Daniel Siegele

Die Jahrestags-Rede

Einmal in jedem Jahr – am Jahrestag der Gründung unseres humanistischen Instituts – findet im großen Vortragssaal eine Festveranstaltung statt, bei der die Teilnahme für alle Mitarbeiter eine ungeschriebene Pflicht ist.

Zu den wichtigsten Gründungsmitgliedern gehört Sir Archibald, der seit jetzt schon knapp 30 Jahren die Ehrenpräsidentschaft inne hat. Sir Archibald ist inzwischen schon fast 90 Jahre alt – sein hohes Alter hält ihn allerdings bis zum heutigen Tage nicht davon ab, an unserem Jubiläumstag seit jetzt ebenfalls fast schon 30 Jahren immer wieder seine große „Grundsatzrede“ zu halten.

Mit dieser Rede – deren Wortlaut seit etwa 20 Jahren nahezu unverändert derselbe ist – prangert Sir Archibald seit dem ersten Tag seiner Ehrenpräsidentschaft mit unverminderter Entschlossenheit und ernsthafter Entrüstung den moralischen Niedergang unserer westlichen Gesellschaft an. Nicht wenige der Angehörigen unseres humanistischen Instituts fürchten sich geradezu vor Sir Archibalds Rede, die in voller Länge weit mehr als eine Stunde dauert:

Nachdem während früherer Jahrestags-Feiern schon so mancher Institutsangehörige – schnell und offenbar von Angst getrieben – den Vortragssaal verlassen hatte, bevor Sir Archibald ans Rednerpult trat, verhindern die Saalordner solches Tun auf Sir Archibalds Betreiben inzwischen, indem sie die Eingangstüren des Saales zur rechten Zeit von innen verschließen. Diejenigen Kollegen, die unserem humanistischen Institut schon etwas länger angehören, wissen dann, daß nun nichts Anderes mehr zu tun bleibt, als Sir Archibalds unvermeidbare Rede zu ertragen.

Nachdem die großen Eingangstüren des Vortragssaales sicher verschlossen sind, wendet sich einer der führenden Mitarbeiter unseres Instituts an einen jüngeren Verwaltungskollegen: „Herr Kollege, gehen Sie jetzt bitte zu Sir Archibald – er kann gleich seine Rede halten!“ Der so angesprochene Kollege macht sich dann auf den langen Weg zu Sir Archibalds Büro, aus dem er von dem bereits recht schwerhörigen Ehrenpräsidenten zunächst allerdings meistens keine Antwort bekommt. „Der alte Sir Archibald ist wohl mal wieder eingeschlafen!“ vermutet der junge Institutskollege aus wiederholter Erfahrung, weshalb er leise die Tür zu Sir Archibalds Büro und Studierzimmer öffnet.

Sir Archibald ist mehr in seinem Instituts-Büro zu Hause, als in seiner Privatwohnung – deshalb findet man hier auch eher ein (wie vor Jahrzehnten anmutendes) Akademiker-Domizil mit zahlreichen, wandhohen Regalen, die mit alten, kiloschweren Büchern und anderen Sammelstücken eines langen Gelehrtenlebens gefüllt sind; Den Platz, den die Bücherregale in Sir Archibalds Büro noch übriglassen, nehmen tatsächlich jahrzehntealte Wohnzimmermöbel und altersdunkle Ölgemälde in schweren Rahmen ein.

Nachdem er die Wartezeit zunächst damit verbracht hatte, seine Rede (die seit jetzt schon vielen Jahren im Grunde immer gleich geblieben ist) schon einmal in Gedanken zu halten, ist Sir Archibald auf seiner sichtlich bejahrten und schon etwas altersschwachen, englischen Couch zwischen alten Büchern, zerlesenen Fachzeitschriften und zwei Flaschen mit teurem, altem Whiskey tatsächlich eingeschlafen. Unser junger Institutskollege hat jetzt die etwas undankbare Aufgabe, den leicht erregbaren und nicht besonders geduldigen Ehrenpräsidenten aufzuwecken, damit dieser gleich seine Rede halten kann.

Obwohl sich der junge Verwaltungsmitarbeiter bei seinen Versuchen, Sir Archibald aufzuwecken, sehr um Vorsicht bemüht, erwacht der betagte Akademiker in geradezu unvermeidbarer, zwangsläufiger Weise mit dem Ausruf: „Wer sind Sie? Was tun Sie hier? Ach so, Sie sind´s, junger Mann!“ Auf dem langen Weg von Sir Archibalds Büro zum Vortragssaal bekommt Sir Archibalds junger Kollege den Anfang der altbekannten „Grundsatzrede“ schon jetzt zu hören, weil Sir Archibald seinen eigenen, wohlbekannten und immer praktisch genau gleichen Redetext schon einmal probeweise vor sich hinspricht, um die Wirkung seiner Rede bereits jetzt an seinem ersten unfreiwilligen Zuhörer zu erproben.

Ob der junge Verwaltungsangestellte Sir Archibalds Rede voller Grausen mit anhört oder ob er sich eher über die Schrullen des alten Akademikers amüsiert, ist so nicht zu erkennen – schon deshalb, weil er es im letzteren Fall nie wagen würde, seine Belustigung in Sir Archibalds unmittelbarer Gegenwart offen zu zeigen; So alt und schrullig Sir Archibald inzwischen auch sein mag – seine Sinneswahrnehmung funktioniert immer noch geradezu beängstigend gut!

Im Vortagssaal angekommen, wirft Sir Archibald zuerst einen mißtrauischen Blick auf die großen Eingangstüren, um sicher zu sein, daß diese tatsächlich abgeschlossen sind, damit den jetzt hier Versammelten gar keine andere Möglichkeit mehr bleibt, als Sir Archibalds Rede anzuhören. Nachdem er hinter dem Rednerpult Platz genommen und die Seiten seiner Jahrestags-Ansprache noch einmal prüfend betrachtet hat, beweist Sir Archibald einmal mehr, daß zu Recht von ihm gesagt wird, daß er auf eine größere Zuhörerschaft weit mehr als eine Stunde lang (und fast ohne erkennbare Unterbrechung) praktisch bis zu deren weitgehender Erschöpfung einreden kann.

Während er seine Rede hält, schaut Sir Archibald durch die dicken Gläser seiner Zweistärken-Brille immer wieder angestrengt bis zu den hinteren Sitzreihen des großen Vortragssaales: Dort sitzen gewohnheitsmäßig diejenigen Zuhörer, die während seiner langen, alljährlich gleichen Jahrestags-Rede irgendwann einschlafen - Andere beginnen hier irgendwann damit, daß sie ihren schrulligen, alt gewordenen Ehrenpräsidenten im Schutz der Zuhörermenge vor ihnen in möglichster Heimlichkeit parodieren und seine Rede in seinem typischen, pedantischen Tonfall mitsprechen!

Genau genommen sind es nicht nur die jüngeren Instituts-Mitglieder, die Sir Archibald als reichlich verschrobenen und schon fast neunzigjährigen Ehrenpräsidenten nicht mehr gänzlich ernstnehmen und seine „Grundsatzrede“ nur noch als alljährlich zu ertragende Nervenprüfung über sich ergehen lassen; Ein paar Jahre zurückliegende Versuche, Sir Archibald mit Vernunftargumenten und viel Höflichkeit vom Halten seiner immer wieder selben Rede abzubringen, wollen alle damals Beteiligten allerdings lieber nicht wiederholen – an Sir Archibalds Fähigkeit, sich (trotz seines schon damals recht hohen Alters) noch in ganz erheblicher Weise und sehr lautstark aufregen zu können, möchten seine allesamt jüngeren Kollegen in der Institutsleitung nämlich lieber nicht allzuoft erinnert werden.

Sir Archibalds Kollegen aus der Institutsleitung sitzen während der Jahrestags-Feier immer recht nahe am Rednerpult; Wenn im Vortragssaal bereits eine gewisse Unruhe herrscht und Sir Archibald einmal mehr angestrengt zu den hinteren Sitzreihen schaut, werden die besagten Kollegen mit gutem Grund nervös – noch weiteren Anlaß für ihre Besorgnis haben sie allerdings, wenn Sir Archibald mit vor Zorn zitternder Hand nach seinem alten, hölzernen Gehstock greift, der an der rechten Seite des Rednerpults bereitsteht:

Bei einer weiteren Steigerung des Zorns Sir Archibalds kann es dann schnell soweit kommen, daß der alte Ehrenpräsident – laut schimpfend und mit zornesrotem Gesicht – mit seinem schweren Gehstock auf das Rednerpult oder anderes erreichbare Mobiliar eindrischt, um sich in dem großen Saal wieder die allgemeine Aufmerksamkeit zu verschaffen!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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