Wiebke Theis

Du bist schön

„ Du bist schön“. Das ist der Satz, den sie mir entgegnete, als ich fragte, warum sie mich so anstarre. Vielleicht war ich unfreundlich, aber die Situation war wirklich zu komisch.
 
Wir saßen, bzw. ICH saß in einem düsteren Teil unsderer Unibibliothek und las unter dem Schein einer flackernden Lampe „Die Materie an sich“. Ich weiß nicht, wieso ich das Buch las, obwohl ich doch eigentlich Seneca und seinen Ausführungen über das Leben folgen sollte, um die herannahende Prüfung wenigstens einigermaßen gut zu überstehen. Ich liebte meine Fächer Englisch und Latein und freute mich wirklich sehr darauf, bald endlich das erste Mal vor einer Klasse stehen zu dürfen. Ich war allerdings nicht der konzentrierteste Lerner und schweifte zwsichendurch immer wieder ab. So auch dieses Mal. Als ich vor den Regalen stand, um mir Sekundärliteratur herauszusuchen, fiel mir dieses Buch auf, das doch eigentlich nichts mit Latein zu tun haben könnte. Diese Unregelmäßigkeit weckte mein Interesse. Ich las und las immer weiter und schaute zwischendurch nur einmal kurz auf die Uhr, die an der gegenüberliegenden Wand hing.
Als ich meinen Blick wieder senkte, fühlte ich mich von meinem Gegenüber, das ich bisher nicht bemerkt hatte, beobachtet. Ich sah sie kurz an und war entsetzt, als ich mir gewahr wurde, dass sie mich regelrecht anstarrte. „Ist was?“, fragte ich platt. Ich war unzufrieden mit mir selbst, weil ich nicht konstruktiv arbeitete, und das bekam sie wohl zu spüren. Ich erwartete keine besondere Antwort, sonder eher einen ebenso platten Konter oder ein peinlich berührtes Wegblicken. Doch als Antwort bekam ich „Du bist schön“. Mir blieb die Spucke weg. „What the – was?!“. „Du bist schön.“ „Wieso sagst du das?“, fragte ich und wusste selbst nicht mit meiner Empörtheit umzugehen. „Warum denn nicht? Findest du das schlimm? Es scheint fast so…“, sagte sie in einem erschreckend ruhigen Ton. Diese Konfrontation überforderte mich plötzlich. „Eh – keine Ahung. Es ist seltsam. Du kennst mich nicht.“ „Muss ich dich kennen, um zu beurteilen, ob ich dich schön finde oder nicht?“ Schon wieder diese grundfeste, ruhige Stimme, die mich paradoxerweise unruhig machte. „Ich denke nicht. Aber es ist und bleibt komisch. Also: Warum hast du’s gesagt?“ Ich wurde ungeduldig. Erstens wollte ich wirklich die Antwort darauf haben und zweitens machte mich ihre Anwesenheit jetzt irgendwie unsicher. „Weil ich dir sagen wollte, dass ich dich schön finde. Ganz einfach. Wir Menschen sagen uns viel zu selten nette und vor allem ehrliche Dinge.“
Was sollte das bloß werden? Eine Verwicklung in ein moralisch-philosophisches Gespräch über die Beschaffenheit unserer Gesellschaft? Abgesehen davon, dass ich doch eigentlich wirklich beschäftigt war, kam es mir nach wie vor abstrus vor, ein solches Gespräch mit einer mir völlig unbekannten Person zu führen. Ich konnte jedoch nicht umhin, über das, was sie gesagt hatte, wenigstens für einige Sekunden nachzudenken. Ich war schon immer der Meinung gewesen, dass man nett und freundlich und zuvorkommend und so weiter sein sollte. Dass jedoch jemand so weit gehen würde, fremden Menschen unverblühmt seine Meinung zu sagen, hatte ich nicht erwartet. Ich kam mir bei der Suche nach einer eloquenten Antwort ziemlich hilflos vor. Ich meinem Kopf flogen die Gedanken hin und her und je mehr ich versuchte, sie zu ordnen, desto mehr verwoben sie sich ineinander. Zu guter Letzt fehlten mir auch noch jegliche überlicherweise in meinem aktiven Wortschatz befindlichen Worte, weshalb ich mit einem ausgedehnten „Hmmmm“ auf ihre Frage antwortete. „Alles in Ordnung?“, fragte sie auf eine sehr einfühlsame Art und Weise. „Ja, sicher. Ich – ich kann nur das, was hier gerade passiert, nicht einschätzen.“ „Das brauchst du ja auch nicht. Warum immer alles einschätzen und reflektieren wollen, wenn man es doch einfach geschehen lassen kann?“
Ich Kern hatte ich ihren Gedanken wohl erfasst, was mich aber dennoch nicht davon abhielt, wie ein Nilpferd in die Luft zu starren und einen nachdenklichen Laut von mir zu geben. Ihre Reaktion auf mein – durchaus etwas peinliches – Verhalten kam urplötzlich und äußerste sich in einem lautstarken, herzlichen Lachanfall. Sie schmiss ihren wohlgeformten Körper an die Lehne des hölzernen Stuhls, ihre langen braunen Haare folgten dieser Bewegung und ihr Brustkorb hob und senkte sich lebhaft, als sie versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen.
Dann passierte erst einmal nichts. Wir saßen eine scheinbare Ewigkeit einfach nur da. Die Stille war jedoch keineswegs bedrückend, wie ich es aus so vielen anderen Situationen kannte.
Kurz bevor ich die Ruhe durchbrechen wollte, vernahmen meine Ohren wie aus einer anderen Dimension ihre ruhige Stimme: „Bist du schon einmal gefallen? Ganz tief in die Abgründe deiner Gedanken, Empfindungen und Erinnerungen hinein? So tief, dass du das Hier und Jetzt ganz aus den Augen verlierst und dich völlig deiner Seele hingibst?“ „Ehm, nein, ich glaube nicht, es sei denn ich schlafe über knallharten Lateinschinken ein.“ Dieser Gedanke entlockte mir ein Lächeln, denn das geschah bei mir des Öfteren und ich – „Halt! Behalte dieses Gefühl in dir! Merkst du nicht, dass es der erste Schritt in diese Richtung ist? Die Gedanken haben die größte Macht überhaupt! Bewahre sie und lerne, sie zu nutzen!“ Abermals wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie wunderbar natürlich sie war. Ich kann nicht mehr sagen, was mich am meisten verblüffte, aber besonders ihre Augen wirkten so strahlend, offen und erregend, dass ich es gar nicht beschreiben kann. Ihr Mund war geradezu für ein fröhliches Lachen geschaffen und mir fiel jetzt jedes klitzekleine Detail an ihr auf, das ich zu schätzen wusste. Ohne wirklich darüber nachzudenken, sagte ich nach einerm erbitterten Kampf zwischen meinem Bauch und meinem Verstand: „Du bist schön“.
 
~
 
Das sind meine ersten Erinnerungen an meine wunderbare Frau. Wir lernten einander zu lieben, verbrachten wundervolle Tage und Nächte miteinander, dachten darüber nach, trotz aller Vorurteile homosexuellen Beziehungen gegenüber, ein Kind zu adoptieren und führten häufig tiefgründige Gespräche. Ich lernte sie zu schätzen, bemerkte schnell, was für eine gute Denkerin, aber auch grenzenlos Liebende sie war und hätte mein Leben für sie gegeben.
 
Heute stehe ich hier, wie jeden Tag, lege eine weitere rote Rose auf ihr Grab und frage mich, was sie dazu gebracht hat, das Leben zu verlassen. Am Ende sollte sie wohl recht behalten: „Die Gedanken haben die größte Macht überhaupt…“
Ich bin einfach nur dankbar, dass sie mir beigebracht hat, mich fallen zu lassen, sodass ich nun auf ewig in meinen Erinnerungen bei ihr sein kann, bis ich ihr schließlich auf ihrem Weg folgen werde…

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.03.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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