Vadim Pryde

Fragmente, oder die Kunst zu sterben. - Teil 1

Es war ein windiger und nicht allzu heller Spätnachmittag, es nieselte und in der Luft hing diese klebrige Atmosphäre, die sich nicht entscheiden kann ob es nun kälter und nasser wird oder die Sonne den Asphalt wieder trocknen würde. Victor saß auf einer Parkbank, seit Stunden schon und spürte das Ende nahen. Er wusste nicht genau wann oder wie, er wusste nur eines: bald. Viel zu bald.

Er hatte die letzten Jahre damit zugebracht, die wackelige Antwort auf den Sinn seines Hierseins zu untermauern und nun saß er hier. Auf einer verwitterten Parkbank, draußen im noch nicht einmal regen an einem Donnerstagnachmittag. “Irgendwie unbefriedigend”, dachte er sich. “Den ganzen Weg bis hier her und hier sitze ich nun, spüre das Ende schon und habe der Welt nichts mehr mitzuteilen, weil es nichts ändern würde.”

So saß er da eine ganze Weile und schaute wie an ihm Menschen vorbeigingen, alle in ihren eigenen Gedankenwelten, Sorgenuniversen und Leidzyklen gefangen. Jeder einzelne ein Ozean der Trauer mit einem Mitgefühlsverbrauch wie diese miesen Fernsehshows die versuchen einem ein schlechtes Gewissen zu bereiten weil man als anerkannte Couch-Potato nicht genug für Landminenräumung in Laos spendet und unbekannte Tier- und Menscharten im Minutentakt gleich dutzendweise vor die Hunde gehen.

Doch Vic waren diese Menschen egal. Hauptsächlich, weil es nichts ändern würde, wenn sie es ihm nicht wären. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr Ambivalenz keimte in ihm auf. Einerseits konnte er sich in seiner etwas dissoziierten Betrachtung für allerhand Details begeistern, jede mikroskopische Kleinigkeit konnte ungeahnte Faszination und Perfektion ausstrahlen, wie profan sie auch war. Andererseits gingen ihm die Menschen auf den Geist, weil jedes Problem schon mal dagewesen ist, gelöst wurde, ein Buch darüber verfasst, metaphorisch übertragen und von der Gesellschaft einem Wiederkäuer gleich von vorn verdaut wurde.

Hochziehen, nochmal etwas nachkauen und ab in den nächsten Magen damit. Und noch ein Buch darüber. Und vielleicht auch eine Fernsehsendung. Mit Studiogästen und natürlich zwei Experten mit konträren Meinungen. Das einzige worauf sich solche Herrschaften einigen können ist der Satz “der andere hat unrecht.” Und wie es nicht umsonst so schön heißt, die meisten Menschen vergessen, daß man ohne Multitasking-Einbußen gleichzeitig sowohl recht haben als auch ein Idiot sein kann. Was für eine wundervolle Welt. Victor unterdrückte seinen leichten Brechreiz und ließ seinen Blick über die Szenerie wandern.

In diesem kleinen Park war alles vertreten. Spielende Kinder, die noch nichts von dem was sie umgab verstanden, die immer haben wollten und von ihren Eltern mal mit Süßigkeiten mal mit Herzlosigkeiten vollgestopft wurden. Junge Schulschwänzer in kleinen Fünfergrüppchen, die sich gerade um Mathe und Englisch drückten, die besonders harten mit einem Bier in der Hand, die eher zögerlichen mit einer Zigarette, Pärchen gestapelt wie Säcke die man übereinander geworfen hatte – und das alles doch nur unter einer vor Oberflächlichkeit und Emotionsunfähigkeit triefenden Maske des noch so angesagt seins. Angst sich anzusehen, Angst davor die Gesten so zu meinen wie man sie abhandelt, mit einer Herzhaftigkeit eines toten Herings der vom Himmel fiel.

Echte Pärchen sind heute keine da – oh halt, doch, da hinten ist eins. Sie, auffällig gekleidet, selbst- und modebewusst, er braungebrannt und mit gegelten Haaren. Sie bewegt sich als dürfen sich ihre Knie nicht berühren, er bewegt sich als dürften seine nicht auseinander. Und das ganze Händchenhaltend auf dem Kiesweg. Die sind auch nur unwesentlich Älter als die Schulschwänzer. Ich denke er verkauft DSL-Anschlüsse und sie modelt in ihrer Freizeit – und wenn irgendwer von ihr bei einer dieser Glamourkoksparties ein Schmuddelfilmchen dreht und es ins Netz stellt, was dann jemand anders über einen Internetanschluss, den man bei ihm gekauft hat sich anguckt, schließt sich der Kreis des Lebens wieder.
Dann wird er ein halbes Jahr so tun als hätte er das nicht gewusst und sie ein viertel Jahr als wäre sie nie auf dieser Party. Und da keiner miteinander redet, wird auch keiner auf die Idee kommen, daß es dem anderen egal wäre, weil man eben den Menschen lieben kann egal was er tut, denn es ist ja alles ein Teil dessen was er ist. To do is to be. Do be do be doo. “Optimismus liegt in der Luft”, dachte sich Victor, als er eine weitere dieser Sargnägel aus dem Knitterpäckchen schüttelte und den Duft des Frühlings in der seligen Monotonie des immer gleich billig schmeckenden Rauches versenkte.

Angeblich starb man, wenn man genug von den Dingern in sich aufgenommen hatte. Er wartete bis heute. War vielleicht einfach nicht sein Tag.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.03.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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