Hermann Weigl

Die Drachenreiter von Arctera (Teil 13)

Am nächsten Abend betrat Gaius den Thronsaal in Begleitung des Gelehrten aus Agostina. Sein grauer Haarschopf war noch mehr in Unordnung geraten, als üblich.
„Majestät“, berichtete er mit einem Gesichtsausdruck, der seine Aufregung widerspiegelte. „Es ist uns gelungen, das Schriftstück zu übersetzen. Mein Kollege aus Agostina hat wertvolle Vorarbeit geleistet.“
„Ich danke Euch, Gaius und auch Giorgio. Dann lasst uns hören, was in diesem Werk geschrieben steht.
Gaius entrollte ein Pergament, auf dem Elisabietha seine Handschrift erkannte.
Ein Krächzen kam aus der Kehle des alten Mannes. Er senkte das Schriftstück, und räusperte sich. „Verzeiht mir, Majestät, aber was wir entdeckt haben, ist zutiefst bewegend.“
Gaius hob das Pergament erneut und er begann: „Ich spüre, wie mich die Lebensgeister verlassen. Die Erinnerungen verblassen. Bevor ich mich zum letzten Mal niederlege, will ich meine Erlebnisse um den Untergang Arcteras in dieses Buch niederschreiben. Ich tue dies in der Hoffnung, dass es eines Tages gefunden wird, und dass die Menschen, die meine Worte lesen, daraus lernen, auf dass sich nie wieder ein Unglück von solcher Tragweite ereignen möge.
Alles begann damit, dass die Kräfte unseren alten König verließen, und er seine drei Söhne Federico, Agostino, und Iskander an sein Sterbebett rief. Sein ältester Sohn Federico sollte fortan die Geschicke seines Reiches lenken. Im Beisein der Minister übergab der König seinem Sohn den Siegelring und schloss für immer die Augen. Federico war ein weiser Mann, sein Vater hatte ihn wohl erzogen, und er lenkte das Reich wie der verstorbene König selbst. Doch eines Tages verbreitete sich eine schreckliche Nachricht im Schloss. Der junge König war tot. Die Diener hatten seinen reglosen Körper am Morgen in seinem Bett gefunden. Der Arzt bemerkte eine Phiole mit einer unbekannten Flüssigkeit neben der königlichen Schlafstätte. Gelehrte und Alchemisten untersuchten sie. Aber sie kamen zu keinem gemeinsamen Ergebnis. Einige behaupteten, es wäre Gift, die anderen sagten, es wäre nur ein harmloses Schlafmittel. Und schon ging das Gerücht um, der neue König sei ermordet worden. Böse Zungen behaupteten, Prinz Iskandar, der zweitälteste Sohn, habe den Mord begangen, um selbst auf den Thron zu gelangen. Er selbst stritt es ab, auch gegenüber seinem Bruder. Aber Agostino glaubte ihm nicht, und erkannte ihm den Thron ab. Der Streit eskalierte, die beiden Söhne duellierten sich, aber es gab keinen eindeutigen Sieger. Schwer verwundet zog sich der Jüngere zurück, und sein Bruder wies ihn wenige Tage später aus dem Schloss. Dessen Anhänger folgten ihm und bald gab es zwei rivalisierende Gruppen: Agostino, der nun selbst auf den Thron wollte, und Iskandar, der nicht zu weichen gedachte. Blutige Unruhen entstanden, die sich immer weiter ausbreiteten. Agostino legte Feuer, und es kam zum Krieg, in dessen Verlauf das Schloss und die ganze Stadt zerstört wurden. Viele unschuldige Menschen fanden den Tod.
Die Überlebenden bildeten zwei rivalisierende Gruppen. Eine zog nach Westen, die andere nach Osten.
Es erfüllt mein Herz mit tiefer Trauer, wenn ich an diese kriegerischen Tage denke. Ich kannte Arctera als stolze Stadt. Über viele Generationen hinweg hatten die besten Baumeister und Künstler sie aufgebaut. Noch immer sehe ich die mächtige Stadt in Flammen, und höre die Schreie der Verwundeten und Sterbenden.
Niemals wieder wird sich das Sonnenlicht in den kupfernen Dächern spiegeln, werden Fahnen und Wimpel im Wind wehen, und lachende Kinder durch die Strassen laufen.
Die Drachen wussten nun nicht mehr, wem sie Glauben schenken durften, wollten keiner der beiden Gruppen einen Vorteil verschaffen, und mieden die Menschen fortan. Sie zogen sich aus den Sümpfen zurück, weit in das Nebelgebirge hinauf. Mir erlaubten sie als einzigem Menschen mit ihnen zu gehen - dem letzten Drachenreiter, der noch lebte. Ich betrachte es als außerordentliche Ehre, und werde nicht mehr zu den Menschen zurückkehren.
Unbekannter, der du jemals diese Zeilen liest: Neid und Missgunst, Gerüchte und böse Zungen haben ein ganzes Königreich zerstört, und das uralte Bündnis zwischen Drachen und Menschen gebrochen.
Mögen einst Zeiten kommen, in denen die Menschen wieder in Frieden leben, und sich erneut mit den Drachen verbinden.
Ritter Kolesnikov von Arctera - Drachenreiter.
Im Jahre 381.“
Elisabietha hatte den Gelehrten noch niemals weinen sehen, aber nun liefen Tränen über die Wangen des alten Mannes.
Lange Zeit sprach niemand im Saal. Die Erschütterung über das Gehörte stand auf den Gesichtern der Menschen geschrieben.
„Seid Ihr sicher, dass die Übersetzung korrekt ist?“, fragte König Erkul, wobei er die beiden Gelehrten abwechselnd ansah.
„Majestät“, antwortete Giorgio. „Wir haben die Worte wiederholt mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln überprüft.“
Auf einen Wink hin reichten Diener den beiden Männern Becher mit Wein.
Erkul erhob sich von seinem Thron, und ging mit auf dem Rücken gefalteten Händen auf und ab.
„Wie sagtet Ihr waren die Namen der verfeindeten Brüder?“
„Iskander und Agostino.“
„Agostino“, überlegte der König laut. „Agostina. Der Name hat sich wohl im Lauf der Zeit verändert. Und sie bildeten einst ein Reich. Arctera.“
„Die Ruinenstadt“, sagte die Prinzessin. „Im Buch sind Zeichnungen der alten Stadt.“
Der jungen Frau schwindelte. Immer wieder hatte eine innere Stimme sie zu den Ruinenfeldern hinauf getrieben. Dort hatte sie die Drachin getroffen. Sie hatte von der Prophezeiung gehört, und den Prinzen kennen gelernt. Der letzte Drachenreiter hatte Burg und Stadt gezeichnet. Der Turm, den sie so oft betrachtet hatte. Tarrabas wollte sie zur Frau nehmen. Sollten sie womöglich... Das konnte doch alles kein Zufall sein.
Ihr wurde schwarz vor Augen, und plötzlich bemerkte sie, wie sie gestützt wurde. Über sich sah sie das besorgte Gesicht ihres Vaters.
Elisabietha registrierte mit Erstaunen, dass sie auf dem Boden lag, und man ihr einen Becher mit Wasser an die Lippen setzte.
„Trink“, sagte ihr Vater.
„Was ist...?“, fragte die junge Frau.
„Du warst ohnmächtig.“
„Es geht schon wieder“, sagte Elisabietha und stand auf. Stützende Hände halfen ihr.
„Majestät“, sagte Gaius voller Sorge. „Möchtet Ihr, dass ich Euch untersuche?“
„Es ist alles in Ordnung“, sagte sie, und lächelte den alten Man an. „Es muss wohl die aufregende Geschichte gewesen sein.“
„In der Tat“, bestätigte ihr Vater. „Nicht jeden Tag erfährt man die Gründe für jahrhundertelange Auseinandersetzungen.“
Elisabietha hörte noch, wie ihr Vater nach seinen Beratern rief, und Gaius’ Stimme, welche die Übersetzung wiederholte, dann schlich sie aus dem Raum, und zog sich in ihre Gemächer zurück. Sie wollte mit sich, und ihren Gedanken allein sein.
Tausend Jahre, dachte Elisabietha. Und in so langer Zeit hatten die Menschen nichts dazugelernt. Aus Neid hatten sich die beiden Brüder bekämpft, und ein ganzes Reich war an der Auseinandersetzung zerbrochen. Was würde ihr Vater nun tun? Würde er mit Pelias Frieden schließen? Bestimmt war er viel zu dickköpfig dafür. Sie hatte gesehen, wie Pelias auf ihren Anblick reagiert hatte - genau wie ihr Vater bei der Ankunft des fremden Gelehrten. Und wenn sich nun die beiden Könige gegenüberstehen würden? Was würde dann geschehen?

Am nächsten Morgen trat der Gelehrte Giorgio die Rückreise an. In seinem Gepäck führte er eine Abschrift der Übersetzung mit sich.
Elisabietha bot ihm an, ihn zurückzufliegen, aber er wehrte ab. „Auch wenn es ein beeindruckendes Erlebnis war, so würde ich dennoch eine Reise zu Pferde bevorzugen.“
„Überbringt dem Prinzen meine Grüße. Sagt...“ Sie errötete. „Sagt, dass ich an ihn denke.“
„Mögen Eure Wünsche in Erfüllung gehen“, sagte der Gelehrte zum Abschied.
Nachdenklich sah die Prinzessin dem Mann und der Gruppe von Rittern nach, die ihn sicher zur Grenze begleiten sollten.
Der Prinz, die Königin, und nun auch Giorgio. Es waren keine schlechten Menschen.

Pelias holte mit der Hand zum Schlag aus, aber sein Sohn wich ihm geschickt aus, was den König nur noch wütender machte.
„Du wirst tun, was ich von dir verlange. Ich dulde keinen Widerspruch.“
„Ich habe Fechten gelernt, weil du es wolltest. Ich habe Tanzen gelernt, weil du sagtest, dass es sich für einen Prinz gehört. Ich habe Strategie und Kriegskunst gelernt, wie du es angeordnet hast. Es ging immer alles nach deinem Willen. Aber jetzt - ein einziges Mal - will ich etwas haben. Ich will Elisabietha heiraten. Ich...“
„Kommt nicht in Frage“, unterbrach ihn der König. „Und wenn ich dich eigenhändig bis zum Altar prügle. Du wirst Eleonora ehelichen.“
„Nein, das werde ich nicht.“
„Wachen!“, schrie Pelias. Das Gesicht des Königs war puterrot. „Sperrt ihn ins höchste Turmzimmer. Und stellt Wachen vor der Tür auf.“ Drohend hob er einen Finger. „Dir werde ich zeigen, wer hier das Sagen hat. Du wirst so lange dort oben bleiben, bis geheiratet wird. Basta.“

Elisabietha hatte versucht ihren Vater umzustimmen. Sie hatte die Prophezeiung zitiert, die Worte des Drachenkönigs wiederholt, hatte gefleht und geheult, aber das Herz ihres Vaters hat sich nicht erweichen lassen.
Nun saß sie schmollend in ihrem Zimmer. Draußen auf dem Gang standen zwei Wachen, die den Befehl hatten, sie rund um die Uhr zu bewachen.
Plötzlich kam ihr eine Idee. Ihr Gesicht hellte sich auf, und sie rief mit ihrer Gedankenstimme nach Unari.


(C) 2011 Hermann Weigl

Fortsetzung folgt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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