Felix M. Hummel

Kalte Stimmen

Dr. Peter Riedemann sprach mit den Toten. Diese so erstaunliche Fähigkeit, die er in seinem Leben noch niemanden offenbart hatte, stand für in als vollkommen prosaischer Fakt im Raum. Die Gabe hatte sich zu einer vollkommen normalen Eigenschaft entwickelt, die er so in sein Berufsleben integriert hatte, dass er sich ein Arbeiten ohne sie überhaupt nicht vorstellen konnte. Ein Verlust, so dachte er häufig in angsterfüllten Augenblicken, würde ihn zu vollständiger Unfähigkeit in seinem Fachgebiet verdammen.

Er hatte diese Gabe vermutlich immer gehabt, doch erst als Jugendlicher, genauer auf der Beerdigung seines Onkels, hatte er sie zum ersten Mal bemerkt. So erstaunlich der damalige Vorgang auch war, so prosaisch und normal war er ihm schon damals erschienen. Zu jener Zeit hatte man in seiner Familie die Toten noch zu Hause auf dem Brett aufgebahrt und er scheute sich heute offen zuzugeben, wie sehr er sich vor dem Körper seines Onkels gefürchtet hatte. Auch wenn ihm seine Mutter immer wieder zu versichern versucht hatte, dass diese aschgraue Gestalt zwischen Blumen, Tüchern und Heiligenbildchen immer noch sein Onkel sei, nur etwas kalt, so hatte er sich bis zuletzt geweigert, dass Zimmer zu betreten. Nur von der Türschwelle aus hatte er abschied genommen, konnte aber auch dabei nicht davon abrücken sich in seinem kindlichen Verstand auszumalen wie zerschmettert der Körper unter dem Leichentuch sein musste. Das halbe Dorf war schließlich gelaufen gekommen um ihn unter dem umgestürzten Fuhrwerk hervorzuziehen.

Es war der Tag gewesen, an welchem der Leichenkarren im Hof hielt und unter Fluchen und Stöhnen der Sarg abgeladen wurde. Ein letztes Mal hatte der kleine Peter einen Blick auf seinen Onkel werfen wollen und hatte die Stubentür einen Spalt breit geöffnet. Die Kerzen links und rechts des silbernen Versehkreuzes  am Fuße der Bahre hatten gebrannt und ihn zunächst geblendet. Nachdem sich seine Augen jedoch an das Licht gewöhnt hatten, hatte er die Gestalt seines Onkels ausgemacht, die jedoch aufrecht zu sitzen zu schien. Er hatte geglaubt erschrocken sein zu müssen, doch er war es nicht gewesen. Stattdessen war alle Angst von ihm gewichen und er hatte sich ohne zu zögern eintreten können. In keinem Augenblick hatte er geglaubt, sein Onkel sei wieder am Leben gewesen. Das Leinentuch fest um seine Schultern geschlungen war er, immernoch bleich, mit violett schimmernden Totenflecken im Nacken, war er am Rand des Brettes gesessen und hatte einige Worte mit ihm Gewechselt. Dr. Riedemann konnte sich später nicht mehr daran erinnern, was genau sie  besprochen hatten, vermutlich war er zu klein gewesen um das Wissen zu bewahren, doch wusste er, dass die Stimme des Toten nicht genauso geklungen hatte, wie sie es zu Lebzeiten getan hatte. Sie hatte einen scharfen, knisternden Unterton gehabt, der sich wohl am Besten mit dem Zinnschrei vergleichen ließ. 

Nachdem das Gespräch beendet worden war, hatte sich sein Onkel wieder zurück auf seine Ruhestatt sinken lassen. Erst danach hatte Peter bemerkt, dass seine Tante noch mit ihm im Raum gewesen war, aber scheinbar nichts mitbekommen hatte. In seinem späteren Leben konnte Riedemann immer wieder bestätigen, dass nur er selbst empfindlich für diese Vorgänge war und auch Worte, die er selbst mit den Toten wechselte, von anderen nicht vernommen werden konnten. Er war sich im Grunde nicht einmal sicher, ob während diesen Unterredungen überhaupt Zeit verging.

In seiner Jugend hatte er keine Gelegenheit gehabt seine Fähigkeit wieder zu erproben. Die Zeit der Hausaufbahrungen ging mit der Einrichtung von Leichenhäusern in den Kreisstädten vorbei und größere Katastrophen blieben seinem Heranwachsen erspart, so dass er das Geschehene bald vergessen hatte. Erst mit Beginn seines Medizinstudiums hohlte ihn die Gabe wieder ein. Er musste feststellen, dass die Zeit, die seit dem Ableben einer Person vergangen war, keine Rolle zu spielen schien. Bereits in seinem ersten Anatomiekurs saß das Ganzkörperpräparat auf dem Seziertisch und sprach ihn mit seiner wie Zinn zischelnden Stimme an. Erneut war die Stimmung ungezwungen. Er hatte keine Furcht und war auch nicht erstaunt, als sei das ganze nur ein Traum. Und ebenso wie in einem Traum schwanden auch die Erinnerungen von dem Gespräch. Die ersten paar Male konnte er sich an gar nichts mehr entsinnen, ganz so wie damals mit der Leiche seines Onkels. Der fast tägliche Kontakt mit den Toten und die Tatsache, dass er die Gespräche scheinbar beliebig lange führen konnte, ohne dass jemand etwas mitbekommen hätte, führten dazu, dass es ihm gelang, sein Gedächtnis für die neuen Ansprüche zu schulen. 

In nur kurzer Zeit war es ihm möglich geworden, den Inhalt der Gespräche zu behalten und Kontrolle darüber zu erlangen, was er selbst während dieser Phasen verlauten ließ. Zunächst glaubte er, es wäre förderlich für sein Studium die Präparaten nach ihrem medizinischen Werdegang und ihren Krankheiten auszufragen, doch stellten sich die gegebenen Antworten nur all zu häufig als falsch heraus. Dies verwunderte ihn kaum, da die Verstorbenen zumeist ein hohen Alters gewesen waren, somit also an mehreren Dingen litten und auch Geistig nur in manchen fällen vollkommen frisch waren. Es fiel ihm dabei auf, dass er nie sah, wie sich ein Toter erhob um mit ihm zu sprechen. Dies geschah entweder bevor er den Raum betrat, oder nachdem er die Augen kurz abgewendet hatte. 

Mit diesen Erfahrungen ausgestattet entschloss Riedemann schließlich, dass es für ihn nur eine Karriere in der forensischen Pathologie geben konnte. Wussten die meisten Menschen zu Lebzeiten schon nicht über ihre Krankheiten Bescheid, so würden sie doch im Tod immernoch von ihren familiären und freundschaftlichen Beziehungen erzählen können. In manchen Fällen, so war er sich sicher, konnte er vielleicht sogar Morde dadurch aufklären, dass er die Opfer nur nach dem Täter fragen müsste. In seiner freien Zeit erging er sich lange in solchen Gedanken. Er stellte sich vor, dass er mit ein wenig Mühe und Fingerspitzengefühl eines Tages eine berühmte Persönlichkeit in der Fachwelt werden könnte. Vielleicht würde er sogar von der gesamten Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erhalten und somit irgendwann sein Geheimnis, welches er bisher alleine mit sich trug, preisgeben können.

Doch die Realität sah anders aus. Nach langer mühsamer Arbeit, die ihm wenig Freude und noch weniger Freunde einbrachte hatte er es letztendlich geschafft eine Stelle in der Gerichtsmedizin anzutreten. Mir ruhiger, knisternder Stimme, scheinbar ohne Groll über ihren Tod teilten ihm die Verblichenen auch hier nach bestem Wissen mit, was sie über die Umstände ihres Dahinscheidens wussten. Dr. Riedemanns erfolg war jedoch gering. Er arbeitete gewissenhaft, doch seine Gabe war ihm so gut wie keine Hilfe. In den wenigen Fällen, in welchen die Verstorbenen ihren Mörder kannten, oder genauerer Angaben zu ihrem Tod machen konnten, handelte es sich um Beziehungstaten, die ohnehin recht schnell aufgeklärt werden konnten. Seine Hilfe wurde hier kaum benötigt. Mehr Kopfzerbrechen machten ihm aber solche Fälle, in welchen er den Namen des Mörders kannte - dieser aber im Laufe der Ermittlungen niemals auftauchte. 

Zunächst drohten ihn solche Situationen vollkommen zur Resignation zu treiben. Er versuchte selbst Beweise herbeizuschaffen, doch ohne Anfangsverdacht war es vollkommen unmöglich eine unbekannte Person ins Spiel zu bringen. Nur in wenigen Fällen konnte er es durch geschickte Manipulationen erreichen, dass der von den Toten genannte Täter trotz eigentlich fehlender Beweise verurteilt werden konnte. Dr. Riedemann wurde sich darüber klar, wie wenig Macht im seine Gabe doch verschaffte. Noch vor wenigen Jahren war er voller Hoffnung gewesen, allein durch seine Kraft die Welt ein wenig besser zu machen und sich damit ein gutes Leben und Nachruhm zu sichern, doch nun erschien ihm alles vollkommen sinnlos. Er fühlte sich dazu verdammt, mehr zu wissen als alle anderen, es aber nicht sagen zu können. Wer hätte schon auf eine so wahnsinnige Geschichte von einem verschrobenen, durchschnittlichen Pathologen, den im Grunde ohnehin die meisten Menschen mieden, hören wollen?

Er beschloss also, die Stimmen der Toten nicht mehr zu hören. Jedes Mal, wenn er einen von ihren sitzen sah oder ihre Zinnstimmen vernahm, schüttelte er sich, kniff sich in den Arm oder rief laut um sich aus dem traumartigen Zustand herauszubringen. Stattdessen versuchte er mehr Kontakt zu seinen Kollegen aufzubauen um sich auf andere Gedanken zu bringen. Einem Menschen wie ihm, der sein gesamtes, mittlerweile vierzig Jahre dauerndes Leben allein mit Arbeit verbracht hatte, fiel dies nicht leicht. Dennoch schienen die Mitarbeiter des Instituts seinen plötzlichen Wandel mit Wohlwollen aufzufassen und ihn in ihren Kreis, der in der Freizeit sehr aktiv war, aufzunehmen. 

Die Stimme der Toten wurde er so jedoch nicht los. Um so mehr er sich gegen sie wehrte, um so drängender zischten sie, sobald er seinen Arbeitsplatz betrat. Kein Kneifen und kein Schreien half dagegen, denn im nächsten Moment begannen sie erneut. Er spielte mit dem Gedanken seinen Arbeitsplatz zu wechseln, doch damit hätte er seine neu gewonnen Freunde verloren. Auch konnte er nichts anderes, sagte er sich, er hatte schließlich niemals etwas anderes getan. Keine Freizeit, keine Hobbies. Also versuchte er mit den Toten zu sprechen, wie er es mit seinen Freunden tat. Dies gelang vorerst, doch das Thema ihres Todes konnte er niemals umgehen. So hörte er weiterhin die Namen der Mörder ohne ihnen helfen zu können.

Schließlich geschah, was er niemals in Erwägung gezogen hatte: Er verliebte sich und sie, eine Polizistin, nur etwas mehr als halb so alt wie er, verliebte sich in ihn. Er erzählte es seinen Freunden und er erzählte es den Toten. Er erlangte neuen Mut und fühlte sich mit einem Mal wieder seiner Gabe gewachsen. Er hörte wieder zu und nahm sich vor, die Dinge endgültig selbst in die Hand zu nehmen. Er hatte schließlich gesehen, dass er etwas erreichen konnte, was er nie für möglich gehalten hatte. 

%Es dauerte eine ganze Weile bis wieder ein Name auftauchte, der der Polizei unbekannt war. Mord war in der Region nicht an der Tagesordnung und in den Meisten fällen, die hin und wieder eintraten, war seine Gabe zur Aufklärung nicht nötig. Aber seine Chance kam. 

Schon in der nächsten Woche nahm er sich einen der alten Fälle vor. Da Mord in der Region wahrlich nicht alltäglich war, konnte er nicht darauf warten, bis es einen neuen Fall in der Art, wie er ihn brauchte, gab. Doch er hatte keinen Namen vergessen, hatte über alles sorgfältig Buch geführt und war nun bereit, die Liste einen nach dem anderen Abzuarbeiten. Er wusste allerdings noch nicht, wie er es angehen sollte. Die Täter direkt anzusprechen um eventuell ein Geständnis zu erlangen schloss er von vornherein aus. Man hätte ihn wiedererkannt, wenn er weitere Schritte vornehmen hätte wollen. Sicher, ein oder zwei Mal hätte es funktionieren können, doch er war kein guter Redner und war sich sicher niemandem ein schlechtes Gewissen einreden zu können, der vor fünf oder zehn Jahren einen Mord begangen hatte und nie unter Verdacht geraten war. Nach der langen Zeit, die bereits vergangen war, konnte er auch nicht darauf hoffen, dass er sie an ihrem Verhalten überführen könnte.

Die einzige Lösung, so bitter sie auch war, schien ihm, dass recht in seine eigenen Hände zu nehmen. Er musste sie töten. Er war erstaunt darüber, wie wenig Schrecken er bei diesem Gedanken verspürte und wie schnell ihm dieser Einfall gekommen war. Vermutlich, so sagte die Dr. Riedemann, kam es von seinem ständigen Umgang mit den Toten und seinem besonderen Verständnis dafür, dass mit dem Ende des Lebens nicht alles vorbei war. Ja dadurch, dass er erkannt hatte, dass die Verstorbenen noch in dass Diesseits eingreifen konnten, konnte er schließen, dass es ein Jenseits geben musste. Dies würde jeder Bluttat, die er begehen musste um für Gerechtigkeit zu sorgen, etwas an Endgültigkeit nehmen. Sicher konnte er es damit nicht rechtfertigen, aber musste er das überhaupt? Er würde Rache nehmen für die Opfer und Täter zur Verantwortung ziehen, die kein weltliches Gericht erreichen konnte.

Riedemann wusste, wie man einen Mord begehen musste, ohne sich in Verdacht zu bringen. Es war nicht unbedingt wichtig keine Spuren zu hinterlassen. So etwas war auch nur in den seltensten Fällen möglich. Viel essentieller war es, in keinem Zusammenhang mit der Tötung zu stehen. Bei Beziehungstaten war dies schwierig, so dass diese oft recht leicht aufgeklärt werden konnten. Um so weniger persönlich jedoch der Umgang zwischen Täter und Opfer war, um so schwieriger wurden die Ermittlungen. Er hatte mit keinem der Täter bisher ein Wort gewechselt, auch wenn er einige schon gesehen hatte, als er in unruhigen Stunden ihren Spuren gefolgt war.

Grundlegend war er also wenig verdächtig. Dennoch musste er sich einen Weg einfallen lassen, Gerechtigkeit walten zu lassen ohne dabei in das Visier der Ermittlungen zu geraten. Das größte Problem dabei war, wie er sich eine Waffe besorgen sollte. Der einfachste Weg wäre gewesen, einen Schützenverein beizutreten, doch das hätte viel Zeit gekostet. Eine Waffenbesitzkarte hätte ihn auch in verdacht bringen können und seine Kaliber wäre bekannt gewesen. Auch die Dienstwaffe seiner Freundin war keine Alternative. Zwar kannte er Personen, die illegale, unregistrierte Jagdwaffen besaßen, doch Mitwisser waren ein Risiko. Somit entschloss er sich zu dem riskanten Schritt, eine Pistole auf dem Schwarzmarkt zu kaufen. 

Wochenlang folgte er den Tätern auf seiner Liste, nur um einen zu finden, welcher ein für den Anfang besonders leichtes Ziel darstellte. Ein allein lebender Mann mit festen Gewohnheiten, langen, einsamen Spaziergängen und wenig Verwandtschaft war die beste Wahl. Er musste ihn nur knapp zwei Wochen verfolgen bis er sich sicher genug fühlte um es zu Ende zu bringen. Mitten im Wald, ein Schuss aus der Nähe in den Hinterkopf. Dann floh er quer durch das Unterholz. Die Panik die ihn befiel als die Äste sein Gesicht zerkratzen und Brombeerranken ihm die Beine wegrissen, hatte er nicht eingerechnet. Als er bei seinem Wagen ankam stachen seine Lungen von der kalten Herbstluft, so dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Jeder Muskel seines Körpers brannte und zitterte. 

Es gelang ihm mit dem Wagen sicher nach Hause zu kommen, erst dort brach er im Badezimmer zusammen. Er duschte in der Kleidung, vergaß sogar die Pistole aus der Tasche zu nehmen. Erst als er seine Sachen in die Waschmaschine geworfen und sich über eine Stunde geschrubbt hatte, begann er sich einigermaßen zu beruhigen. Er legte seine Waffe, nachdem er sie, da sie ohnehin bereits nass geworden war, ebenfalls ausgiebig geputzt hatte, in eine Schale mit Öl, bevor er sie in ihrem Versteck in einer Zwischenwand unterbrachte.

Eigentlich hatte er mit Claudia essen gehen wollen, sagte ihr jedoch ab indem er vorgab krank zu werden und sie nicht anstecken zu wollen. Bereits einige Minuten später ärgerte er sich darüber und rief sie zurück um ihr doch noch zuzusagen. Zwar war das kein wirkliches Alibi, aber trotzdem musste es unverdächtiger wirken, als wenn er diesen Abend alleine geblieben wäre. Sie wunderte sich dank seiner angeblichen Krankheit nicht darüber, dass er wortkarg und ohne Appetit war. Er entschuldigte sich früh um sich richtig auszuschlafen, da er, so teilte er Claudia mit, morgen nicht krank sein dürfte.

Die Woche verlief nicht gut. Seine Konzentration war schlecht, er konnte seine Arbeit kaum bewältigen. Wenn die Toten mit ihm sprachen, dann hörte er ihnen nicht zu und starrte nur ins Leere. Es kümmerte ihre Stimmen nicht. Immer wieder, wenn er glaubte eine ruhige Minuten finden zu können, wallte die Angst in ihm hoch, erwischt werden zu können. Er hatte überstürzt gehandelt und nicht darauf geachtet keine Spuren zu hinterlassen. Er hatte sich nicht nach Zeuge umgesehen. Er hatte den Täter nicht lange genug beobachtet. Sicher wusste jemand, welche Waffe er besaß. Auf den Gedanken Reue oder Mitleid zu empfinden kam er jedoch kaum. Er hatte sich lange vor der Durchführung dafür entschieden so zu handeln. Mord war es nicht gewesen, sonder Gerechtigkeit, dort wo gewöhnliche Gerichte nicht greifen konnten. Genau war er vorgegangen. Es half, dass er die Lebensumstände des Täters kaum kannte. Ja, er hatte eine Familie und Kinder gehabt, aber Dr. Riedemann kannte sie nicht, hatte sie nur flüchtig gesehen. Sicher, für sie würde es nicht leicht sein, schwerer, als wenn ihr Mann, ihr Vater auf normale Art verurteilt worden wäre, aber immerhin blieb ihnen so die Scham erspart zu erkennen, dass einer, den sie liebten, ein Mörder und Vergewaltiger war. Eigentlich, so schloss Riedemann, war der Gerechtigkeit durch das fehlen dieser Offenbarung nicht genüge getan worden. Er wollte es jedoch dabei belassen, die Gefahr für ihn selbst war einfach zu groß.

Erst, als der Fall die Zeitungen und der Körper des Täters seinen Sektionstisch erreichte, begann sich Dr. Riedemann wieder zu entspannen. Alles war glatt gelaufen, denn nun hatte er die Kontrolle. Er hatte befürchtet, ein anderer würde eingeteilt werden. 

Vor der Tat war er tatsächlich noch in letzter Minute einem Schützenverein beigetreten und hatte, zusätzlich zu seiner Pistole, einige legale Sportwaffen erworben. Auf dem Schießstand hatte er heimlich eine Kugel in einem Klumpen Gelee abgefeuert, die er nun, während der Obduktion in der Tasche trug. Unter einem Vorwand ließ er seinen Kollegen den Raum verlassen, entfernte das ursprüngliche Projektil aus der Schusswunde und ersetze es durch sein mitgebrachtes. Nun würde zwar der Kaliber auf eine seiner legalen Waffen verweisen, doch konnte er öfter mit seiner Pistole zuschlagen, wenn nicht jedes Mal der gleiche Kaliber auftauchen würde. Einerseits war er stolz über diesen Einfall, andererseits ärgerte er sich jedoch, dass es ihm nicht früher eingefallen war. Das nächste Mal würde er seinen Plan von Anfang bis Ende durcharbeiten müssen. Es war einfach alles zu ungeordnet und fahrig.

Aber es hatte funktioniert. Die Ermittlungen zogen sich lange hin, doch er behielt stets ein Auge auf den Fortschritt, wie er es auch sonst häufig tat. In seine Nähe geriet man scheinbar nie.

So dauerte es nur ein halbes Jahr, bis er den nächsten Namen von seiner Liste streichen konnte. Dann einen weiteren. Und weiteren. Es gelang ihm nicht die Verbindung zwischen den Vorgängen zu verschleiern, trotz der wechselnden Kaliber, Orte und Schussrichtungen. Die Gegend war einfach zu klein und ruhig um mehrere solcher Fälle wie Zufall erscheinen zu lassen. Zwar fühlte er sich noch nicht bedroht, dennoch beschloss er, zumal seine Liste fast zu Ende war, eine Pause, vielleicht für einige Jahre, einzulegen.

An dem Tag, an dem er diesen Entschluss gefasst hatte, kaufte er die Ringe und sie stimmte seinem Antrag zu. Sie wollte nicht lange warten und begannen noch am Abend die Hochzeit vorzubereiten. Riedemann wollte sich einige Tage frei nehmen um sich ganz auf dieses Thema konzentrieren zu können. Sie lehnte jedoch ab und teilte ihm mit, dass er viel zu Detailversessen sei und sie darum die groben Dinge selbst erledigen würde. Also ging er wie üblich zur Arbeit. Die Kollegen erfuhren schnell von seinem Glück, die Woche verlief anständig. Der letzte Leichnam der Woche stellte sich laut Akte als ein schwieriger Fall dar. Es war offensichtlich keine Beziehungstat und kein Raub gewesen, so dass man dazu neigte, den Toten dem "Schützen"zuzuordnen, dem Namen unter welchem Dr. Riedemanns Unternehmungen zusammengefasst hatte. Natürlich war er es nicht gewesen, er glaubte jedoch, dass er vermutlich schon bald einen weiteren Namen in seine Liste aufnehmen musste. 

Als er den Oduktionssaal betrat, saß der Leichnam bereits auf dem Tisch. Es war ein junger Mann, vielleicht nicht einmal achtzehn Jahre alt. Eine deutliche Schusswunde klaffte in seinen Schläfen. 

"Wer hat dich umgebracht?", fragte Dr. Riedemann. Er hielt es nicht für möglich die Toten zu begrüßen. Sie zeigten keine Gefühle, darum verzichtete auf jede Art von Floskeln, wenn es ums Geschäft ging. Wollte er solche Themen eher vermeiden, so erging er sich gerne in Fragen nach der Befindlichkeit des Verstorbenen, wohl wissend, dass er darauf keine befriedigende Antwort bekam.

Der Tote öffnete die blauen Lippen, ohne dass sich das weiß seiner Gesichtshaut verzog. Ein zischen entfuhr der Mundöffnung, welches sich zu einem scharfen Knistern auswuchs, das schließlich zu Worten geformt wurde. "Eine Polizistin hat mich bei einem Drogengeschäft erschossen.", seufzte der tote Jugendliche. "Ich habe sie enttäuscht."
Etwas verkrampfte sich in Dr. Riedemanns Magen. "K-kennst du ihren Namen?", stotterte er, während er fühlte, wie ihm schwarz vor Augen wurde.
"Ich kannte ihn.", zischte die Zinnstimme.
"Sag schon!"
"Claudia Puster. Sie... "
"Genug!", rief Riedemann und drehte sich weg. Das Traumgefühl fiel von ihm ab und er fand sich auch dem Fließenboden wieder. Sein Kollege kniete neben ihm und war bemüht ihn in die stabile Seitenlage zu bringen. Riedemann war noch geistesgegenwärtig genug um seine Hilfe freundlich abzulehnen und sich dem Tag über frei zu nehmen.

Zu Hause wagte er es kaum seiner zukünftigen Frau in die Augen zu sehen. Der Tote musste gelogen haben. Aber sie war doch in irgendeiner Abteilung, die sich mit Betäubungsmitteln beschäftigte. Sie sprachen ja kaum über die Arbeit, darauf hatten sie sich bereits früh in ihrer Beziehung geeinigt, da es viel zu deprimierend war. Was wusste er überhaupt über sie? Sie waren jetzt zwei Jahre zusammen und dennoch hatten sie sich bisher sehr wenig gesagt: Es ging um das hier und jetzt, über das Leben, Politik und Philosophie, über Musik. Er kannte ihre Vorlieben, ihre amateurhaften Malereiversuche und was sie an der Gesellschaft beschäftigte. Doch er wusste nicht was sie tat, wenn sie nicht zu Hause war. Noch lebten sie ja nicht einmal zusammen. Wohnte man vor der Hochzeit nicht für gewöhnlich schon lange beieinander?

Nein, nein, nein, der Tote musste gelogen haben. Er wusste, dass er sie darauf ansprechen musste, wenn er Gewissheit haben wollte, aber wie, das konnte er sich nicht vorstellen. Nach langem hin und her, beschloss er zunächst die weiteren Untersuchungen abzuwarten. Entweder es wurde ein Täter gefasst, dann war alles gut, oder sie geriet in Verdacht, dann hatte er zumindest eine Gewissheit. Doch was wollte er tun, wenn es einer "seiner " Fälle werden würde? Natürlich ging die Liebe über seinen Sinn für Gerechtigkeit. Gerechtigkeit, was war das überhaupt? Er hatte beschlossen Täter zu bestrafen, die sonst niemand bestraft hätte. Das war keine Verpflichtung, es war ein persönlicher Wunsch gewesen. Aber konnte er so mit ihr leben? Mit einer Verbrecherin?

Es reichte. Mitten während des Abendessens sprang er auf. "Muss ins Institut", murmelte ohne eine Verabschiedung. Er hatte während des Studiums schon öfter zwei Mal mit einem Toten gesprochen, aber niemals seitdem er mit seiner Arbeit begonnen hatte. Nun wollte er es wissen, jedes Detail von dem was vorgefallen war. Als der Leichnam Claudias Namen erwähnt hatte, war er viel zu geschockt gewesen um weitere Fragen zu stellen. Das musste er nachholen. 

Stunden saß er auf dem Boden vor dem Leichnam des jungen Mannes im leeren Institut, ständig den Kopf zu Seite drehend und hoffend, dass sich der Tote aufsetzen würde. Es war dunkel, denn er hatte sich aus Angst gefunden zu werden nicht getraut Licht zu machen. Über sein eigenes Atmen hinweg war das Surren der Kühlanlage, das Tropfen eines Wasserhand und der Verkehr der nahem Autobahn, dessen Scheinwerfer flinke Schatten an die Fließenwände malte, zu hören, dennoch war es auf eine besondere Art vollkommen still. Eine bessere Stille gab es in der Stadt auch nachts nicht. Wie er sie hasste.

Als der Tote auf der Bahre aufsaß, erschrak Riedemann. Zum ersten Mal in dieser Situation hatte er es nicht erwartet. Zitternd blickte er nach oben, auf das Gesicht mit den eingefallenen Wangen, dessen Augen ganz im Dunkel lagen. Viel davon war nicht mehr übrig geblieben, man hatte die Obduktion ohne ihn fortgesetzt. Fast sah es so aus, als habe man ihn ausgesaugt.

"Ich muss es genau wissen.", flüsterte Riedemann ohne aufzustehen. "Wie genau ist es geschehen? Wie hat sie dich umgebracht? "

"Er hat mich erschossen. ", zischte der Tote

"Erkläre es mir genau, was ist davor passiert, bevor sie...", er unterbracht sich. Hatte er gerade richtig gehört? Er? "Wer hat dich getötet, was hast du gesagt?"

"Hans Bruckmann hat mich getötet"

"Was? Du hast doch heute morgen gesagt Claudia... ", sagte der Doktor sehr, sehr langsam.

"Ich weiß nur, dass Hans Bruckmann mich umgebracht hat.", rauschte es aus dem fast bewegungslosen, entstellten Mund des Toten. "Ich kannte keine Claudia, Hans hat mich getötet."

Riedemann stand auf und ging. Er machte sich nicht die Mühe, den Toten zurück in das Kühlfach zu schieben oder die Türen abzuschließen. Seinen Wagen auf dem Parkplatz ließ er stehen, er ging einfach weiter gerade aus, eine bessere Idee hatte er nicht. Er musste sich keine Sorgen um Claudia machen, sie hatte es nicht getan. Genauso wenig wie jene, die er umgebracht hatte. Wenn der Toten in diesem Fall gelogen hatte, dann konnte er in keinem Fall sicher sein.

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Blaupause einer Geschichte. Ich werde wahrscheinlich eher keine Endfassung schreibenFelix M. Hummel, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.02.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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