Vadim Pryde

Fragmente, oder die Kunst zu sterben. - Teil 3

Die Sonne hatte sich entschlossen, ihre Sachen zu packen und den Abgang zu machen, was für den Wind hieß, es galt aufzufrischen. Victor legte einen Zahn zu und steuerte schnurstracks auf den nächsten Supermarkt zu. Eigentlich mochte er das Einkaufen in dieser Ladenkette, die hatten recht spät noch auf, keine Menschen zu der Zeit unterwegs und das Angebot war brauchbar. Nun, zu dieser Zeit nicht – es war recht voll. Und die Menschen bewegten sich nicht, sie standen nur und sondierten mit kritischem Auge die Lügen, die ihnen die Verpackungen über ihren Inhalt preisgaben, berechneten Preise zweier gleichmieser Produkte und überlegten was sie noch brauchten. Und so standen sie. Im Weg.

Ein plärrendes Kind warf einen Karton Süßigkeiten aus dem Regal und griff nach einer der Tüten und platzierte selbige gekonnt im Einkaufswagen der restlos überforderten Mutter, die gerade ein noch kleineres versuchte zu beruhigen, bevor sie ihre vor Gesellschaftsbeitrag angeschwollenen Hüften zwischen die Regale für Trivialkosmetik und Haushaltsmittelchen schob. Stolze Mama, kriegt ihre Kinder und ihren Schläger-Ehemann nicht in den Griff, nimmt Medikamente um nicht durchzudrehen, bevorzugt Schmerzmittel in der Hoffnung, daß es gegen die Schmerzen die sie hat auch was hilft. Aber gegen gebrochenen Lebenswillen, Postnatale Depression im Cocktail mit kaputten Träumen gibts nicht viel, was die Pharmariesen rausgebracht haben. Zumindest nichts normales, für alles andere muss man zum Seelenklempner und dann endets vermutlich wie bei ihrer Freundin Sandra, dann trennt sie sich von ihrem Typen, sucht sich einen Job und hat keine Zeit mehr für die Kids und ist unglücklich und pleite wie nie zuvor, nein – dann schon lieber Aspirin. Was manche Menschen nicht alles tun, nur weil sie den Fluch dieser Existenz an andere weitergegeben haben und sich nun damit arrangieren müssen, daß sie alles was sie sich erträumt hatten an den Nagel hängen können. “Ein Hoch auf die Kinder als Selbstverwirklichungsstrategie”, dachte sich Victor als er so die Regale entlangschlenderte, “nicht mal das eigene Leben gescheit hinbekommen, aber hauptsache für genug Nachschub sorgen, daß die kinderarme Republik genug Söhne und Töchter bekommt, daß ihr Erlöser, Erretter und Messias, oder zumindest ein Künstler oder großer Dichter unter ihnen sein könnte. Und mit diesen Erwartungen vollgestopft wie eine Pekingente mit Kichererbsen werden die kleinen auf die Welt losgelassen um die nächste Generation unscheinbarer Verlierer noch zu zeugen, bevor die dann angehende Oma an der Nadel hängt oder aus dem Fenster gesprungen ist. Aber ist ja egal, heute gibt es Kartoffelsuppe.”

Victor schob den Glasdeckel beiseite und fischte nach einigen Pizzaschachteln, ging im Geiste nochmal durch was man auf die minderwertigen Fertigscheiben draufklatschen könnte um sie wenigstens ansatzweise herunterwürgen zu können ohne, daß sie ihm gleich wieder hochkamen und fand sich vor dem Schinken und Käseregal wieder. Herzlose Ware, angepriesen von Verkäuferinnen und Verkäufern, die an Kühle, Schweinsheit und Konsistenz genausogut hätten im Regal liegen und mit den Produkten konkurrieren können, sprang ihn von allen Ecken an. Angebot. Sonderpreis. Am liebsten hätte er ihnen ein Angebot gemacht, eins auf das es keine Ablehnung geben konnte, zum Sonderpreis ihrer erbärmlichen Seele und bezahlt mit einigen Tropfen ihres Blutes auf dem mattgeschrubbten Kachelfußboden.

Ein Konsumtempel in den man dann geht, wenn man wirklich garnichts braucht außer irgendwas, was man sich in die Visage stopfen kann um den inneren Hunger nach nichts und wieder nichts für einen Moment länger unterdrücken zu können. Das was diese Welt dringend zum überleben brauchte, war sowieso nicht hier. Lebensmittel. Überlebensmittel? Sterbehilfsmittel, wenn man den Kalorien- und Cholesterintabellen trauen kann, aber das kann man ja schlecht hinschreiben, würde ja keiner kaufen. Genausowenig, wie wenn sie wüssten, daß ihre Würste die sie sich auf der nächsten Grillparty reinstopfen von unterbezahlten Mitarbeitern aus Osteuropa ohne Sicherheits-Kettenhandschuhe gemacht werden, weil die Dinger teuer sind. Dann kommt halt mal ein Finger mit rein oder eine halbe Hand. Gemischtes Hack heißt ja nicht umsonst so und wenn die Leute wüssten was da alles drin ist, würden sie um den einen Finger auch keinen Aufstand machen. Aber da alles besser ist als zu hungern, interessiert es schon lange niemanden mehr, wen wundert’s in Zeiten in denen Bio bedeutet “Bei Frischluft und Sonnenschein gequält und verpestet.”

Einige Scheiben Käse später stand er an der Kasse. Die Kassiererinnenwahl ist zumindest manchmal ein Lichtblick, gibt es doch die eine oder andere hübsche Gestalt, deren Lächeln sanft und gratis ist. Wenn man schon in einem solchen Geschäft ist, in dem die Waren vermutlich äußerlich so tot sind, wie diejenigen innerlich, die sie kaufen – dann sollte man sich doch wenigstens aussuchen können, wer einem am Ende die Rechnung serviert. Ein schönes Konzept, auch für das jüngste Gericht. Wenn Vic sich aussuchen könnte, wer am Ende sich hinstellt und seine Taten-Kisten durchsieht, wäre das vermutlich niemand aus dem himmlischen Chor.

“Wenn ich nach Hause komme”, dachte er, “bestelle ich mir dieses T-Shirt wo drauf steht ‘We all are going to die someday – but I intend to deserve it!’”

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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