Wolfgang Scholmanns

Marlies



Auf dem Schulhof zog man ihr an den Zöpfen und lachte. „Na, haste wieder Omas Kleider an? Und was für hübsche Zöpfe sie hat, wie damals meine Großmutter.“ Selbst von Erwachsenen wurde sie gehänselt, manchmal sogar beschimpft. „So braucht ein junges Mädchen doch heutzutage nicht mehr rumlaufen. Immer diesen alten Kram an. So arm sind Deine Eltern doch nicht. Sollen Dir mal vernünftige Klamotten kaufen. Und dann die Haare, so trug man sie zu meiner Zeit.“
Marlies ertrug all diese Beleidigungen so, als hätte sie Mitleid mit diesen Menschen, die sie doch so oft verspotteten. Nie tauchte ein aggressionsgeladener Gedanke in ihr auf und nie hörte man ein böses Wort aus ihrem Munde. Sie hatte stets einen Gesichtsausdruck, der von innerer Ausgeglichenheit und Ruhe zeugte. Meistes sah man sie alleine, oder auch schon mal mit älteren Leuten. Freundinnen oder Freunde in ihrer Altersklasse hatte sie wohl nicht, was nicht an ihr lag sondern wohl eher daran, dass die Mitschüler mit Marlies Lebenseinstellung nicht umgehen konnten. Gerade dann sind Menschen oft geneigt, das „Unbegreifliche“ zu belachen und zu verspotten und immer versucht, diese doch so andersartigen Personen zu verletzen. Sie war gut genug, wenn man mal wieder jemanden zum ärgern brauchte aber sonst galt sie als graue Maus, der man nur sehr selten Beachtung schenkte. Ihr Glaube an Gott und an die Liebe gaben ihr Kraft und Lebensfreude, wie sie uns in irgendeiner Religionsstunde einmal mitteilte. Die Menschen sollten sich des Öfteren an die Gebote des Herrn erinnern, und diese als Wegweiser zum ewigen Leben betrachten. Das Leben sei ein Geschenk Gottes und wir müssten doch, in Liebe und Dankbarkeit, seine Gesetze befolgen. Dann würden wir, nach kurzer Zeit schon, die Bedeutung von Glück erfahren und was es heißt, Dankbarkeit aus tiefstem Herzen zu spüren.  Einige Schüler sagten, nach dieser Ansprache, „Amen!“, und grinsten. Die Lehrer fragten sich manchmal, was Marlies wohl so beeindruckt hätte, dass sie den Weg des Herrn so konsequent ging. Solch ein Verhalten, bei einem jungen Menschen, konnte man in der heutigen Zeit eigentlich nur als weltfremd betrachten. Na ja, sie schien glücklich damit und das war für Marlies ja auch die Hauptsache. Sie war eine mittelmäßige Schülerin, keine Leuchte, nur in ihrem Lieblingsfach Religion, glänzte sie stets mit guten Noten.
Während wir, mit unseren fünfzehn Jahren,  die ersten Züge an Zigaretten wagten, ab und zu auch mal ein Bierchen tranken und uns der Versuchung das andere Geschlecht näher kennen zulernen  hingaben, geriet Marlies immer mehr in den Bann der Religiosität und  bekundete dieses, durch Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit. Immer war sie für andere da, auch wenn, bis auf wenige Ausnahmen, niemand, hier in der Schule, ihr stets offenes Ohr in Anspruch nahm. Nachmittags und an den Wochenenden, besuchte sie Altenheime und Krankenhäuser um Menschen, die niemanden mehr hatten, oder um die sich kein Familienangehöriger mehr kümmerte, ein wenig zur Seite zu stehen. Sie hörte zu, lauschte den Freuden und Klagen der Alten und Kranken. Oft nahm sie ein Buch mit, las ihnen daraus vor. Manchmal sangen sie auch zusammen, was besonders den älteren Herrschaften gut gefiel. Ob es nun Märchen, Gedichte oder Romane waren, immer spürte sie, wie Liebe und Dankbarkeit reflektierten und ihr Herz vor Glück übersprudeln ließen. Ihre erste Begegnung mit dem Tod, war das Ableben einer achtzigjährigen Dame, die ihr immer so andächtig zugehört hatte. Manchmal hatte Marlies die gehbehinderte Frau, in den Rollstuhl gesetzt und war mit ihr zum nahen Fluss gefahren. „Dort“, so sagte die Oma, „kann man, wenn man Glück hat, das Lied des Windes hören.“ Es würde von fremden Ländern erzählen, die hinter dem Horizont lägen. Sie und ihr Mann, hätten früher, als sie jung und verliebt waren, oft seinen Klängen gelauscht. Bei der Beerdigung war Marlies die Einzige, die nicht weinte oder eine Trauermine zog. Sie bat auch nicht darum, dass der Herr die alte Dame aufnehmen möge, in sein Reich, so wie die Meistens es taten. Sie sagte nur: „Danke, danke!“
Ich denke, heute weiß ich, warum Marlies danke sagte. Sie wollte dem Herrgott nicht mit andauerndem Bitten und Betteln begegnen, lieber Danken für das, was sie, mit der alten Dame, noch erleben durfte. Es ist uns alles mitgegeben, auf unserem Weg, und deshalb sollten wir dankbar sein und nicht automatisiert und selbstverständlich unserer Wege gehen. Manchmal muss ich an Marlies denken, an das kleine Mädchen, mit dem freundlichen Gesicht und dem unerschütterlichen Gottvertrauen. Allen Menschen freundlich und liebevoll begegnen war ihr Motto und wer weiß, ob der Herr sie nicht, im Alter von erst vierzig Jahren, zu sich gerufen hat, damit sie nicht doch eines Tages, an den immer schneller wachsenden Trieben des egoistischen Molochs zerbricht. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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