Britta Butcher Bohnenwald

Ungeboren

In einem kleinen abgelegenen Dörfle bekommen die Einwohner zwar Privatfernsehen aber keinen Nachwuchs. Die zuletzt Geborene berichtet über ihre Erlebnisse und warum der Kinderarzt gegen einen Puppendoktor ausgetauscht werden musste.


Einblick in den groben Alltag

Wo früher der Kindergarten stand, verkaufte nun ein Puppengeschäft ganztags. Anton und Svenja, zwei süße Gesichter, fast Lebens und gefühlsecht waren in diesem Sommer der Renner und oft sah ich Erwachsene auf dem verwahrlosten Spielplatz, wie sie diese an Wippen, Schaukeln festgurteten, damit sie nicht leblos einfach runterplumbsten. Nur das Rutschen sowie das Spielen im Sandkasten funktionierte ohne Sicherheitstechnik, da durch ausgefeilte Verstellmöglichkeit der Gliedmaßen das Sitzen ohne vor und zurück Auf und Abbewegung prima funktionierte. Anton war das in Plastik gegossenes Nachbild der Hauptrolle einer Serie der jeden Sonntag nach dem Gottesdienst im Gemeindehaus gezeigt wurde. Kuchen und Kaffe gab´s genügend nur das Kinderprogramm strich man fast komplett, da es Anton und Svenja ja ausreichten still im Mitgebrachten PuppenWägelchen auszuharren und bei geöffneten Glasaugen den Eltern zuzuschauen, wie sie über Qualitätsunterschiede, die richtige Bekleidung und den neuen Schrei- und Pipi- Mach Optionen der Puppen philosophierten. Sobald jedoch eine ältere Dame vom Kaffee-Nachkochen abließ um einen diesmal im schicken Bubenanzug bekleideten Anton zu begutachteten, wurde das Fachgespräch schnell abgebrochen und Eltern und Besitzer scharrten sich um das Wägelchen um den Inhalt mit goldigen Attributen auszuschmücken. Ich stand immer etwas abseits, hatte keinen schicken Bubenanzug an, konnte dafür außer schreien und Pipi machen zumindest sprechen und anderes. Ich war das letzte Kind in meinem Dorf, welches vor 14 Jahren geboren wurde und da es hier nun Eltern im Überfluss gab, musste für mich keiner einen Extra Puppenladen aufmachen, wäre dieses nicht der Fall, ich könnte mich kaum entscheiden, zwischen Model Manfred oder Paulus, Babsi oder Jutta. Ich kann mich noch genau dran erinnern, wie ich damals rumgereicht wurde, quasi das Kücken im Korb, doch als Neid und Missgunst in der Welt der Großen aufkam, da nicht alle ihr eigenes Kind bekamen, wurde rasch eine neue Kirche gebaut, damit die Menschen sich nicht sofort über den Haufen schießen. Einmal kommt ein Ärzte-mobil und untersucht in Rotation alle Männer und Frauen um vielleicht doch noch zu einer medizinischen Lösung zu kommen, das weiße Arzt-Auto hat zwar inzwischen ein paar Beulen mehr, da sich es die Stammtischbrüder nicht nehmen ließen ihren Beziehungsfrust direkt am unfähigen Helfer durch gezielten Stein, Beil und Humpen Wurf abzureagieren. Bestraft wurde nie jemand dafür, die Kirche beulte durch Vergebung zwar nicht die Karosserie aus, aber zumindest das Sündenregister, auch derjenigen die damals Ulla für eine Hexe hielten und sie samt ihrer sechs Katzen auf dem Schützen- und Geburtsfest anzündeten. Man muss in einer solchen schwierigen Lage halt Rücksicht auch auf überkochte Emotionen nehmen. Meine Eltern brachten mir das Lesen, schreiben und rechnen bei, da für einiges Kind im Dorfe eine eigne Schule wohl übertrieben wäre und da uns der Pfarrer und die Ärzte bescheinigten dass ich auch unfruchtbar bin, ersetzen wir den Sexualkundeunterricht mit einer Bibelstunde. Im dritten Testament erfuhr ich endlich wie es zu dieser Unfruchtbarkeit kam und warum wir unser Dorf nie verlassen durften: Arbeite und Bete, sprach der Herr, verliere dich nicht in deiner Nutzlosigkeit und vererbe so deine schlechte Tugenden an deine Kinder, denn jedes Lamm welches den Hirten nicht strebsam folgt, verhungert in der Ödnis. Nachdem im benachbarten Industrieviertel fast alle Unternehmen Pleite gingen, verloren viele im Dorf ihren Job und bekamen vom Land grade soviel Geld, dass sie im Billigmarkt das nötigste Einkaufen konnten. An Reisen oder Wegziehen dachte keiner, viele hofften auf einen Aufschwung und hatten zudem Angst oder kein Geld den Schritt nach draußen zu wagen. Wohlbehütet wurde ich, wie die Dorftraditionen, wie das Fruchtbarkeitsfest, wie der Esoterikladen mit geheimnisvollen Kräutern, wie der Bücherladen mit seinen vielen wissenden Lesern. Tja und irgendwann bemerkte man, dass die anderen Frauen im Dorf nach meiner Geburt nicht mehr Schwanger wurden, man probierte alles aus, von besonderen Meditationen bis hin diversen Fruchtbarkeitstänzen bis dann der Pfarrer erklärte es sei Gottes Strafe und der Arzt erklärte es sei eine neue Seuche und somit keiner das Dorf verlassen durfte, man solle den Teufelsvirus im Dorfe lassen. Da alle die unser Dorf besuchten nur in Schutzkleidung kamen, gab´s eines Tages auch im Puppenladen für Anton und Svenja selbige mit oder ohne Sauerstoffflasche. Ich wollte mir eigentlich zum 14. Geburtstag eine arschenge Jeans kaufen, aber selbst als 14 Jähriges Mädchen beeindruckten mich Anton und Svenja in ihren Anzügen immer aufs Neue. Und irgendwann gibt´s bestimmt auch das Arztauto im Puppenladen zu kaufen, bin mal gespannt ob auch die Beulen und Kratzer originalgetreu nachgegossen werden. Das ich schon mit 12 Jahren anfing Bier zu trinken, lag einfach daran, dass es freitags im Dorf nur die Kneipe gab, wo sich fast alle Erwachsenen mit ihren Puppen trafen. Mir war es auch ziemlich zuwider auch noch mit 12 auf jedem Schoss sitzen zu müssen und so tat ich halt auch erwachsen und stieß mit an, wenn der Arndt, der vom Gemüsehof, eine neue Runde ausgab. Oft wurde getrunken und gefeiert bis tief in die Nacht und es wurde viel erzählt von früher, wo es noch Kinder gaben und während der Pfarrer die Vergangenheit preiste, guckten mich alle erwartungsvoll oder vorwurfsvoll an. Mensch jetzt biste schon geboren worden und trotzdem unfruchtbar, eigentlich solltest du Gott für dein Privileg danken und ihm ein Kind schenken. Nach einem kräftigen Schluck, sah ich die Blicke nicht mehr und wendete mich lieber zu meiner Bingo-Omi, die jeden Freitag ihren Bingo-Pokal mitbrachte um ihn bei Zuhören eifrig zu polieren. Die Kinderwagen belegt mit den Antons und Svenjas standen meist neben den Mountainbikes und hatte ein Erwachsenen nicht genügend Geld für eines dieser Puppenmodelle, versteckte er Vormonatsmodell Friedolin meist schon beim reinkommen beim Zigarettenautomat und schob sein neues Mountainbike möglichst nah in Sichtweite des Tresens. Was nicht zwei neue Beine hat, hat zwei neue Räder. Hinundwieder hörte man eine verrauchte stimme, beim Öffnen einer neuen Zigarettenschachtel fragen, wem den Friedolin gehöre, doch da dieses Model vor einem Monat noch der Renner war, hätte es ja jeder sein können. Aber wer ist bitte so dreist grade heute an diesem Freitag wo doch morgen Schützen-und Geburtsfest ist eine Friedolin mitzubringen, und dann auch noch ohne Schutzanzug, von einer Sauerstoffflasche ganz zu schweigen. Arndt stellt mir ein Pils hin, während er mir seine Beschwerde zunuschelt und Bingo-Omi hört den Pokal immer noch wild polierenend aufmerksam zu. "Wer´s nicht hat, der hat´s nicht," sagt sie, während sie die Plakette des Pokals, nach Fingerfettspuren überprüft. Schon komisch seit 30 Jahren dass einzig geborene Kind zu sein, erst war´s ein Wunder, dann Teufelswerk, dann ein Mensch, alle Phasen habe ich ganz gut überstanden, man muss halt in dieser schwierigen Lage überkochte Emotionen akzeptieren. Und so akzeptierten mich auch die Erwachsenen, besser als Nichts oder nur ein Mountainbike. Bevor ich es vergesse, an diesem Abend war auch Ausstellungsabend der ortansässigen Töpfertruppe, Arndt hatte lustige Aschenbecher geformt, die er mit einem selbstgereimten Vierzeiler wunderbar persiflierte. Für die Antons gab´s meist selbstgetöpferte Autos und da Anton Hände sowieso nicht in der Lage diese Fahren zu lassen, mussten sich die Räder auch nicht bewegen, was mit Ton auch sehr schwer umzusetzen wäre. Für die Svenjas gabs wunderschöne Spiegel, allerdings ohne Spiegelbild, es genügte ja, wenn die Erwachsenen wussten wie ihre Puppen aussehen. Arndt hatte seinem Anton einen Fußball getöpftert und als Arndt Antons Bein per Handanlegen zum Torschuss ansetze und sich herausstellte, dass Ton ein wenig robuster ist als Plastik, war der Aufschrei groß und Malte der Puppenladenbesitzer und Puppendokter versuchte aus den Plastiksplittern die nun zwischen Aschenbecher, Pils-Gläsern und Omi-Pokal lagen schnell einen neuen Fußersatz zu formen. Gottseidank hatte jemand Fahrradflickzeug dabei und man spürte eine große Erleichterung in der Runde, als die kleine Tube Kleber aus der Mountainbikesatteltasche gezogen wurde. Jemand kam auf die Idee einfach den Fuß von Friedolin zu nehmen, doch ich glaube der Pfarrer hatte was dagegen. Malte versichterte Arndt, dass spätestens morgen abend zum Fest, Anton´s Fuß wieder voll einsatzbereit ist, und gab dem Besitzer des abend rettenden Klebers ein Pils aus. "Schön das hier jemand mitdenkt" sagte BingoOmi während sie krampfhaft versuchte einen Plastiksplitter aus dem Pokal zu fischen. Es war Zeit für die Freitagsrede und heute war Henriette dran, die schon ungeduldig, ihre Svenja auf dem Schosse trohnend, mit einem Bleistift gegen ihr Pilsglas trommelte. Während Arndt immer noch mit dem Massband, dem Kleber und seinem Taschenmesser an Antons Fuss rumkorrigierte, stellte Henriette ihre Svenja der Runde vor. Bingo Omi versuchte ihren Pokal Svenja irgendwie am Leib zu befestigen, damit dieser mit die Runde mitmachte, aber nein, so was duldete Henriette nicht und der Pokal hatte nach einigem Hin und Her wieder Fingerfettabdrücke , so dass rasch nachpoliert werden musste. "Wie alt isse denn?" schallte über den Tisch. "Zwei Jahre, Freu Neumann, zwei Jahre", antwortete Henriette nach Sichtung des Beipackzettels. "Oh his dafür aber ganz schön groß geworden" schallte es wieder vom anderen Ende des Tisches. "Ja, ja ist halt die Gold-Edition" antwortete darauf Henriette ganz stolz. Arndt stellte Anton auf den Tisch, und überlegte laut ob er Antons neuen Fuß nicht mit Beton ausgießen sollte, um diesen Torschuss fähig zumachen. "Ne lass mal!" riet ihm daraufhin der Tischnachbar, "da bekommt er nur Gleichgewichtsprobleme." Ich selber hatte keine Puppe, dazu war ich noch zu jung, wie meine Eltern, durch meine Zeugung hoch angesehen im Dorf, immer sagten. Echt gesagt, ich wollte auch keine Puppe, mir fehlten Erwachsene in meinem Alter, die mit mir endlich mal den Kicker in der Kneipe nutzen und nicht nur Pokale polierten oder die Fäuste ihrer Puppen mit Beton ausgossen. Aber wie, gesagt der 2. jüngste im Dorf war schon 36, na ja und außerdem mochte ich ihn nicht, er war immer so komisch zu mir, ständig wollte er mir seine neuen Puppen zeigen und lud mich andauernd zu einer Fahrradtour ein. Ein Handy bimmelt. Arndt der grade noch an Antons Fuß rumbastelte, zog wie ein Cowboy sein Kommunikationszenter aus der Gürteltasche. Die Gruppe schwieg gespannt, denn keiner innerhalb der Kneipe hatte ihn angerufen, es musste von Außerhalb kommen. War es ein Investor, war es ein Befruchter, war es ein neuer Hoffnungsträger, der Pfarrer schien mir nervös, doch es war nur die Zeitansage. Erleichterung und Enttäuschung spiegelten sich im Rauch der Zigaretten, die kommentarlos neben Friedolin gezogen wurden. "Für mich ist Feierabend!" gab Arndt der Gruppe bekannt. "Ihr wisst ja, Termine!" Arndt packte Anton in den Kinderwagen, verstaute den Fußball im Tragenetz, und klopfte dreimal auf den Tisch. Er wünschte allen einen schönen Abend und eine gute Heimkehr. Die Lokalrunden ließ er sich anschreiben um sie demnächst zahlen zu können, schon hatte er für nächste Woche einen neuen Termin. Man verabschiedete sich mit Dankbarkeit und wünschte einen schönen sonstigen. Bei uns werden Traditionen geflegt, wie auch an diesem Abend. Ich wurde etwas Müde und ließ die Runde Korn aus, die Bingo Omi ausgab, weil sie Henriete erzählen durfte, wie sie zu ihrem Pokal gekommen war. "234 D-Mark!, soviel fürn einfaches Surfbrett"? Zwei Herren am Tisch blätterten angeregt in einem Versandskatalog, ihnen missfielen anscheinend die Preise für ein Surfbrett. "Ich hab dat Brett scho für 190 bei der Konkurrenz gesehen", ein dritter Tischnachbar gab sein Katalogwissen preis und wurde sofort in die Obhut seiner Frau genommen, die es anscheinend vorzog entweder ihre Handtasche so auf dem Tisch zu platzieren, dass der Pokal von Bingo-omi aussah wie Alt-Metall, oder regungslos zuzuhören um bloß nicht aufzufallen. "Mensch Harry, "ermahnte sie ihn, "sei nicht so vorlaut". Einer der beiden Katalogphilosophen blickte auf und musterte sie. "Nee Harry, mit Brettern scheinst dich ja bestens auszukenne!" hörte ich ihn glucksend einen Satz fertig stellen. "Jetzt hascht uns wieder blamiert, immer das selbe!" tadelte sie ihren Harry, "mensch, mit dir kann man escht net ausgehe!" Ein Kneipenwitz war geboren, alle hielten sich die Bäuche oder ihre Puppen, Henriette richtete ihr Dekolte und ich beschloss doch die nächste Runde Korn mitzutrinken.
Harry sagte auch die nächste Stunde nach Mitternacht nichts mehr, und Bingo Omi fand schnell heraus, dass er auf den Spitznamen Bretter-Harry besonders allergisch reagierte. Der Pfarrer knöpfte sein Jacket auf. Ich mochte ihn irgendwie, er hatte auch keine Puppe dafür immer ein offenes Ohr für die alltäglichen Probleme. Ein weiser Mann, wie immer.

Zum 16. Geburtstag bekam ich von ihm eine persönliche Widmung in meine Bibel.

"Für mein Gotteskind, das tapfer die schweren Zeiten durchlebte und nie vom Glauben abfiel, wünsche ich Herrgottes Segen, so dass sie weiter ein glückliches und erfühlendes Leben führen wird.
Dein Pfarrer Antonius"

So etwas schönes hat mir noch niemand geschrieben, okay Mutti und Vati natürlich schon, aber ansonsten nervten mich die selbstgemalten Geburtstagskarten von Anton und Svenja schon ein bisschen, aber wie gesagt es kommt ja von Herzen. Aber viel wichtiger: Endlich durfte ich meine Ausbildung beginnen, nur wer gab mir einen Ausbildungsplatz. Henrik, der 2. Jüngste bot mir eine Stelle als Empfangsdame in seiner Fahrradwerkstatt an, welche er mir mit 5 DM die Stunde entlohnte. Ich saß an einem Holztisch auf der Einfahrt zu seiner Garage, dass Handy stets griffbereit vor mir liegen, es könnte ja ein Kunde nach schnellem Service verlangen. Da es Sommer war, frohr ich nicht und hin und wieder schaute Arndt vorbei, der komischerweise immer von der Zeitansage angerufen wurde, wenn er mit mir ein Pläuschen halten wollte, na ja Termine halt. Auch Pfarrer Antonius kam des Öfteren auf seinem Hollandrad, machte kurz eine Luftprüfung der Reifen und legte mir immer etwas Obst auf meinen Arbeitstisch. "Um Gesund zu bleiben." Harry, also ich läster ungern, aber Harry ist irgendwie, na sie wissen schon, komisch halt. Ich mein ich kenn sie ja die Männer, aber Harry ist irgendwie anders. Bei Henrik weiß ich zumindest 100%, dass er mich nur flachlegen will, aber bei Harry, mir scheint sein Frauen-Fachwissen wurde eingeeist als er seine Frau kennen gelernt hat. Ständig fährt er mit seinem Fahrrad auf und ab, vorbei an meinem Arbeitstisch um nach 10 Minuten zurückzukommen, umso zu tun als hätte er was auf dem Hinweg vergessen, vielleicht seine Frau, ich weiß es nicht. In 20 Metern Entfernung staart er mich an, auf 10 Metern tut er so als würde der 3 Gang nicht anspringen und senkt seinen Blick Richtung Kette und Pedal auf 2 Metern beschleunigt er und parallel zu meinem Tisch hör ich kurz ein "Hi, du!" und ein "Tschau, Tschau!" für die nächsten entfernenden Meter. Und das fünfmal am Tag. Einmal habe ich bei Entfernung 20 einfach mal meine Jeansjacke ausgezogen, und prompt musste Malte, der Puppendoktor, die arme Svenja, welche auf Harrys Kindersitz festgeschnallt war von dem Schlamm bereinigen in den Harry schockrot stürzte. Dabei ist Harrys Frau gar nicht hässlich, also gemessen an dem was im Dorf zur Verfügung steht, und Hautunreinheiten sieht man im Dunkeln sowieso nicht. Auch Pfarrer Antonius meinte bei der Obstabgabe ich sei manchmal zu gehässig, aber so sind die jungen Leute halt. Schön dass er junge Leute sagt, dass macht nicht so einsam. "Nein Henrik, ich bin nicht so eine, wie du denkst!" wie oft erläuterte ich ihm, dass meine Biografie nie in seinen verklebten Heftchen auftauchen wird. Armer Henrik, die große Auswahl hat er ja nicht, es gibt ja nur mich, na ja, wäre es anders, wäre es auch gleich.

Da kein Geburts- und Schützenfest je eine besondere Abnormalität aufwies, wurde auch keines in meinem Tagebuch als besonderes datiert. Morgens, wenn der Tau noch die Wiese bedeckte, die ersten Vöglein erwachten, der Hahn den Tag begrüßte, bauten wir die BuffetTische und den Bierstand auf. Dazu selbstgebastelter Tischschmuck, Musik vom Band, die gewohnte Hektik der Salatfrauen und der Kuchen-Omis. Ich wurde jedes Jahr aufs Neue Schützenkönigin, nur der König wurde abends vorher im Gasthaus ausgeknobelt. Diesmal war es Henrik, der schon sabbernd vorm Rosentor auf mich wartete um mich 20 Meter in die Mitte des Festplatzes schleifen zu dürfen. Henriete begleitete diesen Marsch auf ihrer Blockflöte und meine Eltern waren ganz stolz auf mich, dass ich solange durchhielt. In der Mitte des Festplatzes, umringt von Fressbatterien auf Klappdidab-Tischen eröffnete ich dann das Fest und erntete verzückten Beifall. Unser Bürgermeister hielt eine Rede, mit mancher komischer sexistisch ausgerichteten Poente, welche anscheinend Bingo Omi besonders gefielen. Polierend gackernd gab sie jede Wortfetzen im nuscheligen Tonfall wieder und überprüfte die Umherstehenden, ob ihr Humorverständnis auch geteilt wurde. Es gibt Dinge, da meint man diese haben weder mit Tradition noch mit einem Ritual zu tun, sie passieren einfach zufällig, aber dennoch jedes Jahr. Ein Tisch musste umgestellt werden. Und wie immer, wenn ich mal mit anpacken sollte, hörte ich es hinter mir vorwurfsvoll "na, haste heut Morgen net gefrühstückt?" schallen. Dieser Spruch war so sicher wie Henriks Anzugskombination am Wochenende. DJ Antonius legte eine wilde Scheibe auf und anhand Henriettes Zuckungen, merkte ich das nun der Teil der Feier begann, wo nachher alle drüber sagen, dass die Stimmung anfangs verkrampft war, sich aber am Schluss gelockert hatte. Doch zuvor hatte sich ein Komitee von ausgewiesenen Wissenschaftlern, Fachleuten und Philosophen um das Bierfass gescharrt, um den verschlossenen Gral zum Sprudeln zu bringen. Ich weiß ja nicht welche Gesichtszüge Männer bei einem Orgasmus ziehen, aber als dann der Inhalt plätschernd in das Tal der Gläser floss, konnte ich mir zumindest den Ansatz der Mimik vorstellen. Fein fand ich auch von Henrik, dass er trotz immensen Bierkonsum mir diesmal keinen Heiratsantrag gemacht hat, wäre ja auch ein bisschen schwierig gewesen, wenn man knalledicht unterm Kuchentisch liegt.
Kennen Sie die Situation wenn drei ältere Damen mit vollen Sektgläsern bewaffnet ein bisserl Abseits der Feier stehen und sich gegenseitig Buch und Literatur Tips geben? Der Renner war dieses Jahr anscheinend das Buch "Robenland" welches von einer blinden Negerin handelte, die auf Selbstfindungstrip in der Antarktis rumschipperte und schließlich ihr Glück bei einem cholerischen Eskimo fand. "Is dat die Speisekarte?" fragte Henrick, nachdem er aus dem SaufKoma aufgewacht war, beim Anblick auf das von einem süßen Robbenbaby verzierten Buchcover.
"Gibt gut Tinte auf´m Füller, schallte es von seinem Nebenmann, der mit seinem Alkoholdurchfluss Henrik fast zu einem patt zwang. Pikiert drehten sich die Damen vom Pegelpöbel ab.

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Andreas ist seit seiner frühesten Kindheit mit einer schweren unheilbaren Krankheit konfrontiert und musste den größten Teil seines Lebens in Betreuungseinrichtungen verbringen..Das Aufschreiben seiner Geschichte ist für Andreas ein Weg etwas Sichtbares zu hinterlassen. Für alle, die im Sozialbereich tätig sind, ist es eine authentische und aufschlussreiche Beschreibung aus der Sicht eines Betroffenen.

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