Diethelm Reiner Kaminski

Der Tod und das Mädchen



Carmen passt auf, dass sie ihn nicht aus den Augen verliert. Das weiße phosphoreszierende Skelett auf schwarzem Grund stößt sie ab, aber es zieht sie doch gleichzeitig auch an. Unter all den Clowns und Cowboys, Sträflingen und Mexikanern ist der Tod der Einzige, der von Mädchen und Frauen gemieden wird, die sich zumeist als Hexen, Teufelinnen, Rotkäppchen, Schneehasen oder Wildkatzen verkleidet haben. Aus der schwarzweißen Maske schauen große kalte Augen hervor. Zwar kann Carmen sein Gesicht nicht erkennen, aber es könnte ein attraktiver junger Mann unter der Maske verborgen sein. Keine Frau hakt sich bei ihm ein, keine tanzt mit ihm, keine schenkt oder raubt ihm ein Küsschen, wie es im Karneval üblich ist. Er wirkt einsam und verloren, während sich um ihn her die miteinander verschlungenen Pärchen in ausgelassener Stimmung vergnügen. 
Sie denkt an die Flaute des letzten halben Jahres. Worauf wartet sie? Keine Konkurrenz weit und breit. Eine solche Chance bietet sich ihr so schnell nicht wieder. Die will genutzt sein.
Sie drängelt sich zu ihm vor und hakt sich wortlos bei ihm ein.
„Hast du gar keine Angst vor dem Tod?“, fragt die schwarzweiße Maske.
„Sehe ich so aus? Würde ich mich sonst mit dir einlassen? Komm, lass uns tanzen.“ „Das zeugt von Mut. Das gefällt mir. Alle machen einen großen Bogen um mich. Du bist die Erste, die sich in meine Nähe wagt. Nur wer den Tod nicht scheut, versteht zu leben.“
Damit schließt er sie in die Arme und küsst sie auf beide Wangen. Und flüstert ihr ins Ohr: „Magst du klassische Musik? Komm mit zu mir. Wir hören zusammen Schuberts Streichquartett ‚Der Tod und das Mädchen‘. Oder hast du Angst, mit dem Tod mitzugehen?“
„Hast du nicht selbst gerade gesagt: Nur wer den Tod nicht fürchtet, kann das Leben wirklich genießen? Daran glaube auch ich. Ich habe keine Angst. Ich möchte wie du was vom Leben haben. Und Schubert liebe ich über alles.“
Letzteres behauptet sie, obwohl sie noch kein einziges Musikstück von diesem Komponisten gehört hat, von dem sie nicht einmal weiß, wo und wann er gelebt hat.
Unter der schwarzweißen Lastexhaut entpuppt sich der Tod als ein gar nicht so übel aussehender junger Mann. Und als jemand, der gleich zur Sache kommt und keine Zeit mit Small Talk verliert. An Gesprächen ist er nicht interessiert. Nur an ihrem Körper. Sie spürt schon jetzt: Sie wird ihn nie wiedersehen. Doch hat sie mehr von einer Karnevalsbekanntschaft erwartet?
Während sich ihre Körper bei den dunklen Celloklängen des Streichquartetts vereinigen, ist der Tod vergessen. Der liegt als Kleiderbündel in der Ecke und wird bis zum Karneval im nächsten Jahr nicht mehr gebraucht.
Wieder einmal hat die Liebe den Tod besiegt.
 


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