Christiane Mielck-Retzdorff

Ein sonderbares Kind


 
 
Katrin war verzweifelt. Seit ihr Mann sie vor zwei Jahren verlassen hatte, um in Afrika, fern der Sucht nach Geld, ein neues Leben zu beginnen und sie mit Schulden und einer kleinen Tochter zurückgelassen hatte, mußte sie allein für den Unterhalt ihrer kleinen Familie sorgen. Als Ärztin hatte sie zwar eine gut bezahlte Anstellung im nahen Krankenhaus, aber die Betreuung der fünfjährigen Tochter bei den unregelmäßigen Arbeitszeiten gestaltete sich schwierig.
 
Auch wenn die kleine Alina ein freundliches Wesen hatte und an sich anspruchslos war, wollte sie keinen Kontakt zu anderen Kindern aufbauen. Sie wohnten in einer kleinen Kate, die noch an die Zeiten erinnerte, als dieses Gebiet der Landwirtschaft diente. Nun hatte die Stadt es langsam gefressen und Felder, Wiesen und Höfe waren schmucken Wohnhäusern mit gepflegten Gärten gewichen. Wie ein Andenken an vergangene Zeiten wirkte dazwischen das verwinkelte Reetdachhäuschen mit seinem Garten, in dem alles sproß, was die Natur im Laufe der Jahre angesiedelt hatte.
 
Und nur an diesem Ort fühlte Alina sich glücklich. Stundenlang spielte sie still vergnügt allein in ihrem Zimmer oder saß träumend im Garten. Sie wollte für sich sein, und sobald sich jemand zu ihr gesellte, verschwand jedes Lachen aus ihrem Gesicht. Schon als Alina noch ein Baby war, verstörte es die Erwachsenen, dass sie nur lachte, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Sobald jemand an ihren Kinderwagen trat, wurde ihre Miene ernst.
 
Ebenso beunruhigte es die Menschen, dass das Kind in der Abgeschiedenheit seines Zimmers oder in den hinteren Winkeln des Gartens ständig mit sich selbst sprach, während sie in Gesellschaft meistens schwieg. Manche zweifelten an ihrem Verstand, dem die liebende Mutter mit Nachdruck widersprach. Doch dieser Verdacht belastete ihre Seele.
 
Alina zeigte wenig Begeisterung für das Spielzeug, das die Augen anderer Kinder leuchten ließ. Es lag unbeachtet in ihrem Zimmer, wo nur einige Stofftiere und Puppen, sorgsam auf dem Fußboden aufgereiht, an ihrem Spiel teilnehmen durften. Sie schien in einer Welt zu leben, zu der niemand Zutritt hatte.
 
Der Versuch das Mädchen in einem Kindergarten zum Spiel mit anderen zu bewegen, scheiterte daran, dass sie meist in einer Ecke hockte und nur voller Ernst dem munteren Treiben ihrer Altersgenossen zuschaute. Grausame Kinder neckten und ärgerten sie, was oft dazu führte, dass diesen Quälgeistern ihre Spielsachen oder Kleidungsstücke abhanden kamen. Zwar konnte niemand Alina eine Beteiligung daran nachweisen, doch hielt man sie schnell für untragbar für einen Kindergarten.
 
Nun sah sich Katrin gezwungen, um ihrer Arbeit nachzugehen, Kindermädchen zu beschäftigen. Doch auch diese scheiterten an der Unzugänglichkeit des Mädchens, fühlten sich unwohl mit einem Wesen, dessen Lachen verstummte, sobald jemand ihr Zimmer betrat. Und nun war für die unglückliche Mutter wieder der Zeitpunkt gekommen eine neue Hausangestellte zu suchen.
 
Alina begegnete diesem Ansinnen mit Ablehnung, denn sie hielt es für überflüssig, dass sich jemand um sie kümmerte. Und erstaunlicherweise war sie für ihr Alter ausgesprochen ordentlich und hatte Freude an der Gartenarbeit. Selbst kleine Mahlzeiten bereitete sie sich selbst und zeigte kaum den für Kinder üblichen Hang zu einem Übermaß an Süßigkeiten. Statt dessen liebte sie das Obst, das üppig in dem Garten gedeihte.
 
Natürlich war es für die Mutter unmöglich, ihr Kind den ganzen Tag allein im Haus zu lassen. Also suchte sie erneut nach einem geeigneten Kindermädchen. Es war Wochenende, aber die Zeit drängte, denn Katrin stand eine harte Arbeitswoche bevor. Um so mutloser war sie, als sich nur eine einzige Frau auf ihre Anzeige meldete, die zu dem nicht einmal Referenzen vorweisen konnte. Zum Vorstellen erschien ein spindeldürre Frau mit strähnigen schwarzen Haaren in ein sackähnliches Kleid gewandet. Wäre sie nicht die einzige Interessentin gewesen, hätte die Mutter sie sofort abgelehnt. Doch so wollte sie wenigstens Alinas Meinung hören, die wie immer allein in ihrem Zimmer weilte.
 
Die fremde Frau, die sich nur mit ihrem Vornamen Miranda vorstellte, bat darum allein zu dem Kind zu gehen. Kraftlos und den Tränen nahe, willigte Katrin ein. Miranda klopfte höflich an die Tür, und Alisa bat sie unwillig einzutreten. Miranda sah sich in dem Raum mit den Puppen und Stofftieren, in deren Mitte Alina saß, um und lächelte. Und wie durch ein Wunder erhellte auch das Gesicht des kleinen Mädchens ein Lächeln.
„Du bist wunderschön“, flüsterte Alina, doch Miranda deutete ihr mit dem Zeigefinger auf den Lippen zu schweigen.
 
Hand in Hand schlenderte die beiden zu der Mutter, die ihren Augen kaum traute. Alina strahlte, wie sie es noch nie gesehen hatte. Was immer diese häßliche Frau an sich haben mochte, wenn ihre Tochter mit ihr glücklich war, wollte sie es auch sein. Es fügte sich sogar günstig, dass Miranda in das Gästezimmer einziehen konnte, so dass Alina den ganzen Tag und notfalls auch in der Nacht eine Betreuung hatte.
 
Am Montag morgen erschien Miranda zum Frühstück und ging dann wie selbstverständlich mit Alina in ihr Zimmer, wo sie sogleich die Tür schloß.
„Du kannst sie auch sehen“, sagte Alina mit aufgeregter Stimme.
Lächelnd antwortete das Kindermädchen: „Ja, sicher.“
„Und wieso?“ fragte das Mädchen erstaunt. „Für alle anderen sind sie unsichtbar.“
Miranda setzte sich auf den Fußboden und Alina folgte ihr.
„Weil ich die Tür meines Geistes nicht zugeschlagen habe.“
Das Kind blickte verständnislos.
„Sie sind nicht wirklich unsichtbar, sondern die Erwachsenen können oder wollen sie nicht sehen. Vielleicht kannst Du dich noch erinnern als Du ein Baby warst. Da tanzten die Elfen fröhlich auf deinem Kinderwagen und Du hast gelacht.“
Alina dachte angestrengt nach.
„Ja, und dann kamen die Erwachsenen, beugte sich über mich, fuchtelten mit den Händen und scheuten sie weg.“
„Richtig, denn die Erwachsenen denken, Du lachst sie an. Das macht sie glücklich.“
„Ich wollte aber nicht die dummen Gesichter von Onkeln und Tanten sehen sondern die Elfen und Kobolde.“
„Deswegen hast Du wohl aufgehört zu lachen. Andere Kinder wollen aber den Erwachsenen gefallen und so sperren sie ihren Geist zu und lachen nur, um Aufmerksamkeit zu erheischen.“
„Dann können sie unsere kleinen Freunde nie wieder sehen“, fragte Alina traurig.
„Doch, wenn sie sich Mühe geben, können auch Erwachsene die Tür wieder öffnen, aber viele fürchten sich davor, selbst wenn sie ahnen, dass es möglich ist.“
„Warum?“
„Weil sie Angst vor allem Unerklärlichen haben.“
„Wieso, die Elfen und Kobolde leben doch genauso auf dieser Erde wie wir auch.“
„Das schon, aber Elfen können fliegen und Menschen nicht.“
„Vögel fliegen doch auch.“
„Aber Elfen sind zwar klein, aber uns Menschen im Aussehen ähnlich. Außerdem können sie sprechen und sind sehr klug. Vögel hält man nur für dumme Tiere.“
Alina dachte kurz nach.
„Da Elfen auch mit Tieren und Pflanzen sprechen können, sind sie ja viel schlauer als wir.“
„Richtig, und das mögen die Erwachsenen nicht.“
Das Mädchen kicherte.
„Und deswegen werden sie dann von den Kobolden geärgert.“
„Die kleinen dreisten Kerle machen sich einen Spaß daraus“, bestätigte Miranda.
„Aber mir helfen sie auch beim Aufräumen und Saubermachen“, verkündete Alina stolz.
„Sie mögen Dich eben“, stellte Miranda fröhlich fest.
Das Kind beobachtete versonnen, wie zwei Elfen mit den goldenen Locken von Miranda spielten.
„Wieso sagt meine Mutter, Du seiest nicht besonders hübsch?“
„Weil sie mich nicht so erkennen kann wie Du. Die Kindermädchen haben deine Mama so oft enttäuscht, dass es in ihrem Geist häßliche Kreaturen sind. Und so sieht sie bei meinem Anblick etwas ganz anderes als Du.“
Zaghaft fragte Alina: „Bist Du eine Fee?“
„Ja, so würden mich die Menschen nennen.“
Zwei Kobolde machten sich daran, Alinas Schnürsenkel miteinander zu verknoten, doch diese ließ sich nicht ablenken und wollte unbedingt noch mehr wissen.
„Kannst Du auch zaubern?“
„Natürlich“, antworte Miranda, „und wenn die Kobolde nicht gleich diesen Unsinn aufhören, laß ich sie an den Nordpol verschwinden.“
Die Kobolde flitzten davon und schwangen sich munter auf den Rücken eines großen Stoffelefanten.
 
Nun begann eine fröhliche Zeit in der kleinen Kate. Miranda lehrte ihren Zögling, dass sie auch lachen konnte, ohne ihre kleinen Freunde zu verscheuchen. Die Blindheit der Menschen durfte Alina nicht hindern, sie zu lieben. Es konnte ein frohes Miteinander werden, wenn man sich gegenseitig achtete und Verständnis zeigte. Allerdings riet sie dem Mädchen auch, über ihr Wissen zu schweigen, solange sie nicht sorgsam wußte, damit umzugehen.
 
Irgendwann kam der Tag, als Mirandas Aufgabe vollendet war und sich ihre Wege trennen mußten. In ihrer Trauer begann Alina ihre Erlebnisse mit den Elfen, Kobolden und der Fee aufzuschreiben. Mit der Welt der Märchen öffnete sie wieder die Tür, hinter der das Unsichtbare lebte und schenkte den Menschen ein Lächeln.              

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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