sich gegen mich und griff nach meinem Arm. Sie lehnte sich mit dem
Kopf dagegen.
„Oberflächlich versuchst du höfliche Distanz zu wahren,
jedoch…“
„Warum warst du allein in der Bar?“, fiel ich ihr ins Wort.
„Lenk doch nicht vom Thema ab. Ich weiß noch gar nichts von
dir. Was machst du so?“
„Du lenkst vom Thema ab.“ Schweigen. Nur der Regen sang sein
monotones Lied. So gingen wir durch die verlassenen Straßen der Stadt. Ein
Gähnen ihrerseits brachte mich wieder zu Worten. „Ich bringe dich nach Hause,
du bist müde.“
„Nein, ich möchte jetzt nur hier sein. Nirgendwo anders.“
Sie klammerte sich stärker fest. Mein Blick wanderte zu ihr herab. Leonie war
einen halben Kopf kleiner als ich. Sie schaute auf und lächelte. Diese grünen
Augen, die mich umschlossen, wie wohlig warmes Gras einer Wiese im Sommer. Ich
war ihnen ganz verfallen.
„Schau mich nicht so an! Da bekomme ich Angst“, flüsterte
sie. Alles um uns herum erschien schwarz und unsichtbar. Nur sie leuchtete in
dieser nächtlichen Dunkelheit, wie der Mond hinter den Wolken. „Du sollst mich
nicht so anschauen!“ Sie lockerte den Griff und stieß mich ein wenig zur Seite,
wobei sie das Gleichgewicht verlor und fiel. Ich ließ den Schirm fallen und
griff nach ihrem Arm. Gerade zugegriffen zog ich sie sofort nach oben, dass sie
gar nicht erst auf der regennassen Straße landete. Mit ihrer freien Hand griff
sie nach meiner Schulter und drückte sich nun gänzlich an mich, ihr Gesicht in
meiner Schulter vergraben.
„Jetzt konnte ich mich endlich für deine Freundlichkeit
revanchieren“, meinte ich trocken.
„Hehe. Gut gemacht. Bist du etwa ab jetzt mein
Gleichgewicht?“
„Ob ich was? Ich weiß nicht. Brauchst du denn welches?“,
fragte ich unbeholfen.
„Hast du schon mal einen Menschen ohne gesehen, Holzkopf?“
Sie ließ ein wenig von mir ab, hielt sich aber noch fest. Mit mir
unerklärlichen Tränen stand sie nun vor mir. Im Regen. Der Schirm lag neben uns
auf dem Weg. Tropfen über Tropfen fielen auf unsere Köpfe, doch diese Tropfen
in ihrem Gesicht waren eindeutig Tränen. Schweigend standen wir nun so da. Sie
schaute mich an. Ich schaute sie an. Einfach nur so. Und der Regen wollte kein
Ende finden. Plötzlich machte sie einen Schritt auf mich zu.
„Warte kurz. Der Schirm.“ Ich wich ihr aus und griff nach
dem Ding, welches mir diese Zweisamkeit erst ermöglicht hatte. Ich weiß, was sie gerade tun wollte, jedoch…

Den Schirm über unsere Köpfe halten, machte ich wieder zwei
Schritte auf sie zu. Weitere Tränen flossen ihre Wangen herunter, ohne dass sie
selbst dies zu bemerken schien. Vorsichtig legte ich meine Hand auf ihre Wange,
um mit meinem Daumen ihr das Wasser unter den Augen weg zu wischen. Verlegen
schaute sie zu Boden.
„Ich, ich, äh“, stammelte sie.
„Ich weiß.“ Ruckartig schaute sie auf und legte ihre Arme um
meinen Hals. Ohne Chance zur Flucht kam sie meinem Gesicht immer näher, bis
ihre Lippen die meinen sanft berührten. Erschrocken dachte ich erst daran, mich
irgendwie abzuwenden, jedoch schloss ich einfach die Augen und ließ die nächste
Ewigkeit geschehen. Ich bin in einem
Traum gelandet… Oder in einer schlechten Schnulze… Zaghaft drückte sie sich
nun wieder von mir los und schaute zur Seite. Mit ihren Händen spielte sie
nervös an einer Haarsträhne.
„Ich, ich wollte nicht, äh, ich weiß auch nicht, wie.“ Mein
Zeigefinger legte sich beinahe von selbst auf ihren Mund.
„Ist schon gut. Ich bin ja nicht weggerannt.“ Nun schauten
mich zwei große grüne Augen erneut an und sie grinste dabei.
„Nicht schlecht, Holzkopf. Du findest ja sogar passende
Worte.“ Wieso denn Holzkopf?
„Kann schon sein.“ Diesmal schaute ich zur Seite.
„Ich wollte dich nicht beleidigen, oder so. Lass es mich
wieder gut machen.“ Arm in Arm gingen wir weiter durch die verregnete Nacht.
„Bei mir zuhause ist die nächsten Tage niemand. Und deswegen lade ich dich
jetzt noch auf nen Kaffee ein.“
„Ich trinke keinen Kaffee. Tut mir Leid.“ Während sich in
ihrem grimmigen Gesicht das Wort „Holzkopf“ widerspiegelte, meinte sie mit
nahezu mütterlicher Stimme:
„Ich finde schon was Passendes für dich. Mach dir keine
Sorgen.“ Vor
der Haustür kamen wir zum Stehen. Während sie nach dem Schlüssel kramte,
schloss ich den Schirm. Dann nahm ich sie in die Arme, drückte sie fest an
mich. Erneut fanden unsere Lippen zueinander. Dieses Mal brach ich den Kuss ab,
eine Träne konnte ich nicht halten. Ich spürte wie der salzige Tropfen über
meine Wange rollte und letztendlich mit dem Regen von meinem Kinn tropfte.
Erschrocken sah sie mich an. Sie wusste, was jetzt kam. Ich ließ nur den Schirm
fallen, drehte mich um und ging. Das Schluchzen hinter mir wurde lauter,
dennoch war sie nicht im Stande sich zu bewegen. Sie stand einfach nur da und
weinte. Sie rief mir nichts nach, warf mir keine Beschimpfungen an den Kopf.
Rein gar nichts. Nur ein Schluchzen. Ich verschwand in der schützenden
Dunkelheit und ließ sie allein. Ich
elender Idiot…

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.02.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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