Lisa Moser

Allein


Dunkel ist mein Weg. Die Kälte kriecht schon in die letzten Winkel meiner Kleider und ich habe furchtbare Angst. Immer wieder drehe ich mich um, um mich zu vergewissern, dass mir auch ja niemand folgt. Ich bin von der Familie, die mich aufgenommen hatte, weggelaufen. Jeder glaubt, sie wären gut zu mir gewesen, aber die Menschen aus unserem Umfeld können auch nicht all die blauen Flecken unter meiner Kleidung sehen.
 
Mit einem hatten sie ja Recht. Meine Adoptivmutter mochte mich, und sie hätte mir nie auch nur ein Haar gekrümmt. Aber mein Adoptivvater pflegte es wann immer es ihm gefiel nach mir zu schlagen. Einmal warf er sogar ein Messer nach mir, als ich es wagte mir noch ein kleines Stück Kuchen zu nehmen. Er war immer, soweit ich zurückdenken kann, sturzbetrunken.
Ich war nicht sein einziges Opfer. Auch meine Adoptivmutter lebte schwer unter ihm.
Einmal rannte ich vor Angst in mein Zimmer, als er nach Hause kam. Er hatte seine Arbeit verloren, und so brauchte er auch jemandem, an dem er seine Wut ausließ. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich mit der Decke über dem Kopf im Kleiderschrank saß und angstvoll darauf wartete, dass er in mein Zimmer kommen würde. Zum Glück geschah es in dieser Nacht nicht. Dafür musste seine Frau leiden.
So ging es öfters bei uns zu und so auch heute.
Wieder einmal versteckte ich mich im Schrank, diesmal mit meinem Kuschelhasen als Beschützer.
Und wieder kam er nicht zu mir, was mich innerlich aufatmen ließ. Doch die Schreie meiner Adoptivmutter ließen mich erschauern. Ich mochte sie. Ich schüttete ihr manchmal auch mein Herz aus und sie lächelte mich dann immer verständnisvoll an und sagte, dass sie irgendwann weit weggehen und mich mitnehmen würde.
 Wieder hörte ich Schreie. Ich hielt das alles nicht mehr aus und fing unter Tränen an laut zu singen.
Irgendwann, als meine Augen schon ganz rot und meine Nase offen war, hörte ich eine Tür ins Schloss fallen und Schritte im Garten.
Ich lauschte leise. Ich hörte niemanden mehr, und so beschloss ich nach unten zu gehen.
Meine Adoptivmutter lag schwer blutend am Boden. So hatte er sie noch nie zusammengeschlagen. Sie wimmerte leise vor Schmerz. Ich sagte zu ihr, dass alles wieder gut werden würde. Sie lächelte mich an und sagte, ich solle wieder nach oben gehen und sie wolle ein Bad nehmen.
Ich tat was sie mir sagte, doch lange hielt ich es nicht allein aus. Ich wollte unbedingt zu ihr. Ich wollte sie umarmen. Ich wollte ihr sagen, dass ich sie lieb hatte, auch wenn sie nicht meine richtige Mutter war.
Leise öffnete ich die Badezimmertür. Sie lag in der Wanne und ihre Augen waren geschlossen. Sie schien zu schlafen. Ich wollte sie wecken. Warum wurde sie bloß nicht wach? Ich fing an sie zu rütteln. Plötzlich fiel mir das rot gefärbte Wasser auf, in dem sie badete. Ich sah ihre Handgelenke, die aufgeschlitzt am Wannenrand lagen.
Langsam ging ich ein paar Schritte zurück. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah.
Wieder fing ich an zu weinen. Ich wusste, dass sie nicht mehr aufwachen würde. Sie war weggegangen. Aber sie hatte ihr Versprechen gebrochen und mich nicht mitgenommen.
 
Und jetzt gehe ich zitternd die Straße entlang. Wieder drehe ich mich um. Meine Schritte beschleunigen sich. Die Angst treibt mich an. Ich weiß nicht wohin ich gehen soll. Ich bin furchtbar müde doch ich traue mich nicht auszuruhen. Nicht einmal mein Kuschelhase spendet mir jetzt Trost.
Immer wieder frage ich mich, warum sie ohne mich gegangen ist. Ich bin enttäuscht von ihr. Sie hatte mich zurückgelassen. Sie hatte mir versprochen mich mitzunehmen!
Ich habe jetzt niemanden mehr. Sie war die einzige, die mir etwas bedeutete. Der ich etwas bedeutete. Und jetzt bin ich allein. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.02.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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