Lisa Moser

Letzte Augenblicke


Ich starre auf ein bleiches Gesicht. Die Augen sind weit geöffnet und blicken ins Leere. Die Lippen verlieren allmählich an Farbe. Je länger ich sie betrachte, desto mehr erinnert sie mich an eine Person, die ich kenne. Jede Kontur, jede winzigste Narbe kommt mir bekannt vor. Es gibt keinen Zweifel mehr. Ich kenne diese Frau. Jetzt stellt sich nur noch die Frage, woher?
Plötzlich werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Männer und Frauen in weißen Arztkitteln stürmen in das kleine Zimmer. Schnell stelle ich mich in eine Ecke, um nicht im Weg zu stehen. Alle sind ganz aufgeregt. Bemerken sie mich deshalb nicht?
Ich höre ein leises Summen und Piepen. Die Ärzte versuchen gerade die Frau wiederzubeleben. Ich weiß, dass es sinnlos ist, trotzdem mische ich mich besser nicht ein.
Eine Krankenschwester will an mir vorbei zu dem Gerät, das neben mir steht. Plötzlich bleibt sie stehen und erschauert. Ihre Augen treffen die meinen. Sie sieht mich direkt an, aber es kommt mir vor, als würde sie durch mich hindurch sehen. Ich will etwas sagen, doch mir kommt kein Wort über die Lippen, auch wenn ich mich noch so sehr anstrenge. Schließlich geht die Schwester ohne etwas zu sagen und ohne mich weiter zu beachten zu diesem Gerät. Als der Arzt ihr ein Zeichen gibt, schaltet sie es aus, was mich unendlich erleichtert, weil mich das viele Piepen nervös gemacht hatte.
Geknickt verlassen alle den Raum. Wieder lassen sie mich unbemerkt stehen.
Komisch. Als wäre ich unsichtbar für diese Menschen.
Plötzlich wird der Raum wieder von jemanden betreten.
Diesmal weiß ich sofort, wer es ist. Mein Kind! Was hat mein Kind mit dieser Frau zu tun? Meine Kleine fängt an zu weinen und zu schreien. Auch mein Mann ist gekommen und versucht unsere Tochter festzuhalten. Er kann seine Tränen nicht unterdrücken. Was ist hier bloß los? Warum haben sie mich den nicht bemerkt? Ich bin doch hier! Ich stehe genau neben ihnen!
Ich versuche wieder etwas zu sagen, um auf mich aufmerksam zu machen, doch wieder kann ich keinen Ton hervorbringen. Es ist zum verzweifeln!
Ich sehe zu, wie meine Tochter die Hand von dieser Frau hält. Mein Mann streicht ihr zärtlich über die Wange.
Ich versuche meine Tochter zu berühren. Langsam streiche ich ihr mit meiner Hand über den Rücken, doch sie dreht sich nicht um, sondern fängt augenblicklich an zu zittern. Erschrocken ziehe ich mein Hand zurück und streife somit den Arm meines Mannes. Auch er zuckt zusammen, als hätte ich ihn mit eiskaltem Wasser bespritzt.
Wieder fängt meine Tochter an zu schreien. Immer wieder ruft sie nach ihrem Vater.
„Daddy, Daddy! Warum wacht sie nicht auf? Warum steht Mami nicht auf und geht mit uns nach Hause?“ Er flüstert ihr Worte zu, die ich nicht verstehen kann.
Bei dem Wort „Mami“ habe ich aufgehört zu atmen. Wieder starre ich auf das Gesicht der Frau. Ich fange an zu zittern. Das bin doch nicht ich! Das kann nicht sein!
Doch auf einmal ergibt alles einen Sinn. Schon langsam verstehe ich, aber ich will nicht verstehen!
Das ist doch alles ein Scherz! Es kann nicht sein, dass ich es bin! Ich stehe doch hier!
Neben dem Bett steht ein kleiner Tisch mit einer Krankenakte.
Langsam gehe ich darauf zu. Meine Hände zittern, während ich versuche die erste Seite umzublättern. Aber es gelingt mir nicht. Ich kann es nicht anfassen!
Verzweifelt drehe ich mich um und versuche wieder meine Liebsten zu rufen. Doch sie sind fort.
Auch das Krankenzimmer ist fort. Ich stehe irgendwo im nirgendwo. Es ist dunkel und ich kann leise Stimmen flüstern hören.
Plötzlich öffnet sich vor mir etwas. Durch den Spalt dringt helles Licht. Ich habe ein wenig Angst davor. Irgendetwas flüstert mir ins Ohr und redet auf mich beruhigend ein. Ich verstehe kein Wort, doch trotzdem werde ich entspannter.
Entschlossen gehe ich ein paar Schritte auf das Licht zu. Wieder bleibe ich stehen.
Ein letztes Mal atme ich tief ein und aus. Ich schließe meine Augen und es fühlt sich so an, als würde ich schweben…
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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