Talula Zimt

Der Schläfer

Noch nie war er auf diesen Berg gestiegen. Er hatte sich nicht vorstellen können, was einen erwachsenen Menschen nur dazu bringen könnte, sich das anzutun. Doch nun verstand er. Die Jahre haben ihn langsam begreifen lassen, was nötig ist, um einen solchen Schritt zu tun.
Die Dämmerung umhüllte ihn bereits von Kopf bis Fuß und der Nebel zog sanft über die Hügel, Felder, Wiesen und Seen seines Heimatdorfes hinweg. Die dunstigen Schwaden umzingelten den Berg, auf dem der abendliche Wanderer noch immer nicht rasten wollte, und erschufen so das Bild einer kleinen Insel, inmitten eines Meeres aus dem Baumkronen wie rettende Boote hervorlugten.
Er, der er nach wie vor nicht dazu bereit war sich zu setzen, einen Moment auszuruhen und über sein Tun nachzudenken, hielt nur kurz inne, damit er noch einmal betrachten konnte, was er wohl nie wieder sehen würde. Seine Vergangenheit machte es ihm einfach sie zurück zu lassen. Nie wieder würde er sich quälend durch die Nächte tragen, mit Augen die sich nach Schlaf sehnten und doch nur salzige Erkenntnis zu Tage fördern konnten. Der Verlust, der ihn schmerzlich seine eigenen Fehler erkennen lies, sollte ihn nun nicht länger durch die Nächte jagen. Nie wieder, würde er stundenlang, regungslos auf seinem Stuhl sitzen, eigentlich im Begriff ein Buch zu lesen, etwas nieder zu schreiben, oder gar essen zu wollen und doch nur dazu im Stande sich mögliche Szenarien auszumalen, über einen Teil seiner Vergangenheit. Wie sie besser hätte verlaufen können. Was hätte getan werden können. Warum er daran schuld war. Wieso sie sterben musste. Warum es nicht ihn hätte treffen können. Fantasiebilder die doch nicht bringen konnten, wonach er sich all die Jahre sehnte. Ein wenig Linderung des Schmerzes.
Diese Lasten, die er über all die Jahre auf seine Schultern geladen hatte, sollte der Schläfer ihm nun ein für alle mal nehmen. Ihm die Erlösung bringen, nach der er so sehnsuchtsvoll zehrte. Keiner Seele wollte er mehr Schmerz zufügen. Weder mit Absicht, noch aus Versehen. Keinem wollte er mehr, durch die bloße Existenz seiner selbst, Kummer bereiten, dachte er. Wie seine Eltern ihn wohl seit dem Tag gehasst haben müssen? Wie oft sie sich wohl schmerzlich dazu zwingen mussten sich ihm gegenüber nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie ihn ab diesem Zeitpunkt verachteten? Hätte er doch nur besser auf seine kleine Schwester aufgepasst. Hätte er sich nur kein Eis gekauft. Möglicherweise wäre sie dann nicht von der Strömung fortgerissen worden und wäre auch nicht ertrunken. Oder er hätte zumindest ein paar Minuten eher Hilfe geholt. Wer weiß denn, ob man sie dann nicht doch hätte retten können?
Während ihm all diese Gedanken durch den Kopf rasten und unaufhörlich auf sein ohnehin von Schmerz zerfleischtes Herz niederprasselten, wie Steine mit denen man auf Seifenblasen wirft, lief er unaufhörlich weiter und wagte es nicht stehen zu bleiben. Er wollte so hoch auf den Schläfer steigen, dass er keine Zeit mehr haben würde auch nur an einen Heimweg zu denken.
Der Berg, der nicht zufällig den Namen „der Schläfer“ trägt, ist bei den Bewohnern des Dorfes dafür bekannt, dass er all jenen, die es wagen eine Nacht auf ihm verbringen zu wollen, für immer die Seele entzieht, sobald sie eingeschlafen sind. Weswegen er unter den hiesigen Anwohnern auch als „Höllenpfad“ bekannt ist.
Nie hätte der, nunmehr durchs Dunkel Wandernde gedacht, dass er jemals diesen Pfad zur Hölle einschlagen würde. Welcher Art er auch immer gewesen wäre. Jahrelang hat er versucht sich Mut zu machen. Sich aufzubauen mit Sätzen wie: „Die Zeit heilt alle Wunden“, „Du bist ihr Sohn und sie lieben dich“, „Du warst 8 Jahre alt und die Strömung war einfach zu stark als das du ihr hättest helfen können“, „Es gibt für alles, was im Leben geschieht, einen Grund.“ Doch eine dauerhafte Linderung seiner Leiden vermochte keiner dieser Sätze ihm zu verschaffen. Nein, es war genug! Er konnte und wollte seiner Vergangenheit und seinen Gedanken nicht mehr standhalten.
Ein Zurück gab es nun eh nicht mehr. Die Nacht zuvor hatte er mit Absicht kein Auge zu getan, damit er ganz sicher tief und fest einschläft, ob er nun Angst davor hat oder nicht. Seine Angst ließ ihn stets zögern und auch jetzt, da er bereits fast am Gipfel des Schläfers angelangt war, musste er immer öfter zurück blicken. Seine Gedanken überschlugen sich. Sein Herz drohte damit zu platzen vor lauter Furcht. Machte er auch sicher keinen Fehler? Es gibt doch für alles eine Lösung, da wird sich doch auch in diesem Fall eine finden? Von hier fort ziehen? Rettungsschwimmer werden und verhindern, dass so etwas wieder geschieht? Möglicherweise die Gedanken niederschreiben, um sie besser zu verarbeiten? Man kann doch nicht wegrennen, wenn es mal schwieriger wird?! All dies ging ihm durch den Kopf und ohne es wirklich gemerkt zu haben, hatte er seine Richtung geändert und lief nun bergab zum Nebelufer. Der Mond erleuchtete seinen Pfad und er blieb einen Moment stehen um zu den Sternen herauf zu schauen, die ihm, wie er dachte, aufmunternd zuzwinkerten. Er hatte nun endlich einmal das Gefühl etwas richtig zu machen und ihm war so, als wäre all der Schmerz der vergangenen Jahre, nie über ihn gekommen. Eine Art innerer Frieden mit sich selbst füllte ihn nun vollständig aus und er sah ruhigen Herzens hinunter zu dem Dorf in dem er aufgewachsen war.
Da sah er einen dunklen Schatten auf sich zukommen. Eine kleine Gestalt, sie war kaum größer als 1,30 m. Der übermüdete Wanderer kniff die Augen zusammen in der skurrilen Annahme er könne dadurch, im Dunkeln, schneller erkennen wer oder was dort auf ihn zu kam. Wenn er doch nur eine Lampe mitgenommen hätte. Es war für ihn klar ersichtlich, dass es ein Mensch sein musste. Ein Kind sogar und je näher es kam, umso mehr konnte er erkennen. Bis sie schließlich vor ihm stand und ihm sein Herz in die Hose rutschte. Sie war es wirklich! Seine kleine Schwester stand vor ihm, nahm seine linke Hand und lachte ihn fröhlich an. „Kommst du mit mir spielen, Bruder?“ Wortlos ging er mit ihr und begriff nun, dass er bereits schlief. Doch als er das bemerkt hatte, war er auch schon tot. Seine Seele vom Schläfer verzehrt und auf ewig in festen Stein gesperrt.      

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.03.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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