Lilo Schulz

Hilflos im Ehrenamt



Voller Vorfreude begebe ich mich auf den Weg in ein Altenpflegeheim. Dort will ich meine monatliche Gesprächsrunde halten.
 
Eigentlich ist ein Lesecafè mit Kaffee und Kuchen üblich. Wie ich es jahrelang erfolgreich in einem anderen Heim praktiziert hatte. Doch hier  scheitere ich damit. Das Personal hat keine Zeit, den Tisch zu decken. Deshalb schlage ich bei meiner durch Umzug notwendigen Bewerbung diesem Heimleiter die „Gesprächsrunde“ vor.
 
Fragen, Gedichte und kurze Geschichten zum Thema Weihnachten, habe ich in stundenlanger Arbeit zusammen gesucht. 2/3 der Teilnehmer möchten nur zuhören, nicht reden. Da muss ich oft überbrücken.  Es ist der zweite Adventsonntag 2010. Mit 15 plastischen, musizierenden Goldengeln, liebevoll verpackt, am Verschlussband ein Kärtchen mit handschriftlichem „Frohes Fest“, will ich den Kranken eine Freude bereiten.
 
Wie von der Heimleitung gewünscht, melde ich mich im Schwesternzimmer.   Eine junge Frau hat Dienst. Ich bitte sie: „Lassen Sie bitte die Bewohner zur Gesprächsrunde bringen.“ Der Aushang dafür mit Termin und meinem Namen, auch für sie ersichtlich, hängt seit vier Wochen auf den Fluren. Sie fährt mich an: „Wer sind sie denn überhaupt? Stellen sie sich erst einmal vor.“ Leicht geschockt erfülle ich ihre Forderung. 
 
Während der Gesprächsrunde werde ich oft gestört Es ist ja Advent. Angehörige holen ihre Kranken oder bringen sie während der Veranstaltung. Das geht jedoch ruhig vonstatten. 
 
Ein Teilnehmer bemüht sich, aus seinem Rollstuhl aufzustehen.    Frauen schreien: „Sie dürfen nicht aufstehen.“ Mich hatte man darüber nicht informiert. Tags darauf kritisiere ich das bei meiner Bezugsperson im Heim. Die: „Es ist immer anderes Pflegepersonal da. Die wissen nicht, ob sie Bescheid wissen.“ ‚Lieber einmal zu viel informieren, als das Kind in den Brunnen fallen lassen’, denke ich.
 
Aber zurück zum gegenwärtigen Geschehen.  Der alte Herr verschämt: „Ich muss mal pullern.“ Ruhig rede ich auf ihn ein, nehme seine Hände von den Armlehnen, sage: „Ich hole jemanden.“ Will losstürmen. Da meinen Teilnehmerinnen: „Da ist eine Klingel. Sie brauchen nicht nach hinten gehen.“ Ich klingele. Eine Weile warte ich, es kommt niemand. Dann führe ich meine unterbrochene Arbeit fort. Als ich viel später, die Nikolauspäckchen verteilend, zu dem Herrn komme, sagt er leise: „Ich kann nicht mehr. Ich pullere jetzt hier hin.“ Da renne ich zum Speiseraum, der nicht in der Nähe liegt. Wütend! Die Wohnbereichsleiterin will gerade in ihre Schnitte beißen, als ich sie, nach Luft schnappend, nicht gerade freundlich informiere: „Herr X. muss mal pullern!“ 
 
Es ist üblich, dass die nicht mobilen Bewohner um 11 Uhr, am Ende der sonntäglichen Gesprächsrunde, wieder abgeholt werden. 11.10 Uhr bitte ich im Schwesternzimmer zwei junge Frauen darum. Anschließend ziehe ich mich langsam an, unterhalte ich mich mit einer Wartenden. Dem schwerstbehinderten jungen Mann, er kann weder reden noch seine Hände gezielt einsetzen, wickele ich das Nikolauspäckchen aus. Die Zeit vergeht, niemand kommt. Auf meinem zweiten Weg ins Schwesternzimmer sehe ich drei Schwestern. Warm angezogen, wollen sie offenbar das Haus verlassen. Recht energisch rufe ich ihnen zu: „Hallo, holen sie bitte die Bewohnerinnen ab.“ 
 
Diese, ausgerechnet vorweihnachtliche, „Gesprächsrunde“ war ein Flop. Auch Teilnehmerinnen drückten während der Stunde ihr Missfallen über die Störungen aus. Ich bin körperlich fix und fertig. Habe nicht das motivierende Gefühl, etwas Gutes geleistet zu haben.
 
Tags darauf bitte ich meinen Ansprechpartner im Heim um eine Rücksprache. Bedrohlich fasse ich seine Antwort auf: „Ja, dann aber mit Frau?“ Den Namen verstehe ich am Telefon nicht. Er schlägt vor: „Machen wir es doch jetzt gleich.“ Meine Kritik beantwortet  er inhaltlich so: Die Pflegerinnen haben es schwer. Er, Therapeut, möchte kein Pfleger sein. Das Pflegepersonal braucht eine Raucherpause. Die eine Frau hätte ich auf den Flur schieben können, sie weiß dann allein weiter. Den Schwerstbehinderten kann ich allein lassen. Er ist das gewöhnt. Wenn mir das nicht passt, soll ich eben aufhören.  Mein Vorschlag, die Gesprächsrunde zu verschieben, damit das Pflegepersonal in Ruhe frühstücken kann, ist nicht akzeptabel.
 
Ich konfrontiere ihn mit einer Frage, die sich mir nach dem aktuellen Erleben stellt: Während der Gesprächsrunde bricht jemand zusammen. Die Klingel leuchtet nur am Raum. Es ist Frühstückspause. In dieser Zeit kommt niemand vom Personal vorbei. Durch Klingelknopf drücken erhalte ich also keine Hilfe. Wie verhalte ich mich gesetzlich geschützt? Den eventuellen Notfall darf ich nicht allein lassen. Kann ich Anwesende nach dem Frühstücksraum schicken? Sie sind bewegungsgemindert. Erreichen sie das Personal überhaupt? In welchem Zeitraum? Was ist, wenn ihnen vor Aufregung unterwegs selbst etwas passiert? Meine Frage bleibt bis heute unbeantwortet.
 
Die Bewohner des Nachbargebäudes, einem Betreuten Wohnen, bekommen vor Weihnachten ein gestaltetes A4-Blatt mit folgendem Text: „Liebe Mieterinnen und Mieter wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie ein schönes und besinnliches Weihnachtsfest sowie für das kommende Jahr 2011 viel Gesundheit, Kraft und persönliches Wohlergehen. Ihre Geschäfts- und Heimleitung“. Dazu  Pralinen.
 
Die gleiche Heimleitung hat nach acht bei ihr ehrenamtlich geleisteten Gesprächsrunden weder Neujahrswünsche noch ein nur schriftliches „Danke“ für mich.
 
Wir Ehrenamtlichen, ob geschult, wie ich, oder auch nicht, sollen für unseren Einsatz motiviert werden. Aufwandentschädigung erhalten wir nicht. Meine Motivation in diesem Heim ist einzig und allein mein Helfersyndrom. Vielleicht sollte ich tun, was eine gute Bekannte mir riet: „Lege endlich dein Helfersyndrom ab. Hast du nach den vielen negativen Erlebmissen mit dieser Heimleitung und einigen ihrer Mitarbeiter noch nicht die Nase voll?“ 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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