Diethelm Reiner Kaminski

Der Wolf ist tot



"Wenn Engel singen, sollen Wölfe schweigen“, pflegte Herr Faltenrock spöttisch zu sagen, wenn im Kreise der Familie wieder einmal aus vollem Herzen gesungen wurde: zu Weihnachten, an Geburtstagen, in der Faschingszeit. Vater, Mutter und Wolfs vier Schwestern. Nicht dass der achtjährige Wolf sich etwas aus Singen gemacht hätte. Er sang nie, wenn er allein war. Er konnte sich weder die Texte merken noch die Melodie halten. Er litt auch gar nicht darunter, nicht zu singen, sondern darunter, ausgeschlossen zu sein. Was die Zurücksetzung noch schlimmer machte: Kaum hatte sein Vater den üblichen Spruch aufgesagt, umringten die jüngeren Schwestern Wolf, fassten sich bei den Händen, tanzten im Reigen um ihn herum und sangen: „Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot, wir haben ihn gefangen.“
Zur Wehr setzen durfte sich Wolf nicht, denn die Mädchen standen unter dem besonderen Schutz ihres Vaters. Ihnen durfte kein Haar gekrümmt werden. Das wussten sie und nutzten ihre Vorrangstellung weidlich aus.
In der Schule erging es Wolf nicht viel besser. Den Plan, die 3 a geschlossen im Gesang zu vereinen, musste der Musiklehrer schnell aufgeben. Wolf und Kalle brachten, kaum dass ein Kanon oder Lied angestimmt war, den Chor hoffnungslos aus dem Takt.
„Da brummt ein Bär“, oder „Jault da ein Wolf?“, entsetzte sich Herr Kremsbart und schlich durch die Reihen der Schüler, um die Misstöner akustisch zu identifizieren. Letztlich war Wolf auch hier wieder froh, die lächerlichen Texte und langweiligen Melodien nicht mitsingen zu müssen, aber dennoch litt er darunter, vor der Klasse bloßgestellt und aus dem Chor ausgeschlossen worden zu sein. Immerhin hatte er in Kalle einen Leidensgefährten und Verbündeten, dem es zu Hause mit seinen Schwestern auch nicht besser erging. Gemeinsam schwelgten sie in Racheplänen. Sie auszuführen, bot sich reichlich Gelegenheit. Gemeinsam gingen sie ans Werk. Arbeitsteilig. Einer markierte die Schultaschen seiner Geschwister unauffällig mit Kreide. Der andere durchsuchte sie dann in der großen Pause und ließ Hausaufgaben und Pausenbrote verschwinden. Oder sie schmuggelten Federmäppchen, Hefte und Bücher aus fremden Taschen in die der Geschwister. Der Ärger mit Lehrern und Mitschülern ließ nicht lange auf sich warten. Bald waren Kalles und Wolfs Schwestern als diebisch und pflichtvergessen in der Klasse verschrien. Zu Hause zerkratzten Wolf und Kalle Schallplatten und CDs ihrer Väter oder machten sie mit Klebstoff unbrauchbar. Zur Rede gestellt, beschuldigten sie ungerührt ihre kleinen Geschwister, die, wenn sie von den Eltern ins Gebet genommen wurden, vollkommen hilflos und aufgelöst reagierten, waren sie doch solche Strenge nicht gewohnt. Ihre verängstigte Reaktion wurde als Schuldeingeständnis gewertet.  
Auch die musikalischen Mütter blieben nicht verschont. Notenblätter verschwanden, Kaugummi klebte zwischen Klaviertasten, Geigensaiten waren zerrissen. Immer waren es die kleinen Schwestern. Was nicht hieß, dass kein Verdacht auf Wolf oder Kalle gefallen wäre, nur – nachweisen konnte man ihnen nichts.
Vor allem Wolf triumphierte innerlich. Der Wolf war nicht tot. Er war auch nicht gefangen. Er war höchst lebendig. Er brach in die Engelschöre ein, verwandelte deren Gesang in Tränen, wann immer es ihn danach gelüstete. Und wie es ihn danach gelüstete. Kalle und Wolf gaben sich äußerlich brav und gehorsam, aber sie nutzten jede sich bietende Gelegenheit, Angst und Panik unter den Schäfchen zu verbreiten, ohne dass ihnen die Hirten auf die Schliche kamen.
Herr Kremsbart beriet sich mit seiner Schulleiterin, die Wolfs und Kalles Eltern zu einem Gespräch in die Schule bat. Frau Schweikert war eine erfahrene Pädagogin. „Das sieht sehr nach Rachefeldzügen von Schülern aus, die sich zurückgesetzt fühlen. Sagen Sie, haben Sie sie bei irgendwas ausgeschlossen? Soso, beim Chorsingen also. Dann nehmen Sie sie wieder auf. Was möchten Sie: einen vollkommenen Chor oder einen dauerhaft gestörten Schulfrieden?“
„Vielleicht versuchen wir´s mal wieder“, sagte Herr Faltenrock zu Wolf und stimmte ein Lied an. „Deine Stimme hat sich, glaube ich, sehr zum Positiven entwickelt.“
„Wir haben schon lange nicht mehr gemeinsam gesungen“, schlug Kalles Mutter vor. „Hast du Lust?“
„Wir üben in den nächsten Wochen für den feierlichen Rahmen der diesjährigen Abiturfeier“, sagte Herr Kremsbart, „da brauchen wir jede Stimme. Also, Wolf und Kalle, wie wär´s mit euch? Gebt euer Bestes.“
Schlagartig hörten Diebstähle und Beschädigungen auf, daheim ebenso wie in der Schule.
Der Wolf in Wolf war tot, sein Rachedurst war gestillt, doch Wolf war darüber gar nicht traurig. Er machte sich immer noch nichts aus dem Singen, aber er gab sich Mühe, den Chor nicht zu blamieren. Er machte den Mund einfach auf und zu, ohne ein einziges Wort zu singen.
Wenn seine Schwestern ihn wieder einmal umringten und sangen „Der Wolf ist tot“ schlüpfte er, um sie nicht zu enttäuschen, spielerisch in die Rolle des Wolfes und jagte die juchzenden und kreischenden Mädchen durchs Zimmer. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass er seine kleinen Geschwister gerne hatte.


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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