Hermann Weigl

Die Drachenreiter von Arctera (Teil 12)

„Vater, ich habe ihr versprochen, dass ihr nichts geschehen wird. Sie ist freiwillig mit mir gekommen. Und sie kann gehen, wann sie will.“
Im Gesicht des Königs arbeitete es. Er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.
„Sieh sie dir an, Vater“, sagte Tarrabas, und ging einen Schritt zur Seite. „Sieh ihr in die Augen. Kannst du in ihrem Gesicht etwas Boshaftes erkennen?“
Königin Aleksandra trat neben ihren Mann. Ihr Haar hatte sie zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt, und sie trug ein reich besticktes Kleid aus heller Seide. „Es ist wahr, was er sagt. Sie ist die Tochter, die ich mir immer gewünscht habe. Und ich kann nicht Böses an ihr erkennen. Sie ist ein liebreizendes Geschöpf.“
„Vater“, sagte Tarrabas. „Ich habe über Dinge zu berichten, die von äußerster Wichtigkeit sind. Bitte hör mir zu.“
Auf einen Wink des Königs hin, der nach wie vor die Prinzessin finster anstarrte, begann der Prinz zu sprechen, und berichtete von seinem ersten Zusammentreffen mit der Prinzessin, der Prophezeiung, seinem Flug ins Nebelgebirge, vom Drachenkönig, seinem Bündnis mit Zarn, dem Rückflug, und dem geheimnisvollen Buch.
Der Zorn des Königs verrauchte allmählich im Laufe dieses Berichtes.
Elisabietha reichte dem Prinzen das Buch, der es seinem Vater zeigte.
„Was mögen diese Worte wohl bedeuten, Vater? Und warum wurde dieses Werk so sorgfältig versteckt?“
„Ruft nach Giorgio“, wies der König einen Diener an.
Der Gelehrte, der nach einiger Zeit in den Saal geeilt kam, war wohl so alt wie Gaius. Er trug schwarze Hosen und eine dunkelrote Weste. Sein dunkles Haar zeigte schon die ersten Spuren von grau. Wache Augen glitten über die Anwesenden, und verweilten für einen Augenblick auf der Prinzessin.
„Bitte verzeiht, Majestät“, begann der Mann atemlos. „Aber die Kunde von diesen beiden Kreaturen… Ich war dabei, mit einigen Wachleuten zu sprechen, die sie mit eigenen Augen gesehen hatten, als…“
„Girogio“, unterbrach ihn der König ungeduldig, und wies auf das Buch, das aufgeschlagen auf einem Tisch lag. „Könnt Ihr diese Schrift lesen, oder übersetzen.“
Der Gelehrte überflog die Zeilen, blätterte mehrmals um, und erstarrte. „381! Bei den Seelen aller meiner Vorfahren. 381. Alleine die Tatsache, dass es von hohem Alter ist, macht es zu einem bedeutenden Fund.“
„Ihr könnt es also übersetzen. Dann lest es vor.“
„Das ist mir leider nicht möglich, Majestät. Ich kann diese Ziffern erkennen, welche eine Jahreszahl bilden, aber die Schrift an sich ist mir unbekannt. Ich könnte jedoch in meinen Büchern nachsehen, ob… Eigentlich müsste es möglich sein, wenn…“ Auf seiner Stirn bildete sich eine steile Falte.
„Dann tut das. Ihr dürft gehen.“
Der Mann schlug das Buch zu, nahm es wie einen kostbaren Schatz auf, verbeugte sich und eilte davon.
Die Königin tat einen Schritt auf Elisabietha zu. „Prinzessin, Ihr seid sicher erschöpft von der langen Reise. Möchtet Ihr ruhen, oder vielleicht ein Bad nehmen? Meine Zofen werden sich um Euch kümmern.“
Elisabietha lächelte die Frau an. „Für ein Bad wäre ich Euch sehr dankbar.“

Die Prinzessin genoss die wohlige Wärme des Wassers, dem man duftende Kräuter beigemengt hatte. Zwei Zofen umsorgten sie, reinigten ihre Kleidung, und legten frische Garderobe bereit. Man hatte ihr ein Gemach zugewiesen, das ganz in der Nähe des Zimmers des Prinzen lag, und sie freute sich darauf, in einem bequemen Bett schlafen zu können.
Elisabietha fand es zutiefst beruhigend, dass es auch hier im Feindesland Freundlichkeit gab. Das fürsorgliche Verhalten der Königin war nicht gespielt. Es kam von ihr selbst, aus ihrem Herzen. Der König hingegen erinnerte sie an ihren eigenen Vater. Er liebte seinen Tochter und seine Frau. Aber sobald die Rede auf das verfeindete Königreich kam, wurden seine Gesichtszüge hart und unerbittlich.
Warum nur konnten diese Menschen nicht ihre Streitigkeiten beenden, und in Frieden miteinander leben?

Am nächsten Morgen rief der König nach seinem Gelehrten. Der Mann erschien wenige Augenblicke später mit dem Buch in seinen Händen.
„Nun, Giorgio. Was steht dort geschrieben?“
Die Augen des Gelehrten waren gerötet, und sein Gesicht blass. „Majestät, ich habe alle Bücher über fremde Sprachen und Schriften zu Rate gezogen, die ich finden konnte - jedoch ohne Erfolg. Es scheint, dass eine Art von Verschlüsselung vorliegt, die ich nicht verstehe.“
„Dann könnt Ihr also nicht sagen, was dort geschrieben steht?“
„Ich konnte das fremde Alphabet - wohlgemerkt das älteste, das mir je zu Gesicht gekommen ist - in unsere Schriftzeichen umsetzen, und ich konnte auch einen Teil übersetzen. Aber es ergibt einfach keinen Sinn.“
Elisabietha sah dem Mann die Enttäuschung über sein Misslingen an, und empfand Mitleid für ihn.
„Nehmt dennoch meinen Dank, Giorgio. Ihr habt mir schon viele wertvolle Dienste erwiesen. Und wenn Ihr sagt, Ihr habt alles versucht, dann glaube ich Euch.“
Die Prinzessin nahm den Wandel im Verhalten des Königs mit Erstaunen wahr. Er war nicht mehr der tyrannische Heerführer des Vortages, sondern er verhielt sich wie ein gebildeter, weiser Herrscher, den Jahrzehnte des Regierens geformt hatten.  
Tarrabas nahm von dem Gelehrten das Buch entgegen, der sich nun verbeugte, und zum Gehen anschickte.
„Majestät, darf ich sprechen?“, fragte die Prinzessin.
Der finstere Blick, den der König der jungen Frau zuwarf, verhieß nichts Gutes. Aber die Differenzen, die ein ganzes Leben lang bestanden hatten, ließen sich nicht über Nacht beseitigen.
„Unser Gelehrter Gaius verfügt über eine umfangreiche Bibliothek. Womöglich könnte er mit Eurem Gelehrten Giorgio zusammen das Rätsel der alten Schrift lösen.“
„Ihr wollt also eine weitere feindliche Person in meine Burg bringen?“
Daran hatte sie nicht gedacht, und es erschreckte sie, dass ihr guter Wille so missverstanden wurde.
„Und wenn Euer Gelehrter mit mir geht...?“, schlug sie vor.  
„Ich soll Euch begleiten?“, entfuhr es Giorgio. „Womöglich auf der fliegenden Kreatur?“
„Gaius pflegt immer zu sagen: Wenn es um eine wissenschaftliche Erkenntnis geht, ist es dann nicht unbedeutend, wie sie an mich herangetragen wird?“
Den Gelehrten schien diese Aussage zu beeindrucken. Deswegen sprach Elisabietha weiter: „Gaius ist ein Mann der Wissenschaft, genauso wie Ihr. Er hat studiert. Er hat mich unterrichtet, und ich kenne keinen anderen Mann, der über mehr Wissen verfügt, als er.“ Sie wandte sich dem König zu: „Majestät, ich verbürge mich für die Sicherheit Eures Gelehrten.“
„Nun, was sagt Ihr, Giorgio?“, meinte er.
„Der Gedanke, mich auf einen Drachen zu setzen, erfüllt mich mit Unbehagen.“
„Sollte er nicht Euer wissenschaftliches Interesse wecken?“, widersprach Elisabietha. „Ihr könnt dieses Wesen nicht nur aus nächster Nähe betrachten. Ihr könnt es sogar in seiner natürlichen Umgebung studieren.“
Ein Leuchten erschien in den Augen des Gelehrten, das der Prinzessin zeigte, dass sie gewonnen hatte.

Der Zeitpunkt des Abschieds war gekommen. Elisabietha stand mit dem Gelehrten, in Begleitung von Tarrabas und einem Dutzend Soldaten auf der Wiese - dort wo sie am Vortag angekommen waren.
Einerseits war die Prinzessin froh, dass sie jetzt wieder nach Hause kam. Andererseits tat es ihr weh, nun von Tarrabas getrennt zu werden.
Der Prinz sah ihr tief in die Augen, und sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. „Wenn ich die Wahl hätte, Elisabietha, so würde ich keinen Augenblick lang zögern.“
„Das würde ich auch nicht.“
„Ich verspreche dir, ich werde Eleonara nicht zur Frau nehmen.“
„Und auch ich werde mich weigern, den für mich vorgesehenen Mann zu heiraten.“
Wie gerne wäre sie nun in den starken Armen des Prinzen gelegen, aber hier vor all den Leuten hätte es eine Verletzung der Hofetikette bedeutet, und sie wagte sich nicht vorzustellen, wie der Vater des Prinzen darauf reagiert hätte.
Überraschte Ausrufe der Soldaten ließen sie ihren Blick von den dunklen Augen des Prinzen lösen. Unari schwebte heran, und ging in einer eleganten Bewegung auf der Wiese nieder.
„In Gedanken bin ich bei dir, Tarrabas.“ Mit diesen Worten wandte sie sich ab, und ging auf die Drachin zu.

König Erkul reagierte nicht minder ungehalten auf die Anwesenheit des Gelehrten, als Pelias auf die Prinzessin.
Es gelang Elisabietha jedoch, ihren Vater von der Bedeutung ihrer Reise und es ungewöhnlichen Fundes zu überzeugen, und er willigte ein, dass Giorgio zusammen mit Gaius versuchen sollte, die antike Schrift zu übersetzen.
Sie selbst geleitete den fremden Gelehrten zu Gaius’ Raum, und stellte ihn vor.
Gaius deutete eine leichte Verbeugung an. „Es ehrt mich, einen Kollegen der Wissenschaften in meinem Raum empfangen zu dürfen.“
„Die Ehre ist auf meiner Seite“, erwiderte Giorgio, und machte eine Geste, die den ganzen Raum umschloss. „Wie ich sehe, verfügt Ihr über eine umfangreiche Bibliothek.“
„Ich gebe zu, dass ich nicht minder stolz darauf bin.“
„Ihr habt allen Grund dazu.“
Die Prinzessin atmete erleichtert auf. Zwischen Männern der Wissenschaften schien es nicht die starrsinnigen Differenzen wie zwischen Monarchen zu geben.
Gerade reichte Giorgio Gaius das Buch, und berichtete von dessen Ursprung und seinen Bemühungen, die Schrift zu deuten.
Elisabietha ließ die beiden Gelehrten alleine. Als sie auf den Gang hinaustrat bemerkte sie Wachen, die neben der Türe postiert waren.
Sie seufzte. Ihr Vater war eben ein vorsichtiger Mann.

(C) 2011 Hermann Weigl

Fortsetzung folgt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.03.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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