Stefan Valentin Müller

Gelobtes Land

Ich hätte nicht gehen sollen. Niemals. Dann würden Frederic und Moses noch leben. Aber sie wollten unbedingt mit, was hätte ich tun können? Als wir Wasser holten, tänzelte Moses neben uns her und lachte. Zwei Jahre, sagte er, zwei Jahre, dann sind wir mit Taschen voller Geld zurück. Er sprang wie eine junge Ziege auf dem trockenen Pfad. Frederic hatte nichts gesagt, aber es war klar, dass er mitkäme, wenn wir gehen würden. Frederic war ein schweigsamer, kräftiger  Riese, die schweren Wasserkanister in seiner Hand schienen leer zu sein.
Mein Vater saß noch immer auf der Anhöhe und blickte auf den verwaschenen Himmel. Die Regenwolken würden wieder vorüber ziehen. Am Mittag stand er auf, müde war der Vater geworden, müde und alt. Er nahm das Messer und ging zu der letzten Kuh. Früher war es ein Fest, wenn geschlachtet wurde, jetzt weinten die Mutter und die Schwestern. Die Kuh blickte auf das Blut, das ihr am Hals entlang lief und über die Nüstern rann und lange Fäden zog. In der Schüssel  plinkerte es wie Regentropfen. Mit ihrer rauen Zunge leckte die Kuh das Blut aus ihren Nasenlöchern. Dann wankte sie, ein leichtes Zittern erst, ein Schwanken und die Vorderbeine knickten ihr ein. Eine Weile stand sie mit hochgerecktem Hinterteil, bis auch dieses stürzte. Mutter rührte das Blut, Vater drehte die Kuh auf den Rücken und öffnete mit der Klinge den Körper wie man ein Zelt öffnet. Jetzt kannst du gehen, sagte er plötzlich zu mir, es war die letzte Kuh.
So gingen wir mit Taschen voll getrocknetem Fleisch. Wir trafen andere, die auch dorthin wollten, fünfzehn junge Männer und ein Greis. Immer Richtung Westen, der Sonne hinterher. Im Gebirge blieb der Alte zurück, er hatte keine Kraft mehr. Was sollten wir tun? So ließen wir ihn zurück. An den Abenden legten wir uns auf die Erde und schliefen. An den Morgenden erhoben wir uns und gingen weiter. Auf der anderen Seite der Berge wartete ein kleiner Mann. Nennt mich Fenek, sagte er und brachte uns zum Boot. Das Meer brüllte. Es war ein hungriges Tier. Doch Moses sprang in die Luft und lachte. Das Boot ist für fünfzehn zu klein, sagte Frederic, der Riese. Wir gaben Fenek das Geld, schoben das Boot vom Strand und hissten das Segel. Zwei Tage und eine Nacht nur, hatte der Fenek gesagt, immer nach Westen, dann wären wir drüben. So fuhren wir auf das Meer und Moses sang das Lied der Hirten, einige weinten dazu. Frederic hielt das Ruder und blickte nicht zurück. Lange noch sah ich unser Land auf und abschaukeln. Es hatte die Farbe von dunklem Brot. Die Nacht über dem Meer aß es auf. Dann kam der Wind. Und die Wellen. Und die Angst. Anfangs noch schaukelte das Boot nur etwas stärker, doch dann lief es die Wellen hinauf und stand und kippte und lief hinab. Wasser schlug ins Boot, wir hielten uns fest, wo es ging, an den Bänken, am Mast, an uns. Das Boot riss es die Wellenberge hinauf, oben sprang es und der Rumpf klatschte hart auf. Dann raste es bugvoran nach unten, dass die Spitze eintauchte und Wasser ins Boot flutete. Wir schöpften und schöpften, mit dem einen Eimer, der im Boot gewesen war, und es lief nach jeder Welle wieder voll. Von den Spitzen der Wogen riss der Wind Wasser und schlug uns wie mit salzigen, nassen Tüchern. Einer schrie mit weit aufgerissenem Mund, andere weinten, erbrachen sich auf die Kameraden, klammerten sich aneinander und andere, besonnenere schöpften. Doch das Schreien und Rufen und Weinen war unhörbar in dem Wind und dem Gebrülle des Meeres. Hier hatte jemand eine lautere Stimme als fü! nfzehn f urchtsame Männer, jemand der größer war und schrecklicher und bösartiger als der Mensch. Das Boot wurde hin und hergeschleudert, es stand beinahe senkrecht, bevor es krachend und sich schüttelnd kippte, um wieder in ein Wellental zu jagen. Irgendwann zerbarst der Mast, zerriss das Segel und flatterte wie ein schwarzer, sterbender Vogel. Einer schrie tonlos im Sturm, der für ihn schrie. Wir gaben den Eimer von Hand zu Hand, jeder musste schöpfen. Es war schwer, den gefüllten Eimer über die Bordwand zu hieven, ohne aufzustehen, mit den Beinen verkantet im Wasser im Boot. Die Arme schwer und kalt. Und Frederic steuerte. Groß und aufrecht. Die Wellen schlugen schwarz ins Boot, dunkles Wasser, das wir schöpften. Die Wände, die sich auftürmten waren von Schiefer, grau und hart. Nur oben auf den Kämmen brach sich das Dunkle, wurde Weiß, spritzte ins Boot, schlug wie Sand gegen die Gesichter. Wie lange das ging? Eine Nacht, einen Tag, vielleicht noch eine Nacht? Stumpf und taub bemerkten wir erst spät, dass der Sturm vorüber war. Still war es, der Wind hatte sich gelegt. Golden und orange stieg die Sonne über dem Meer auf, ein ruhiges, dunkelblaues Meer, heiter und verspielt klatschten kleine Wellen an das Holz des Bootes. Die Männer lagen verknäult im seichten Wasser des Kiels. Moses hob müde die Hand zum Gruß. Ganz grau war er geworden, das Lachen hatte es von seinem Gesicht gespült. Frederic saß am Ruder und blickte nach vorn. Ganz starr blickte er nach vorn. Am Hals war das zerrissene Hemd rot gefärbt. Ein Splitter des gebrochenen Mastes ragte aus dem Fleisch. Später kamen große Fische und sprangen aus dem Wasser. Die Männer schrien vor Angst. Delfine, rief einer, freundliche Tiere. Sie umspielten das Boot. Und zogen weiter, bevor wir Frederic ins Meer legten. Langsam trieb er ab, drehte sich sacht im Wasser, das golden erstrahlte. Wie eine kleine blaue Insel war sein Hemdrücken noch lange in der Dünung zu sehen.
So willkommen die Sonne am Morgen war, unsere kalten Glieder zu wärmen, so heiß schien sie später am Tage. Der Wind strich über uns wie die Seevögel, die hier und da erschienen, trocknete die Haut, riss Furchen in die Lippen, rötete die Augen. Das Boot trieb auf der weiten blauen Fläche dahin, niemand saß am Steuer. Wir versuchten uns unter die anderen zu schieben, Schatten und Schutz suchend. Am folgenden Tag lag Moses im Kiel, sein Gesicht senkte sich in das brackige Wasser, das noch im Boot stand und er zog es begierig mit seinen Lippen ein. Lächelte einen Moment, blähte die Backen, würgte und erbrach. Sein Körper schüttelte sich, weit riss er den Mund auf, als wolle er laut lachen, bäumte sich auf, klammerte sich an die Reling, dass die Knöchel weiß hervorstanden und spuckte alles aus, was er in sich hatte. Gelber Schleim hing in knotigen Fetzen von seinen Lippen, dann tropfte Rotes hinab. Moses kauerte sich zusammen, legte die Arme um die angezogenen Knie und schluckte schwer. Ich hörte ihn nicht mehr sprechen. Am Morgen des dritten Tages fehlte einer. Er musste in der Nacht in das Meer gestiegen sein, ein anderer starb am Abend. Dann zählte ich nicht mehr. Ich lag und wollte nichts mehr. Meine Zunge war dick angeschwollen, hart wie Leder. Die Augen brannten wie Feuer. Mit meinen Fingern wollte ich sie mir auskratzen, das Feuer loswerden, allein, die Finger waren zu schwach. So lag ich. Im Licht und im Dunkeln. Leichtes Schaukeln, allein auf der Welt. Oder wo auch immer.
Das Brummen drang spät erst in mein Ohr. Das Rufen und Rütteln. Helle Augen, weiße Tücher vor Gesichtern, Uniformen, ein Motorboot. Einer schlug mich, zerrte mich an Bord des Schiffs. Ich saß, eine Decke um die Schultern, Wasser in der Hand und konnte nicht trinken. Allein. Die Kameraden lagen im Boot, reglos. Der, der mich geschlagen hatte, schüttete etwas aus einem Kanister in unser Boot, dann fuhren wir los. Lange sah ich die Rauchwolke am blauen Himmel stehen. Ich verstehe ihre Sprache nicht, weiß nicht, wohin sie mich bringen. Es spielt auch keine Rolle mehr.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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