Diethelm Reiner Kaminski

Außer Kraft gesetzt



Über Nacht war alles anders geworden. Wie sehr sich die Welt und damit unser Leben verändert hatten, kriegten wir erst so nach und nach mit. Irgendetwas war mit der Graviation schief gelaufen. Wir kannten die Ursache nicht. Wir sahen nur die Folgen. Seltsamerweise waren keine Lebewesen betroffen, nur Gegenstände, die aber ausnahmslos.

„Hätten wir nur vorher aufgeräumt“, jammerte meine Frau. „Jetzt stolpere ich ständig über deine herumliegenden Bücher und Akten.“

„Als ob das was ändern würde“, sagte ich resigniert und versuchte zum hundertsten Mal vergeblich, die Bücher  vom Boden aufzuheben. Selbst bei größter Kraftanstrengung ließen sie sich nicht von der Stelle bewegen. Wie festgeklebt, wie verschweißt mit dem Untergrund.

So war es mit allem. Der Telefonhörer ließ sich nicht aus der Gabel, der Aschenbecher nicht vom Couchtisch, der Pullover nicht aus dem Schrank nehmen. Größe und Gewicht spielten keine Rolle. Es machte keinen Unterschied, ob es sich um ein federleichtes Taschentuch oder einen Kühlschrank handelte. Sie ließen sich nicht verrücken. Keinen Millimeter. Die Welt war erstarrt. Nur wir Menschen bewegten uns wie immer, ebenso Hunde, Katzen und Vögel. Andere Tiere gab es nicht in unserer unmittelbaren Umgebung. Gut, wir konnten uns glücklich schätzen, glimpflich davongekommen zu sein. Nur - wie lange? Vielleicht war das nur die erste Phase einer noch schlimmeren Katastrophe, die auch uns Menschen lähmen würde. Aber auch so war es schlimm genug. Das zeigte sich, als meine Frau beiläufig fragte: „Hast du keinen Hunger? Was hilft alles Klagen. Noch leben wir, und deswegen müssen wir essen. Lass uns frühstücken.“

„Soll ich den Tisch decken?“, fragte ich gewohnheitsgemäß und war mir sogleich der Unsinnigkeit meiner Frage bewusst. Da gab es nichts zu decken. Die Türen des Küchenschrankes und des Kühlschrankes ließen sich zwar öffnen, aber auch nicht mehr. Es war unmöglich, den Schränken Geschirr, Brot, Butter oder Käse zu entnehmen, da konnte ich noch so sehr ziehen und zerren.

„Hätten wir doch nur Vorräte angelegt“, jammerte meine Frau schon wieder. „Du aber auch mit deinem ewigen Optimismus. Steig ins Auto und fahre in den Supermarkt. Das ist unsere letzte Chance. Es kann schließlich sein, dass die Waren dort noch locker sind.“

Ich hatte keine Lust zu streiten, obwohl mir klar war, dass sich das Auto ebensowenig wie die Waren in den Regalen der Supermärkte würden bewegen lassen.

„Ich habe Hunger“, quengelte meine Frau. „Ich halt´s nicht mehr aus.“

„Das wirst du wohl oder übel müssen“, sagte ich. „Iss einen Apfel. In der Obstschale auf dem Küchentisch liegen noch ein paar Früchte.“

„Und wie?“, fragte meine Frau.

„Bück dich gefälligst. Du wirst dich daran gewöhnen müssen“, sagte ich schroff.

Wir gewöhnten uns tatsächlich an die veränderten Essmethoden. Warum auch nicht. Tiere taten es schließlich auch. Statt die Speisen zum Mund, führten wir unsere Münder zu allem, was irgendwie essbar und trinkbar schien. Wir steckten unseren Kopf in den Kühlschrank, tief bis in den letzten Winkel, rissen die Wurst- und Käsepackungen mit den Zähnen auf, und als die Fächer leer waren, scheuten wir uns nicht, auf der Suche nach Kräutern und Beeren auf allen Vieren über Wiesen und durch Wälder zu kriechen und aus Pfützen Wasser zu trinken. Da es unmöglich war, die Kleidung zu wechseln, die wir am Leibe trugen, würde der Tag kommen, an dem die Fetzen uns vom Körper fielen und wir nackt herumkrochen, fortwährend bedroht von herumstreunden Hunden und Katzen und von der Konkurrenz hungriger Menschen. Aber noch lebten wir.

Meine Frau hatte sich überraschend schnell an das alternative Leben gewöhnt und klagte kaum einmal. Sie hatte eingesehen, dass es nichts brachte, und unterstützte mich tatkräftig bei der Futtersuche.


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