Christiane Rutishauser

Der Ausreißer

 
Das Haus lag mitten in der malerischen Altstadt. Es stammte aus dem 14. Jahrhundert und hatte sogar einen Namen: Zur Schwarzen Katz.
Die Wohnung selbst war frisch renoviert, ging über zwei Stockwerke, hatte  einen Kamin und eine kleine versteckte Dachterrasse, die einen Ausblick auf die Dächer der umliegenden Häuser und einen kleinen bepflanzten Innenhof bot. Vom Schlafzimmer aus, das im oberen Stock lag, führte eine schmale Stiege zur Dachterrasse hinauf.
 
Linda liebte alte Häuser, denn in solchen Häusern war jedes Zimmer und jedes Detail außergewöhnlich. Das hatte Flair.
Sie war erst vor ein paar Tagen eingezogen. Die Umzugskartons waren noch nicht gänzlich ausgepackt und das klamme Gefühl der Fremdheit, welches sie immer in einer neuen Umgebung verspürte, lauerte auch hier in jeder Ecke. Aber sie war zuversichtlich, dass sie sich in so einer charmanten Umgebung bald einleben würde. Dies war ein neuer Lebensabschnitt, sagte sie sich: ein neuer Job, eine neue Wohnung und vielleicht - eine neue Liebe?
 
Die ersten Sonnenstrahlen lockten sie an diesem Frühlingssonntag mit einer Tasse Kaffee und einem Croissant hinauf aufs Dach.
Die Terrasse war nur spärlich mit einem  Korbsessel und  einem kleinen wackeligen Tisch möbliert. In der Ecke standen ein verblichener Sonnenschirm und einige leere Blumenkübel. Alles war verstaubt vom langen Winter. Das würde sie ändern. Hier würden bald Blumen blühen und witterungsbeständige Gartenmöbel einziehen, dachte sie. Fürs erste begnügte sie sich jedoch damit, die Sachen schnell abzustauben und ein neues Kissen in den Korbsessel zu legen - es war schließlich Sonntag.
 
Zufrieden ließ sie sich in den alten Korbstuhl fallen, biss herzhaft in das Croissant und nippte an ihrem Kaffee. Sie betrachtete müßig, die in der Sonne glänzenden windschiefen Dächer der Nachbarhäuser und den schattigen Hof. Es war still. Ein stiller beschaulicher Sonntagmorgen. Dieser Platz war ideal um sich vor dem Trubel der Welt auszuruhen, dachte sie.
 
Der kleine Kater kam über die Dächer. Er bewegte sich völlig geräuschlos und landete mit einem federleichten Sprung direkt zu ihren Füßen. Sie schätze ihn auf ungefähr sechs Monate. Er hatte eine interessante Fellzeichnung: Die Ohren und das obere Drittel des spitzen Kopfes waren schwarz, Nase, Brust und Bauch waren weiß, der Rücken, die Hinterläufe und der Schwanz wieder schwarz. Es sah so aus, als trage er eine Maske über den Augen und einen schwarzen Umhang.  Sie musste an diesen Film denken, Don Juan, mit Jonny Depp. In diesem Film trug der Schauspieler eine schwarze Maske über den Augen.
„Hallo du kleiner Don Juan“, rief sie dem Kater zu, der sie aus sicherer Entfernung beobachtete. Er trug weder ein Halsband noch ein sonstiges Erkennungszeichen, das darauf schließen ließ, wem er gehörte. Sein Fell glänzte gesund. Er war dünn, aber nicht ausgezehrt und seine grünen Augen leuchteten klar und wach. Vielleicht wohnte er hier irgendwo, oder er war ein kleiner Ausreißer.
 
Nachdem sie sich eine Weile gegenseitig beäugt hatten, stolzierte er zum Dachfenster und verschwand wie selbstverständlich in der Wohnung.
„Halt, stopp wo willst du denn hin?“, rief sie überrascht und beeilte sich, ihm zu folgen. Er schien sich in der Wohnung bestens auszukennen, denn er durchquerte das Schlafzimmer, nicht ohne schnell die Bettpfosten mit seiner Stirn zu markieren,  kletterte die Treppe zum Wohnzimmer hinunter, schnupperte misstrauisch am Sofa und rannte dann in die Küche, wo er vor dem Kühlschrank Halt machte und maunzte.
 
„Soso, war haben also Hunger!“, sagte sie amüsiert, beugte sich herab und strich ihm vorsichtig mit der Hand über den Nacken. Er ließ sie mit einer an Arroganz grenzenden Gleichgültigkeit gewähren.
Aber, als sie die Kühlschranktüre öffnete, brach seine Selbstbeherrschung zusammen und er tänzelte mit fiebriger Nervosität um ihre Beine herum, streckte sich in die Höhe und rieb seine Flanke an ihrer Wade.

„Mal sehen, was ich für dich habe. Du musst nämlich wissen, dass ich Vegetarierin bin. In diesem Kühlschrank ist kein einziges Stückchen Fleisch.“
Don Juan kommentierte ihre Worte mit einem lauten Miau und kratzte sich mit der Pfote hinter dem linken Ohr.
Da sie nichts Fleischiges hatte, goss sie ein wenig Milch in ein Schüsselchen und rührte ein Eigelb hinein, um die Speise etwas gehaltvoller zu machen. Er schien sehr hungrig zu sein. Als sie sah wie er hastig seine spitze kleine Schnauze in die Schüssel tauchte und gierig die goldgelbe Flüssigkeit schlürfte, bestätigte sich ihre Vermutung. Nachdem er geräuschvoll ausgetrunken und die Schüssel mit seiner rosa  Zunge blank geputzt hatte, lief er mit eiligen kleinen Schritten, ohne sich noch einmal umzudrehen, aus der Küche. Er kletterte die Treppe hinauf und durchs Fenster ins Freie. Sie sah ihn mit einem weiten Sprung auf dem Dach des Nachbarhauses landen, bis er aus ihrem Blickfeld verschwand.
 
Von diesem Sonntagmorgen an besuchte er sie täglich. Wenn Sie abends nach Hause kam, wartete er schon auf der Terrasse und scharrte ungeduldig am Fenster. Sie ließ ihn in die Wohnung und er lief schnurstracks in die Küche.
Für Don Juan kaufte sie Katzenfutter, obwohl der penetrante Geruch des Fleischbreis sie anwiderte. Manchmal kochte sie auch für ihn - Hühnchen oder Hackfleisch. Aber beim Anblick des toten wabbeligen Hünchens oder der blutigen Fleischklümpchen, bekam sie eine Gänsehaut.
 
Sie richtete es so ein, dass sie zusammen speisten. Sie aß am Küchentisch und Don Juan aus dem Porzellanschälchen auf dem Küchenfußboden.  Nach dem Essen gingen sie gemeinsam ins Wohnzimmer.
Mit der Zeit wurde er zutraulicher und weniger rastlos. Er ließ sich von ihr hinterm Ohr kraulen und rollte sich neben ihr auf dem Sofa zu einer Kugel zusammen. Manchmal las sie ihm aus der Zeitung vor, während im Kamin die Holzscheite knisterten und knackten, oder sie schauten sich einen Film im Fernsehen an. Wenn ihm eine Sendung gefiel, bewegten sich seine Ohren in konzentrierter Aufmerksamkeit. Die Ohren vollführten die unmöglichsten Drehungen und Verrenkungen, während sein Kopf völlig regungslos blieb. Auch mit den Augen signalisierte er Zustimmung oder Ablehnung, indem er sie entweder behaglich zusammenkniff oder starr und abweisend aufriss. Er konnte die Augen derart aufreißen, dass sie aus seinem kleinen Gesicht lein hervortraten wie Froschaugen.
 
Wenn er manchmal neben ihr auf dem Sofa einschlief, streichelte sie sanft sein seidiges kurzes Fell, spürte die feinen Knochen und Muskeln darunter und das rasche federleichte Pulsieren seines Herzens. Sie mochte ihn.
 
Als er eines Abends nicht auf der Terrasse wartete, war sie sofort in größter Sorge. Drei Wochen lang, hatte er dort jeden Abend um dieselbe Zeit auf sie gewartet. Etwas musste passiert sein. Sie rief im Tierheim an, aber dort war kein Kater, auf den Don Juans Beschreibung passte, abgegeben worden. Jetzt ärgerte sie sich darüber, dass sie ihm kein Halsband angelegt hatte. Ein Halsband passt nicht zu diesem kleinen Vagabund, hatte sie gedacht. Ihr Herz zog sich zusammen. Vielleicht war er von einem Auto angefahren, oder von einem Katzenhasser gequält und verjagt worden.  Nicht einmal ein Foto hatte sie von ihm. Sie brach in Tränen aus und konnte die halbe Nacht lang nicht einschlafen.
Am nächsten Tag meldete sie sich bei der Arbeit krank. Fieberhaft suchte sie die Nachbarschaft nach Don Juan ab und schaute in jedes Kellerfenster und in jeden Hinterhof, ohne ihn zu finden. Er musste doch Hunger haben, immer war er so hungrig gewesen.
 
Am dritten Abend nach seinem Verschwinden war sie ein Nervenbündel. Sie saß vor dem Fernseher und konnte der Handlung des Films nur mit Mühe folgen. Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab und sie war bestimmt schon zehn Mal hinauf auf die Dachterrasse geklettert und hatte nach Don Juan gerufen. Lustlos ging sie in die Küche und vermied es, den Blick auf Don Juans Fressnapf zu lenken. Sie schnitt gerade Gemüse und Zwiebeln für ein Curry klein, als es klingelte.
 
Sie erwartete niemanden. Dann hörte sie ein leises Maunzen und ihr Herz schlug lauter. Sie rannte fast zur Tür und riss sie auf. Ein Mann stand draußen auf ihrer Fußmatte, hielt den wild zappelnden Don Juan im Arm und grinste schief. Er erinnerte sie an irgendjemanden. Die Jeans schlotterte ein wenig um seine schmalen Hüften und die dunklen Locken standen ein wenig wild von seinem Kopf ab.
 
Er lockerte seinen Griff und der Kater sprang mit einem Satz in die Wohnung und lief schnurstracks in die Küche. 
„Es tut mir leid“, sagte eine weiche angenehme Stimme, „Findus läuft immer wieder hierher zurück zu unserer alten Wohnung. Ich kann ihn einfach nicht davon abbringen. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Wir sind vor zwei Monaten hier ausgezogen, aber er läuft immer wieder zurück.“
 
„Findus? Das ist sein Name?" , sagte sie erstaunt und trat zur Seite um den Unbekannten herein zu lassen.
„Ich habe ihn immer Don Juan genannt, wegen der Maske.“
Er lachte.
„Warum sind Sie ausgezogen?“
Er zuckte verlegen die Schultern, so als wäre ihm die Frage unangenehm.
„Die Wohnung ist ziemlich teuer“, murmelte er nur, schaute sich aber ein wenig wehmütig um.
Der Kater maunzte laut in der Küche vor dem Kühlschrank und sie sagte verlegen: „Ich habe ihn gefüttert. Ich wusste ja nicht, dass er jemandem gehört. Er sah aus wie ein kleiner Streuner. Er trug kein Halsband.“
„Ein Halsband passt nicht zu ihm“, sagte der Unbekannte.
Sie nickte zustimmend.
 
Findus umkreiste in der Küche ungeduldig den Futternapf. Sie beeilte sich, holte eine Dose Katzenfutter aus dem Küchenschrank und füllte das Schüsselchen. Lächelnd beobachteten Sie gemeinsam wie der Kater gierig die Fleischstückchen hinunter schlang.
„Er ist einfach immer hungrig. Er wächst noch“, sagte er entschuldigend.
„Es hat mir Freude bereitet ihn zu füttern“, erwiderte sie schnell.
Er lächelte schief.
„Oh, wir stören Sie beim Kochen“, meinte er dann mit einem Seitenblick auf die kleingeschnittenen Karotten und Frühlingszwiebeln.
Ihre Blicke trafen sich. Er schien hungrig zu sein und Linda fragte sich, ob er wohl Vegetarier war? Auf jeden Fall hoffte sie, dass er zum Essen blieb.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.03.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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