Peter Alexander Lutze

Selbstaufgabe

Ich hatte es immer verneint,ich wollte es nicht hören,wenn Ärzte,Psychologen oder Therapeuten mir
sagten:“Herr Lutze,ihre Sucht fand ihren Anfang in Ihrer Kindheit“.Ich fiel diesen Menschen,die ich
als “nichtwissende Fachleute“ bezeichnete immer ins Wort,ich versuchte ihren Argumenten aufs heftigste zu wiedersprechen.Bei all den Entschuldigungen,die ich mir selbst lieferte,fand ich deren
Erklärungen als absolut sinnlos und verletzend.Warum sollte ich meine Sucht durch eine angeblich
nicht glücklich verlaufende Kindheit entschuldigen dürfen,wenn andere Süchtige die ich im Verlauf
meiner Sucht kennengelernt hatte,eine gehabt haben und trotzdem Drogen konsumierten.
Der springende Punkt war,ich hatte mir noch nie tiefergreifende Gedanken um den Verlauf meiner Kind=
heit gemacht und wie ich sie wirklich empfunden hatte.
Sicherlich hatte sich meine Pflegemutter(Mutter)alle Mühe gegeben,mir ihre existierende
Liebe zu zeigen und sie mich auch spüren lassen.Auch durch die Art wie sie mich erzog,hatte ich nie
das Gefühl,es würde mir irgendetwas vorenthalten.

Zum besseren Verständnis für die Leser/innen möchte ich mitteilen,das ich im Alter von 9 Monaten in
eine Pflegefamilie kam.Die Menschen,die ich in dieser Geschichte als Mutter,Schwester,Bruder usw.
bezeichne,sind für mich wie leibliche Angehörige,deshalb möchte ich sie nicht Pflegemutter oder
Pflegeschwester bezeichnen, da sie mir eine wahre Familie geworden sind.

Die Tochter der Familie Muster arbeitete damals in der Neugeburtenabteilung eines Trierer Kranken=
hauses,als ich dort zur Welt kam.Durch die offensichtliche Ablehnung,die mir meine leibliche
Mutter entgegenbrachte geschockt,überredete sie ihre Mutter solange,bis ich in der Familie Muster
einen Platz als gleichgestelltes Familienmitglied bekam.Sie hatte sich damals in dieses hilflose
kleine Menschlein verliebt,erzählt mir noch heute meine Mutter und nicht eher lockergelassen,bis
sie habe nachgeben müssen.Meine leibliche Mutter habe mich noch nichteinmal sehen wollen,als sie
mich zur Welt brachte.Alle wären geschockt durch ihr Verhalten gewesen,als sie drei Tage nach
meiner Geburt das Krankenhaus verlassen hatte und mit meinem Erzeuger(Vater),einem amerikanischen
Soldaten, Deutschland verlassen wollte um mit ihm in Amerika ihr Leben zu verbringen.
Was damals niemand verstanden hatte war,das mich meine leibliche Mutter trotz ihrer mir gegenüber
ablehnenden Haltung,nicht zur Adoption freigegeben hatte.So konnte mich die Menschen,die mich liebten nicht adoptieren und das Jugendamt blieb bis zu Vollendung meines 18zehnten Lebensjahres
mein Vormund.

Aber auch in meiner zukünftigen Familie gab es Menschen,die diesem so plötzlich erscheinenden,
neuen Familienzuwachs skeptisch gegenüber standen.Es war mein zukünftiger Bruder und der zukünftige
Mann meiner Schwester.Mein Bruder war zwar etwas zurückhaltend in seiner Skepsis aber mein zukünftiger Schwager gab seinen Unmut offen kund.
Nun war er noch nicht der Mann meiner neuen Schwester und hatte demnach keine gewichtige Stimme
innerhalb der Familie Muster und meinem Einzug in diese Familie stand nichts mehr im Wege.

Dies alles waren aber Ereignisse,von denen ich erst Jahre später erfuhr.In meiner Erinnerung erlebte ich eine wohlbehütete Kindheit,in der es an Liebe gewiß nicht mangelte.Ja,ich hatte eine schöne,von viel Zuneigung geprägte Kindheit.Besonders meine Großeltern nahmen mich vorbehaltlos
an,ohne eine Spur von Einwand.So wie ich die ersten Lebensjahre verbrachte konnte mir niemand
erzählen,es hätte mir an irgendetwas gemangelt.
Im Alter von acht Jahren sollte sich durch wessen Entscheidung auch immer,an diesem sorglosen
Erleben meiner Kindheit etwas ändern.Durch einen Schulkameraden erfuhr ich auf eine für ihn typische Art von meiner wahren Herkunft.Mit viel Hähme und Schmäh erzählte er mir genüßlich
wer ich wahr.Ein uneheliches Kind,das bei einer Polakenfamilie wohnte.Ich war noch nicht einmal
sehr verwundert,denn die Worte die er gebrauchte,stammten sicherlich nicht aus seinem Hirn,sondern eher daher,wie er es in seiner Familie gehört hatte.Ich ging nachhause mit der Gewißheit,es gäbe sicherlich eine für mich verständliche Erklärung dessen,was mir dieser Junge erzählt hatte.
Als ich meiner,für mich selbstverständlich richtigen Mutter erzählte,was ich erfahren hatte wurde sie ganz starr und sagte kein Wort.
Ich fragte nocheinmal nach,keinen Gedanken daran verschwendet es könne irgendetwas daran sein,an diesen für mich sehr verwirrenden Erzählungen dieses Jungen.Meine Mutter fing langsam an zu erzählen,sagte Worte,die keinen Zugang zu meinem kindlichen Verstand finden konnten.Nur als sie
mir erzählte,meine “richtige Mutter“habe mich nicht gewollt,dämmerte mir langsam was ich da zu
hören bekam.Einige Vorkommnisse in meiner kindlichen Erlebnisswelt bekamen aufeinmal einen Sinn,der mich total aus der Bahn warf.Ich weiss nur aus Erzählungen meiner Mutter,das ich drei Tage kein
Wort mit ihr geredet habe.Stattdessen waren sie und ich nur verzweifelt und weinten.Diese Zeit habe ich wohl gelöscht,aus meinen Erinnerungen,weil ich damals wohl nur Schmerz empfand.
Es kann wohl niemand sagen,wann die Zeit am geeignesten ist,einem Kind zu erzählen,das die eigene Mutter es abgelehnt hatte es zu lieben.Anders kann ich es nicht ausdrücken.

Es kam noch dazu,daß meine Pflegefamilie Vertriebene waren und es auch noch immer so empfinden,aus
den nach dem zweiten Weltkrieg von den Russen anektierten Ostprovinzen.Besonders für meine Mutter
ist es noch heute sehr schmerzhaft,wenn sie auf dieses Thema zu sprechen kommt.Wenn sie mir Geschichten erzählt aus Ostpreußen,aus den Zeiten ihrer Jugend und Kindheit.Geschichten,aus der
Zeit des zweiten Weltkrieges.Als sie in den Tagen des nahenden “Endsieges“ihren Mann verloren hatte,in den Rußlandfeldzügen.Wie sie ihren Mann geliebt hat und wie sie ihn auch heute noch,
über 60 Jahre nach diesen tragischen Ereignissen,vermißt und darunter leidet.
Sie hatte danach nicht wieder geheiratet.Es gab Männer die an ihr Interesse zeigten,aber diese
Stelle und auch die übrigen,die dieses Thema betraffen,waren nicht mehr zu besetzen.Durch keinen
anderen Mann,wie sehr er sich auch bemühte.Ihr Mann war und ist bis heute ihr Mann,bis auch hier
der Tod einen entgültigen Strich zieht.
Heute kann ich sagen,das in der Zeit als meine Großeltern noch lebten und danach, meine Vorstellungen von Liebe durch die Sichtweise meiner Mutter nachhaltig geprägt wurden.Diese Inten=
sität,Ausdauer und Beständigkeit Liebe zu empfinden ist für mich beispielhaft geworden.Aus
diesem Grund,einer von vielen,aber auch durch mein Suchtverhalten sind meine eigenen Ehen
gescheitert.Es ist bestimmt mit der gewichtigste Grund,meine Sucht,warum meine Beziehungen ge=
scheitert sind,aber auch die für mich so mangelnde Art,meinen eigenen Gefühlen den richtigen
Stellenwert in meinem Leben zu geben,ist traurig und für mich immer noch nicht erklärbar.So sehr
ich mich auch bemühe,mir meine Beziehungen jeglicher Art zu Menschen die mir wichtig waren und
denen die es heute sind,zu erklären,mir ihre Bedeutung klarzumachen,es klaft irgendwo ein
schwarzes Loch.

Gerade aus diesem Grund,vielleicht schwer nachzuvollziehen,habe ich meine Schwierigkeiten,wenn
suchtkranke Menschen ihre Kindheit als eine Art Schutzwall mißbrauchen,wenn es darum geht Ver=
antwortung für ihr eigenens Leben zu übernehmen.Ich kann auch heute,nachdem ich meine leibliche Mutter gesucht und gefunden habe,nicht sagen daß ihre damalige Haltung mein Leben negativ
beeinflußt hat.Es ist eher so,daß nachdem ich sie kennengelernt habe, ich Gott dankbar sein
kann,seine damalige Art mein Schicksal zu beeinflußen heute fähig bin annehmen zu können.Eine
der ersten positiven Schritte in die Richtung ist,mich nicht weiterhin abzulehen und die Sucht aus
meinem Leben nicht etwa zu verbannen,sondern ihr nicht mehr zu erlauben, wie noch nicht
vor allzulanger Zeit mein Leben zu bestimmen.

Trier d.02.03.2003 P.Alexander Lutze

Manch einem Leser wird der Sinn des Titels noch nicht
ganz klar sein.Dieser Teil meiner Autobiographie zeigt
auch nur den Beginn davon,in dem ich andeuten wollte wann führ mich zum ersten mal Reälität nicht nur ein Wort wurde,sondern eine Bedeutung bekam.
Ab dem Zeitpunkt,da ich erfuhr ein Pflege=
kind zu sein,nahm ich gegen alles und jeden eine
opportune Haltung ein.Wer behauptet,ein Kind im Alter
von acht Jahren könne nicht den Sachverhalt von wahr
und unwahr erkennen und es für sich nicht einordnen,
kennt entweder die kindliche Psyche nicht oder hat
seine eigene nie richtig gedeutet.Es hat mich damals
sehr zornig gemacht und ich fühlte mich wie ein weggeworfenes Stück Müll,was keinen Wert mehr hat.Dies
im Bezug auf meine leibliche Mutter.Meine wahre Mutter mußte unter meiner Erkenntnis Jahrzente leiden.
Nicht,das ich in irgendeiner Art und Weise
je ein Gefühl von falschem Stolz entwickelt hätte,eher eines von andauernder Scham.Meine Aggressionen waren wie eine Lawine,die wenn sie einmal ins Rollen kamen,sich in keiner Form von irgendwem oder was aufhalten ließen.Meine Gefühle führten eine Art Eigenleben und entzogen sich lange
Zeit meiner bewußten Kontrolle.Jeder Süchtige,der sich
selbst gegenüber ehrlich ist und irgendwann wird er es
müssen,wenn er nicht dem totalen Realitäsverlust er=
liegen will,kann nur den Beginn der Sucht"schön"finden
Der Rest ist nur ein seelisches Schlammbad.Eine Lüge
reiht sich an die andere und irgendwann muß der sucht=
kranke Mensch entscheiden,was er sein will.Eine Lüge auf zwei Beinen oder mit dem Gesicht im Dreck landen
und sich entscheiden,ob er liegen bleiben will oder
aufsteht.Am Ende bleibt nur die Betäubung ständiger
Deppressionen und die können nur durch Annahme von
Hilfe gelöst werden.Wird das nicht so sein,ist sein
Ende vorprogrammiert.Die einzige Möglichkeit sich
den Status eines trockenen Süchtigen zu erwerben heißt aufhören naß zu denken und das gilt für jede
Form der Sucht.Er muß sich als kranker Mensch erkennen
und bereit sein Hilfe anzunehmen.

Peter Alexander Lutze, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.02.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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