Diethelm Reiner Kaminski

Goldene Zeiten



Herr Overbeck wird fast angerempelt von der leicht verwahrlost wirkenden Frau. Entweder hat sie das absichtlich getan, um ihn zum Stehen zu bewegen oder sie hat vor sich hingedröhnt. Betrunken vielleicht? Mit einer Hand hält sie ihn am Arm fest. Vielmehr versucht sie es. Mit einer verächtlichen Bewegung schiebt Herr Overbeck die schmierige Pfote beiseite.
„Schmierige Pfote“, sagt er aber doch nicht, und als diese ihm jetzt einen goldenen Ring unter die Nase hält, sieht er, dass die Hand alles andere als schmierig ist, sie wirkt sogar sehr gepflegt, als hätte sie noch nie arbeiten müssen, und eine Alkoholfahne schlägt ihm auch nicht entgegen.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagt die Unbekannte, „ich bin in einer vorübergehenden Notlage. Ich bin gezwungen, meine Wertsachen zu verkaufen. Würden Sie mir diesen Goldring abkaufen? Sehen Sie den Stempel hier. 585. Ich verkaufe ihn Ihnen weit unter Wert.“
„Und warum versuchen Sie es nicht bei einem Juwelier?“
„So wie ich aussehe, glaubt der doch, ich hätte den Ring gestohlen.“
„Und haben Sie?“
„Natürlich nicht. In meinem ganzen Leben habe ich noch nichts
gestohlen. Ich wünsche Ihnen nicht, dass Sie jemals in meine Lage geraten.“
Herr Overbeck erinnert sich an Zeitungsberichte von Trickdieben, die wertlosen Schmuck als echt ausgeben. So dumm und leichtgläubig ist er nicht. Auf solche primitiven Tricks fällt er nicht rein.
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich lasse den Ring beim nächsten Juwelier auf seine Echtheit prüfen und dann gebe ich Ihnen ein Drittel des geschätzten Preises dafür.“
„Die Hälfte wäre mir lieber. Ein Erbstück meiner Mutter, verstehen Sie. Wenn man das schon hergeben muss …“
„Tut mir leid“, bleibt Herr Overbeck hart, „ ich muss den unnötigen Kauf ja auch vor meiner Frau rechtfertigen.“
„Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Ich habe schon ein Dutzend Leute angesprochen und jedes Mal eine Abfuhr erhalten. Und bis Kassenschluss muss ich meine Miete überwiesen haben.“
„Ein edles Stück, massives Gold“, sagt der Juwelier, „mindestens hundert Jahre alt, das ist was für Liebhaber. Ohne genauere Prüfung würde ich den Wert auf achthundert Euro schätzen. Ich könnte Ihnen 450 Euro dafür anbieten. Mehr nicht wegen der unsicheren Herkunft. Oder können Sie einen Nachweis beibringen?“
Herr Overbeck ist zufrieden. Wenn der Juwelier achthundert sagt, kann man getrost vierhundert drauflegen. Wenn er der Frau den Ring für 150 abkauft, hat er ein irres Schnäppchen gemacht und seiner Frau eine Riesenfreude. Die Frau wartet an der nächsten Straßenecke auf Herrn Overbeck.
„Und?“, fragt sie mit ängstlicher Stimme.
„Dreihundert hat er mir geboten. Er hat Angst, dass es sich um Hehlerware handelt.“
„Nur?“, fragt die Frau enttäuscht und nimmt den Ring entgegen, aber mit so zitternden Fingern, dass er ihr aus der Hand fällt und einen halben Meter den Bürgersteig entlang kollert, bevor er dicht vor dem Kantstein liegen bleibt. Herr Overbeck hebt ihn auf.
„Das wäre fast schief gegangen“, sagt er. „Wollen Sie nun oder wollen Sie nicht?“ „Was bleibt mir anderes übrig“, sagt die Frau zerknirscht und nimmt den Hunderter an, den Herr Overbeck aus der Brieftasche zieht und ihr hinhält.

 
„Ein Schnäppchen nennst du das?“, empört sich Frau Overbeck, „Hundert Euro für einen wertlosen Ring, den du für 50 Cent auf jedem Trödelmarkt kaufen kannst? Und dann noch so tun, als ob du mir eine Freude machen möchtest. Mir eine solche Geschichte aufzutischen. Armes Opfer einer Trickdiebin? Das nehme ich dir nicht ab. So blöd bist du dann doch nicht. Bestimmt hast du das Geld  verzockt und traust dich nicht, es zuzugeben.“


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.03.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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