„Und das von der eigenen Schwester. So eine Schlange aber auch. Jeder Fremden würde ich das eher verzeihen, aber der nicht. Die kommt mir nicht wieder ins Haus.“
„Meinst du Tante Agnes?“, fragte der kleine Tasso ängstlich, der die Ohren zu spät aufgesperrt und nur das Ende des Gesprächs zwischen seiner Mutter und deren Freundin Beate mitgekriegt hatte.
„Nichts für deine neugierigen Löffel“, fuhr ihn seine Mutter an, „geh in dein Zimmer spielen. Du musst nicht immer lauschen, wenn Erwachsene sich unterhalten.“ Beleidigt zog Tasso mit seinem knallroten Feuerwehrauto unter dem Arm ab.
Drei Tage später, Tassos Mutter war nur kurz für zwei Stunden zum Friseur gesprungen, klingelte es an der Wohnungstür. Tasso linste durch den Briefkastenschlitz. Tante Agnes stand dort. In der Hand hielt sie einen großen Blumenstrauß.
Tasso brauchte sich nicht einmal zu bücken. Seine Augen waren genau in Höhe des Briefkastenschlitzes, wenn er aufrecht stand. Tante Agnes hatte das Geräusch der Klappe bemerkt und ging in die Hocke, um Tasso besser verstehen zu können. „Ich darf dich nicht reinlassen.“
„Und warum nicht? Kennst du deine Tante nicht mehr?“
„Mami hat gesagt, du bist eine Schlange. Du darfst nie wieder zu uns ins Haus.“
Die Briefkastenklappe schlug zu und öffnete sich auch nicht wieder, so oft und lange Agnes auch schellte.
Eine halbe Stunde später klingelte es erneut. Tasso spähte durch den Briefkastenschlitz. Im Flur stand eine unbekannte Frau. Ihr Parfum war so stark, dass Tasso es durch den Schlitz hindurch schnuppern konnte.
„Meine Mami ist nicht zu Hause.“
„Wann kommt sie denn zurück? Ich bin Valerie, die Cousine deiner Mutter aus Frankfurt. Auf der Durchreise. Da wollte ich schnell mal bei euch vorbeischauen. Ich kenne dich ja noch gar nicht, kleiner Mann. Wie heißt du denn überhaupt?“
„Tasso“, antwortete Tasso, ohne nachzudenken. „Meine Mami ist beim Friseur. Sie hat gesagt, es dauert nicht lange. Ich darf keine fremden Leute in die Wohnung lassen.“
„Fremde?“, lachte die Frau, die so gut duftete, „ich bin doch keine Fremde, Tasso. Deine Mutter wird schimpfen, wenn du mich draußen im kalten Flur stehen lässt. Ich kann doch drinnen auf deine Mutter warten. Ich habe dir auch was Schönes mitgebracht.“
„Was denn?“, fragte Tasso, denn die Aussicht auf ein Geschenk sehr verunsichert hatte.
„Ein weißes Rennauto“, sagte die Frau.
Schon drehte sich der Schlüssel im Schloss und die Frau wurde in die Wohnung gelassen. Sie ging schnurstracks durch den Korridor ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch.
„Krieg ich jetzt auch das Rennauto?“, fragte Tasso.
„Gleich. Ich muss mich erst ein wenig verpusten. Ich bin den ganzen Weg vom Bahnhof zu euch zu Fuß gelaufen. Sei so nett und hol mir ein Glas Wasser.“
Tasso konnte das Schrankfach mit den Gläsern und den Wasserhahn über der Spüle nur erreichen, wenn er auf einen Küchenstuhl kletterte. Den Stuhl an den Schrank rücken. Raufklettern. Die Schranktür öffnen. Ein Glas aus dem Schrank nehmen. Herunterklettern. Den Stuhl vor die Spüle rücken. Raufklettern. Den Hahn aufdrehen. Das Glas füllen. Vorsichtig herunterklettern, um das Wasser nicht zu verschütten. Das alles dauerte mehr als fünf Minuten. Als Tasso, das Glas mit Wasser in beiden Händen haltend, zurück ins Wohnzimmer gehen wollte, hörte er, wie die Wohnungstür zuschlug.
„Hat jemand geklingelt, während ich beim Friseur war?“, fragte Tassos Mutter.
„Nur Tante Agnes. Sie hatte einen Blumenstrauß für dich.“
„Na und? Wo ist sie? Hast du sie nicht reingelassen?“
„Nein, du hast doch gesagt, sie ist eine Schlange und sie darf nie wieder ins Haus.“
„Du bist mir vielleicht einer. So war das doch nicht gemeint. Und sonst war niemand hier?“
„Nein, nur Tante Agnes.“
Nachdem Tassos Mutter festgestellt hatte, dass nicht nur ihr Schmuck aus der Schatulle in der Wohnzimmeranrichte, sondern auch noch ihr Erspartes verschwunden war, das sie unter der Tischwäsche in der Kommode versteckt hatte, verbot sie Agnes, das Haus je wieder zu betreten. Und auf Tasso war sie auch zwei Tage böse, weil er sie belogen hatte und Agnes, diese diebische Elster, doch in die Wohnung gelassen hatte. Nicht einmal den Blumenstrauß hatte sie da gelassen. Wie recht sie gehabt hatte. Ihre Schwester war und blieb eine falsche Schlange. Ihre eigene Schwester eine Diebin. Ihrem Mann durfte sie das schon gar nicht erzählen. Der würde sofort Anzeige erstatten. Welche eine Schande.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.03.2011.
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