Christiane Mielck-Retzdorff

Ungehörte Schreie



 
 
Der Asphalt des Fußweges dampfte nach einem kurzen Aprilschauer im nachmittäglichen Sonnenlicht. Begrenzt durch einen verbeulten Maschendrahtzaun fiel das Gelände auf der einen Seite steil zu den Bahnschienen ab. Dort strahlten alte Tüten von Süßigkeiten in bunten Farben zwischen frühlingsgrünem Unkraut und die Scherben zerbrochener Flaschen blitzten vereinzelt wie Edelsteine. In regelmäßigen Abständen ratterte die S-Bahn vorbei, wirbelte vermoderte Blätter empor. Unbeeindruckt müffelten die zahlreichen Kaninchen weiter an dem ersten Grün.
 
Auf der anderen Seite bog sich der Weg um einen stattlichen Hügel, der von Gestrüpp wild überwuchert war. Nur auf seiner Kuppel thronten wie Herrscher drei mächtige Eichen. Im Sommer zog es manchmal Liebespaare an diesen Ort, um geschützt von den Blicken anderer ihr Liebespiel zu treiben. Doch noch war der Trampelpfand nach oben kaum sichtbar zwischen den Büschen. Dort hockte, gehüllt in einen grünen Regelmantel, verborgen lauernd ein Mann und wartete.
 
Der Weg füllte sich, bald nachdem die Schulglocke geläutet hatte, mit Schülern, die auf ihrem Heimweg zur Bahn schlenderten. Während einst ihre Gespräche in der Luft hallten, waren es nun andere Klänge die umherstreiften. Oft war nur ein Dröhnen und Hämmern von Bässen zu hören, aber auch hohe Töne und ganze Melodien fanden ihren Weg von den kleinen Geräten über die, den Trägern ins Ohr gestöpselten, Miniaturkopfhörer in die Umgebung. Nur einige ganz Moderne entflohen der Akustik des Alltags durch Lautsprecher, die gleich Ohrwärmern  das ganze Gehör bedeckten, so das weder ein Laut nach innen noch nach außen dringen konnte.
 
Auch Lea liebte es, ihre Gedanken in Musik zu baden, die frisch auf ihr Handy geladen, die Flucht aus einer unverstandenen Welt erlaubte. Mit ihren gerade 15 Jahren wollte sie sein wie all die anderen, trendy und up to date. Diese Anpassung, diese Unauffälligkeit gab ihr das Gefühl, dazu zu gehören.
 
Eine Freundin hatte ihr noch einige Hits auf ihr Handy überspielt, bevor diese sich im Englisch-Förderkurs quälen mußte, und Lea trat nun, die neue Musik im Ohr, den Weg zur Bahnstation an. Der Asphalt war bereits verwaist und wartete geduldig auf den nächsten Schwarm von Schülern, der in nicht weniger als einer halben Stunde von dem Gebäude hinter der Biegung ausgespukt werden würde.
 
Ummantelt von den Klängen in ihrem Ohr nahm Lea die ihr vertraute Umgebung nicht wahr. Sie hörte nicht das leise Rascheln des sich erhebenden Mannes im Gebüsch neben ihr. Ihre durch die Musik verschleierten Augen erkannten nicht den Schatten, der sich näherte. Sie spürte nur plötzlich einen dumpfen Schlag auf den Kopf und versank im Nichts.
 
Als Leas Bewußtsein sich wieder zu klären begann, sah sie verschwommen in der Ferne Hochhäuser vor einem blauen Himmel. Darunter wucherte wildes Buschwerk mit ersten Blattknospen. Dann entdeckte sie ihre mit einem Strick gefesselten Füße an den auf dem Boden ausgestreckten Beinen. Sie konnte ihre Arme nicht bewegen, die um den Stamm einer Eiche geschlungen an den Händen gebunden waren. Nur langsam begriff sie, dass sie nackt war.
 
Mit dem langsamen Erfassen ihrer Lage wandelte ich das Unverständnis in Begreifen und Angst kroch wie eine giftige Schlange in ihr empor. Wild zerrte sie an den Fesseln, die es ihr  nicht erlaubten aufzustehen. Panisch warf sie den Kopf nach rechts und links, doch konnte sie niemanden erblicken. Der Mann stand etwas abseits hinter ihr und beobachtete Leas sinnloses Treiben mit dem überheblichen Lächeln des Mächtigen.
 
Lea begann um Hilfe zu schreien. Dort untern konnte sie den Weg zur Bahnstation erkennen und gerade kündigte das Schulläuten die Ankunft weiterer Heimkehrer an. Sie sparte ihre Kräfte, und es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der erste Schüler erschien. Wieder begann Lea zu schreien, aber die Klänge, die den Jungen einhüllten, duldeten keine Störung von außen.
 
Weitere Schüler bevölkerten den Weg, doch mit ihnen kam die Musik, die vom Wind getragen spärlich bis zu Lea drang. Ihr verzweifeltes Kreischen ging unter in einem Meer von Tönen. Sie schrie und schrie in wachsender Hoffnungslosigkeit, bis sich die Menschen dort unten wieder zerstreut hatten.
 
Die diffusen Geräusche der Stadt vermengten sich mit dem Rascheln des Windes in den Zweigen zu einer leblosen Stille. Das Gefühl grenzenloser Einsamkeit erfaßte Lea. Ein Flugzeug, das schillernd im Sonnenlicht über den Himmel zog, erschien ihr wie der unwirkliche Bote aus einer anderen Welt. Ein Zaunkönig landete auf einem Ast, betrachtete kurz die nackte Gestalt und flatterte davon. 
 
Dann endlich beschritt ein Lehrer den Weg und Lea, deren Körper im Schatten des Baumes  vor Kälte zitterte, erhob erneut ihre Stimme, aus der nur noch ein Krächzen drang. Lea schluckte und konzentrierte sich. Es blieben ihr nur noch wenige Sekunden bis der Lehrer außer Hörweite war. Mit aller Kraft schrie sie ihre Verzweiflung heraus, erreichte nie erahnte Höhen. Doch der vorbei donnernde Zug erschlug ihren Hilferuf mit gleichgültigem Dröhnen.
 
Lea fühlte, wie Kälte und Schwäche ihren Körper mehr und mehr eroberten. Der Funke ihres Willens begann zu erlöschen. Sie wußte nicht, wer sie hierher gebracht hatte, doch sie ahnte, dass dieser Jemand nicht fern war. Leise begann sie um Hilfe zu flehen. Tränen kullerten über ihre Wangen.
 
Der Mann schaute auf das gefesselte, hilflose Mädchen. Sie war so jung und zart, die Stimme gebrochen. Bald würden ihr die Temperaturen des Frühlings das Bewußtsein rauben. Wollte er ihr Retter sein? Er zündete sich eine Zigaretten an, und das Klicken des Feuerzeuges klang in Leas Ohren wie eine Hoffnungssymphonie.            
 
          

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Buch von Christiane Mielck-Retzdorff:

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Trug und Wahrhaftigkeit: Eine Liebesgeschichte von Christiane Mielck-Retzdorff



Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
Die junge Frau muss gegen Ablehnung und Misstrauen kämpfen. Doch auch der Lehrer sieht sich plötzlich einer bösartigen Anschuldigung ausgesetzt. Trotzdem kommt es zwischen beiden zu einer zarten Annäherung. Dann treibt ein Schicksalsschlag den Mann zurück auf das elterliche Gut, wo ihn nicht nur neue Aufgaben erwarten sondern auch Familientraditionen, die ihn in Ketten legen.

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