Diethelm Reiner Kaminski

Überflüssig wie ein Kropf



 
„Was Vernünftiges bringen sie dir da sowieso nicht bei“, sagte Alois Fernleitner zu seinem 14-jährigen Sohn Elias, „ich werde dich von der Schule nehmen. Alles, was du im Leben wirklich brauchst, kannst du von mir viel besser lernen.“
Elias war begeistert. Der Langeweile der sich hinschleppenden Unterrichtsstunden und der Schmähungen der Mitschüler für immer entronnen zu sein, den Vater auf seinen nächtlichen Streifzügen begleiten zu dürfen, dann bis zum Mittag zu schlafen, tun und lassen können, was er wollte, bis die Nacht endlich anbrach. Die war am spannendsten. Das große Abenteuer, von dem Elias immer geträumt hatte, konnte beginnen. Endlich durfte er seinem Vater beweisen, was in ihm steckte.
Alois Fernleitner war ein umsichtiger und besonnener Mensch. Sorgfältig bereitete er jeden Einbruch in allein stehende Villen oder Einfamilienhäuser vor und verschaffte sich erst dann Zutritt zu ihnen, wenn er Umgebung und Gewohnheiten der Bewohner gewissenhaft ausgespäht hatte. Dabei war ihm Elias eine große Hilfe. Ein halbwüchsiger Junge fiel viel weniger auf als ein fremder Erwachsener. Elias war helle, hatte eine scharfe Beobachtungsgabe, ein gutes Gedächtnis, war furchtlos und zuverlässig. Anfangs durfte er nur ausspähen und Schmiere stehen, bald aber hatte ihn sein Vater so weit angelernt, dass er selbst schon Terrassentüren aufhebeln oder geräuschlos Kellerfenster öffnen konnte. So verlockend es mitunter war, was sie in den Schlafzimmern, Schreibtischen und Kleiderschränken der Reichen fanden: Schmuck, Uhren, Münzsammlungen, elektronische Geräte, so hielten sie sich doch eisern an die sich selbst gesetzte Regel, nichts zu stehlen, was die Polizei schnell auf ihre Fährte würde bringen können. Sie hatten es auf Bargeld und Kreditkarten nebst den dazugehörigen Pinnummern abgesehen, mit denen sie noch in derselben Nacht die Konten leer räumten. Dank dieser Vorsichtsmaßnahme blieb das Einbrecherduo jahrelang unentdeckt. Elias ging es richtig gut, denn sein Vater war großzügig, gab seinem Sohn jeweils fünf Prozent der Beute als Taschengeld zur freien Verfügung und legte weitere zwanzig Prozent für ihn auf ein Sparbuch – zur Absicherung seiner Zukunft. Ein feines Leben. Sorglos. Ohne Anstrengung. Frei und unabhängig. So hätte es immer weiter gehen können. Hätte. Wenn sie sich an einem nassnebligen Oktobertag nicht verkalkuliert hätten. Völlig ahnungslos tappten sie in die Falle, die ihnen die Polizei, die ihnen längst auf der Spur war, gestellt hatte. Der heiße Tipp aus der Unterwelt für einen angeblich absolut sicheren und lohnenden Bruch führte sie zwar in eine verdunkelte luxuriöse Villa, aber auch direkt in die Arme der Polizisten, die dort schon auf sie warteten.
Im Jugendknast, der für die beiden nächsten Jahre Elias neue Heimat wurde, machte er nicht den Fehler, sich mit seinen Taten zu brüsten. Dafür hörte er umso aufmerksamer zu, wissbegierig und lerneifrig, wie ein junger Mensch nur sein kann. „Lass dir hier bloß keine Ausbildung zum Schlosser oder Anstreicher aufschwatzen“, sagte Kalle, sein Zellengenosse, „was Vernünftiges bringen sie dir da sowieso nicht bei. Alles was du brauchst für eine sorglose Zukunft, kannst du von mir viel besser lernen.“ Zum Beweis, wie ernst er es meinte, begann Kalle sofort mit seiner Spezialausbildung, angereichert mit praktischen Übungen am lebenden Objekten, nämlich anderen Inhaftierten und dem JVA-Personal. „Nicht gerade die Krone unseres Gewerbes, aber Kleinvieh macht auch Mist“, verteidigte Kalle seine in der Welt der Knackis ganz unten in der Hierarchie angesiedelten Fähigkeiten.
Mit diesem Zuverdienst und den damit verbundenen Annehmlichkeiten hatte Elias während der zwei Jahre wenig auszustehen.
Bei seiner Entlassung war er neunzehn und mit allen Tricks und Raffinessen bestens vertraut. Er blickte ohne Angst in die Zukunft. Er war zwar jung genug, um eine Lehre zu beginnen, und intelligent genug, um den versäumten Schulabschluss nachzuholen, doch der Satz „Was Vernünftiges bringen sie dir da sowieso nicht bei“ hatte sich in seinem Kopf festgesetzt, und niemand weit und breit, der ihn vom Gegenteil überzeugt hätte. Der Erfolg gab ihm Recht. Wozu sollte er sein Leben in einen Schraubstock spannen, wenn alles wie geschmiert lief und er sich ohne große Anstrengung ein unbeschwertes Leben leisten konnte?
Von seinen mittlerweile 40 Lebensjahren hat Elias immerhin 25 Jahre in Freiheit verbracht. Darauf ist er stolz. Drei mehr als sein Vater, der ihm bei seinem letzten Besuch im Knast noch einmal eingeschärft hat: „Lass dir bloß keine Schulung und erst recht keinen Ein-Euro-Job aufschwatzen. Was Vernünftiges bringen sie dir sowieso nicht bei. Bleib bei dem, was du wirklich kannst und gründlich gelernt hast.“
 


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.03.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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