Da steht sie nun am Fenster und blickt in den trüben Nachmittag hinaus, der bereits einer früh einbrechenden Dämmerung Platz macht. Grau hängen die Wolken tief in die Berge. Noch hält sie den Hörer in der Hand, sie spürt es nicht. Etwas ist tot in ihr, soeben gestorben. Seine Worte: „ich habe eine andere Frau kennen gelernt…“ klingen in ihren Ohren nach. Nein, schreit sie laut auf, weckt sich damit selber aus ihrer Lethargie. Fragend schaut sie den schweigenden Hörer an, der ihr die Nachricht übermittelte. und hängt ihn in die Gabel. Nein, ruft sie wieder und wirft sich aufs Bett. Das kann doch nicht sein, - das darf nicht sein. Wie ein weidwundes Tier auf den Todesstoß wartet, wartet auch sie - auf etwas, auf das Ende. Was soll ein Leben ohne ihn? Kann sie überhaupt leben ohne ihn?
Nein, nein, nein, hämmert sie mit den Fäusten in die Matratze, dann liegt sie still, wie tot. Tot sein, Sterben, ist ihr nächster Gedanke, alles vorbei, alles aus. In der Leere ihrer Gedanken beginnen sich Bilder zu formen. Bilder des vergangenen Jahres.
Vor etwa einem Jahr hatte es begonnen.
In der großen Stadt waren sie sich begegnet. Ein Blick nur, der die Augen des anderen fesselte. Zufällig stiegen sie in die gleiche Straßenbahn, zufällig an der gleichen Haltestelle aus. Er wollte nicht heimgehen in seine düstere leere Wohnung, so lud er sie kurzerhand in ein Cafe ein. Auch sie wollte nicht nach Hause, eine zerbrochene Beziehung ließ sie ratlos und orientierungslos durch die Stadt irren. Gerne nahm sie seine Einladung an. Sie sprach von ihrer Suche, nach Sicherheit, einer Bleibe, nach Wärme, nach Verständnis, - und fühlte sich zum ersten Mal verstanden. Er erzählte vom Tod seiner geliebten Frau, mit der er lange Jahre eine glückliche Ehe geführt hatte. Es tat ihr weh, wie er von seiner Liebe sprach, von ihrem liebevollen Umgang miteinander, wo alles abgesprochen wurde, wo sie sich einander dankbar zeigten, - all das waren Träume für sie gewesen, die sie nur aus Romanen kannte.
Während sie die düstere Geschichte ihres Lebens erzählte, blickte er sie so offen und ehrlich an, dass sie ihm alles, auch die schlimmsten Dinge, die ihr widerfahren waren, offenbarte. Seine behutsamen Fragen erleichterten ihr das Sprechen. Beim Abschied hielt er lange und fest ihre Hand und sie fühlte sich so sicher und geborgen darin.
War es ein Wunder, dass sie sich öfter sahen, lange Spaziergänge machten, und sich bald auch in seiner Wohnung trafen? Es waren wunderschöne Stunden!
Die gediegene Gemütlichkeit der Räume, nie mehr wieder sollte diese betreten können! Krampfhaftes Schluchzen erschütterte ihren Körper. Nie mehr wieder seine zärtlichen Umarmungen spüren! Ist das noch ein Leben? Wieder in diese Kälte hinausgeworfen? Die erste Umarmung, der erste Kuss, sie spürte noch das Prickeln auf der Haut und das wonnigliche Gefühl im ganzen Körper, wenn er sie berührte.
Kann das wirklich alles aus und vorbei sein? – Ich muss ihn anrufen! Entschlossen steht sie auf, zieht sich das Telefon herüber, wählt die Nummer, wartet auf Verbindung. - - Tut, tut, tut… nichts. Will er nicht abheben, ist er nicht da, - ist er bei – ihr? Müde legt sie den Hörer wieder auf. Totenstille, greifbare Verlassenheit lastet im Zimmer. Sie geht zum Bücherschrank, überfliegt die Titel, nichts sagt ihr zu. Die Schallplattensammlung – sie weckt wehe Erinnerungen. Vieles haben sie gemeinsam gehört, darüber gesprochen, Interpretationsvergleiche angestellt. Sie legt Tschaikowskys Pathethique auf, ihre, zum Schluss auch seine Lieblingsmusik. Der erste Satz spiegelt ihre momentane Stimmung. Dunkel, tieftraurig, sie sitzt vor dem Plattenspieler auf dem Boden, lässt den Tränen ihren Lauf. Traurig hatte sie diese Musik schon immer gestimmt, mit einer Ahnung von Tod, Vergänglichkeit, Trauer, Hoffnungslosigkeit. – Und all dies hatte sich nun erfüllt. Aus und vorbei!
Tagelang sitzt sie nun schon in der Wohnung, wäscht sich nicht, kämmt sich nicht, ist nur halb bekleidet, es kümmert sie nicht. Im Kühlschrank vergammeln die Sachen, sie schaut nicht hinein. Sie sitzt herum und wartet – auf einen Anruf. Einige Male hat sie es wohl selber versucht, ihn am Telefon zu erreichen, ohne Erfolg. Da beschließt sie ihm zu schreiben.
Es wird ein viele Seiten langer Brief, in dem sie ihren Freitod ankündigt. Sie will vom hohen Turm der Laurentiuskirche springen. Spätnachmittags sind nicht mehr so viele Touristen dort oben, so dass sie niemand zurück halten könnte. Oder soll sie mit dem Auto auf die Begrenzungsmauer zurasen? Da würde auch nicht mehr viel von ihr übrig bleiben. Alle möglichen Todesarten denkt sie sich aus, und wie er wohl reagieren würde, wenn er die Nachricht erfährt. Denn er wird sie als erster erfahren, nicht ihre Papiere, sondern seine Adresse wird sie bei sich tragen, wenn sie gefunden wird. Das wird ihre Rache sein, so soll er für sein gebrochenes Versprechen bezahlen! Ewige Liebe hatte er ihr geschworen, sie sei die Frau, von der er ein Leben lang geträumt hatte, die einzige, mit der er sich auf allen Gebieten so gut verstünde, all die schönen Worte, die sie wie am Verhungern gierig aufsaugte. Ja, ihr Herz war wie ein vertrockneter Schwamm gewesen, durch ihn bekam es neuen Lebenssaft, ihre ganze Welt hatte neue Farben erhalten. Wie auf Wolken war sie geschwebt, jeder Schritt, jede Arbeit war ihr so leicht gefallen. Und nun – zurückgeworfen ich ihre Dunkelheit, in noch größere Einsamkeit, vom höchsten Gipfel des Glücks hinabgestürzt in den tiefsten finstersten Abgrund der Verlassenheit, der hoffnungslosen Einsamkeit.
Plötzlich überkommt sie ein unbändiges Verlangen nach einer Zigarette. Früher hatte sie zeitweise recht viel geraucht, dann aber von einem Tag auf den anderen damit aufgehört. Sie schlüpft in den Mantel und die Stiefel, in der Nähe muss doch ein Zigarettenautomat sein, hat sie in Erinnerung. Doch nein, die Spuren an der Wand sind zwar noch erkennbar, - sie aber muss weitergehen.
Plötzlich wird es ihr warm, sie öffnet die Knöpfe ihres Mantels. Eine frühlingswarme Sonne lacht vom Himmel, sie hat sie lange nicht mehr gesehen. Und da fällt ihr Blick auf das erste zaghafte Grün am Wegrand. Wie wunderschön! Gerade vorhin war es doch noch tiefer Winter!! Sie erinnerte sich an dunklen Himmel, schmutzigweiße Wiesen mit grauen Wegen dazwischen. Und plötzlich ist ihr, als ob die Welt neu geboren wäre! Sie lenkt ihre Schritte in den nächsten Park, setzt sich auf ihre frühere Lieblingsbank am Teich. Ihr Platz ist frei, auf der anderen Seite der Bank sitzt eine alte Dame und füttert die ständig hungrigen Enten und die ersten Schwäne.
Schön ist die Welt, auch allein, denkt sie plötzlich, schließt die Augen und genießt die wärmende Sonne.
ChA 03.11
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.03.2011.
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