Aleksandar Gievski

Kein ganz normaler Arbeitstag


Vor einem Jahr wurde der Bau des Wohngebietes mit den siebenundzwanzig Reihenhäusern beschlossen, nachdem der Bauer sich endlich hat überreden lassen einen Bruchteil seines Feldes, das sich direkt am Stadtrand befindet, zu verkaufen. Kurz darauf haben die ersten Bagger angefangen die Keller auszuheben. Jetzt, ein Jahr später stehen alle siebenundzwanzig Haushälften an ihrem Platz, aufgeteilt in drei Reihen. In einigen sind schon die ersten Familien eingezogen. Andere Häuser, die vermutlich noch nicht  verkauft wurden, sind noch im Rohbau.
In der zweiten Reihe, ziemlich in der Mitte befindet sich das einzige Doppelhaus. Völlig identisch mit den Nachbarhäusern von der Farbe und Höhe. Die rechte Eingangstür steht weit offen. Baulärm erfüllt das gesamte Gebiet. Im Haus drin überdeckt der graue Estrich den Boden wo bald vielleicht Fliesen, Parkett oder Laminat verlegt werden. Nach der Tür links befindet sich das Gäste-WC, indem nur Unterputzbaukörper darauf hinweisen was nach dem Fliesen noch montiert wird. Davor erstreckt sich ein vier Meter langer Gang. Wieder links kommen die Treppen die halb gewendelt nach oben und unten führen. Die hintere Treppe führt in den Keller. Die Stufen sind nur provisorisch aus Brettern zusammengeschustert worden, die sich bei jedem Schritt so anfühlen als ob sie durchbrechen oder wegrutschen würden weil sie auch stümperhaft befestigt wurden. Im Keller ist es tief dunkel. Man kann nichts erkennen wenn man in die Räume schaut. Nur aus einem Eck, wenn man rechts in die Waschküche geht, befindet sich dahinter noch ein kleiner in die Länge gezogener Raum aus dem Licht scheint. Der Elektrolehrling Benni hat sein gesamtes Werkzeug über den gesamten Fußboden verteilt und arbeitet an dem Sicherungskasten der an der Wand hängt. Das Licht geht aus. Fluchend kramt er in seinen Hosentaschen nach seinem Feuerzeug. Er kontrolliert die Sicherungen und den FI-Schalter aber es scheint alles in Ordnung zu sein. Er kämpft sich mit dem bisschen Licht was das Feuerzeug hergibt, über seinen Saustall auf dem Boden, zur Treppe. Dort aber ist es immer noch dunkel. Er schaut auf. Nur ein schwaches Licht das vermutlich von draußen durch irgendein Fenster scheint und sich an der Wand als Rechteck widergibt ist zu erkennen. Er geht nach oben über die knarzenden Stufen. Im Erdgeschoss muss er stehenbleiben weil sein Feuerzeug zu heiß geworden ist. Die letzten paar Meter tastet er sich an den Wänden voran und geht durch die noch immer offen stehende Eingangstür nach draußen. Was er jetzt sieht lässt ihn für einen Augenblick erstarren. Alles ist verschwunden. Die Straßen, die Wege, die Autos, die anderen Häuser, die Bauarbeiter die wie Ameisen umhergelaufen sind, die linke Doppelhaushälfte und sogar die ganze Stadt. Alles wurde eingetauscht für ein, kurz vor der Ernte stehendes, Maisfeld. Der nicht allzu helle Junge verzieht seine Fratze zu einem dümmlichen Gesicht und dreht sich ein paarmal im Kreis. Es ist totenstill und mitten in der Nacht. Die Sterne funkeln und der Vollmond scheint herab. Benni begreift immer noch nicht was passiert ist und geht einmal um die alleinstehende Doppelhaushälfte. Er entdeckt einen Weg der durch das Feld in Richtung Osten führt. In das Haus zurück zu gehen würde keinen Sinn ergeben und deswegen beschließt er weiter zu gehen. Mit einem letzten Blick verabschiedet er sich.
Der Weg ist eigentlich kein Weg, sondern eine Bauernstraße die links und rechts vom Traktor tief gefahren wurde, so dass in der Mitte ein begrünter Hügel entstanden ist. Es ist schwer auf so einer unebenen Straße zu gehen und vor allem in der Nacht wenn der Mond die einzige Lichtquelle ist und man den Boden nur als hellere und dunklere Schatten ausmachen kann. Aus dem Grund versucht Benni in der Mitte zu gehen weil sich das Gras heller abzeichnet. Oft genug passiert es, dass er wegrutscht aber seine Konzentration bleibt auf dem Streifen vor ihm. Dadurch merkt er aber nicht wie sich seine Umgebung langsam ändert. Als er losging konnte er gerade noch über das Maisfeld rüber schauen. Mittlerweile sind die Maisstängel auf die dreifache Höhe angewachsen. Wie in einer Schlucht kommt man sich vor, nur dass man von unnatürlich hohem Mais umringt ist und nicht von Felsen.
Es zieht eine Windböe über das Feld und lässt den Mais wie wild wackeln und erfüllt die Stille mit lautem Rascheln. Benni wird durch den Druck nach vorne geschubst. Abrupt wird es wieder still. Er bleibt stehen und schaut sich das erste Mal um. Verwirrt über die drei bis vier Meter hohen Maisstängel versucht er tiefer in das Feld links von ihm hinein zu schauen, aber er kann nichts erkennen. Starr sein Blick ins Dunkle gerichtet könnte man denken er warte darauf, dass seine Augen auf Nachtsichtfunktion umschalten, bis ihn eine Bewegung, nur ein paar Meter vor ihm, aufschrecken lässt. Jetzt auch hinter ihm im anderen Feld, eine Bewegung bzw. ein Rascheln das ihn zwingt ruckartig seinen Kopf danach umzudrehen. Umzingelt von Kreaturen? Zuerst mit langsamen Schritten dann immer schneller dann setzt er zum Sprint an. Er läuft um sein Leben, stolpert ab und zu - doch davon lässt er sich nicht aufhalten. Sein Lauf wird erst von einem Hügel gestoppt der sich am Ende der Straße wie ein Deich vor ihm erstreckt. Auf allen Vieren kraxelt er hinauf und rollt recht unelegant auf der anderen Seite wieder runter.
Kurz nur scheint er die Orientierung verloren zu haben doch er kommt schnell wieder auf die Beine.
Wieder ist nichts so wie es war. Der Hügel, den er gerade runter gefallen war, ist verschwunden. Er steht mitten in einem Wald, umringt von lauter schmalen Bäumen. Der Boden auf dem er steht ist bedeckt mit Nadeln. Der Tag scheint auch anzubrechen, denn die Morgenröte wird durch die Bäume sichtbar.
Ganz außer sich und hektisch versucht er einen Weg zu finden der ihn hier raus holt, bis er nicht kurz inne halten muss. Vom seichten Wind getragen, der um seinen Kopf weht, hört er jemanden seinen Namen flüstern. Pure Panik lässt ihn sofort wieder los rennen. Er läuft der aufgehenden Sonne entgegen und versucht so gut es geht den Bäumen auszuweichen. Hinter sich hört er mehrere, vielleicht sogar ein ganzes Rudel Wölfe aufheulen, was ihn dazu veranlasst schneller zu werden. Das Ende des Waldes wird sichtbar. Er versucht hin und wieder sich umzudrehen um herauszufinden wie weit seine möglichen Verfolger entfernt sind. Aus einem guten kurzen Blick heraus kann er keine erkennen und der wahrscheinlich vor ihm liegende Ausgang lässt sein Gesicht in Zuversicht erstrahlen. Doch dann fällt er tief. Nur wenige Schritte vor der rettenden Lichtung schlängelt sich ein verschmutzter Waldbach hinweg, der sich im Laufe der Zeit gute zwei Meter in den Waldboden gegraben hat und in der Benni ohne zu bremsen hineingeplumpst und hart aufgeschlagen ist. Starke Schmerzen lassen ihn laut aufschreien. Sein Gesicht verzogen. Nur noch ein paar Meter. Mit letzten Kräften zieht er sich aus der Kloake den kleinen Abhang hinauf. Oben angekommen lässt er sich zwischen zwei Bäumen endgültig fallen. Er schaut Richtung Osten. Genau in diesem Moment geht die Sonne auf. Sie strahlt in einer noch nie davor gewesenen Stärke und blendet ihn so sehr dass er seine Augen mit seinen Händen schützen muss.
Ein Kehrbesen trifft Benni auf der Brust und drückt ihn von dem Sicherungskasten weg, so dass er auf seinem Hintern landet. Zuckungen schießen noch durch seinen Körper. Ein etwas älterer Arbeitskollege kniet sich neben ihn und hält seinen Kopf  fest, dass er sich den nicht stößt und schwer verletzt.
„Junge, Junge! Geht’s dir gut?“ fragt sein Kollege.
„Sprich zu mir.“
Er nimmt Benni in die Arme und drückt ihn fest an sich.
„Ich ruf gleich den Krankenwagen. Es wird alles wieder gut.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.03.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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