Hans Werner

Christus



Erzählung von

Hans Werner





Jeder, der die Einsamkeit schon gespürt hat, weiß, wie schwer sie drücken kann. In den belebtesten Straßen glaubt der einsame Mensch sich von Gott und der Welt verlassen. Je mehr Menschen um ihn sind, desto öfter wird er an das Glück menschlicher Nähe erinnert.

Er tappt ziellos weiter. Denn, hätte er ein Ziel, so würden sich seine Schritte orientieren und seine Einsamkeit hätte ihre Uferlosigkeit verloren. So aber ist er ziellos, und jeder Schritt wird ihm zur Qual. Es kann dies sogar soweit gehen, dass er am Leben jeden Spaß verliert und fühlt, wie sich ein allgemeiner Weltschmerz ihm um Augen und Schläfen lagert.

So mag es jenem deutschen Studenten zumut gewesen sein, der müden Schrittes durch die Straßen einer südfranzösischen Stadt schlenderte. Er konnte sich nicht freuen an dem bunten Leben des Südens. Lachende Menschen gingen an ihm vorüber, für ihn waren sie fremd und kalt. Hie und da kam ein junger Mann, fast noch ein Knabe, mit einem hübschen Mädchen im Arm, dem er im Gehen einen Kuss auf die Lippen drückte. Der Student sah es und spürte einen würgenden Schmerz im Hals.

Die Sonne meinte es gut mit den Menschen. Sie sandte ihre wärmenden Strahlen in Menge hernieder, und die Alleenbäume hatten allerhand zu tun, um genügend Schatten zu spenden. Sie entfalteten ihre Äste und Zweige so weit wie möglich und breiteten über die ganze Straße ein fast lückenloses Blätterdach. Man wähnte sich in einer grünen Höhle. Doch das romantische Bild wurde gestört durch die zahlreichen Autos, die in wilder Fahrt unbarmherzig schnell vorüber ­sausten.



Der Student flüchtete sich in die wohltuende Kühle einer Kirche. Sie war großräumig und zeigte ein schmutziges Weiß. Stellenweise bröckelte der Gips ab. Die Bänke fühlten sich weich und warm an, das Holz war von dunklem Braun. Michael, so hieß der Student, ließ sich in einem der Bänke nieder und versank in tiefes Nachdenken. Er spürte, wie es allmählich beruhigend über ihn kam. Seine Gedanken rückten ab vom Speziellen und näherten sich immer mehr dem Allgemeinen. Die Zeit, die draußen die Menschen in ihrem engmaschigen Netz gefangen hielt, wurde immer weiter und schien sich der Großräumigkeit der Kirche anzupassen. In allen Kirchen ist der Hauch von Jahrhunderten spürbar, die Zeit hat hier beinahe ihre Vergänglichkeit verloren, der Mensch ahnt etwas von der Ewigkeit, in der es keine Zeit mehr gibt.

In gleicher Weise fühlt der Mensch die Enge aus seinem Herzen weichen. Es muss ganz weit werden im Herzinneren, damit Raum sei für die Gegenwart Gottes. Die menschliche Einsamkeit ist ein fruchtbarer Nährboden für die Gegenwart Gottes. Und Michael war religiös. In einer modernen Welt, die jedem Übersinnlichen abgeschworen hatte, lebte in ihm ein echter Sinn für die geistigen Mächte, die, unsichtbar, die Fäden des Schicksals in Händen hielten und nach ihrem höheren Wissen lenkten. Michael erhob sich, gestärkt von dem reichen Ergebnis, welches seine Meditation ihm gebracht hatte. Er öffnete die Kirchentür und ließ sich vom Tageslicht umfluten. Mutig betrat er das Trottoir, das unter den vielen Tritten beinahe erbebte. Michael fühlte sich wie auf einem Schiff, das von dem Ozean des Lebens getragen wird. Die Menschen glichen Wellen, die auf ihn zuströmten und sich in der Ferne wieder verloren. Alles hatte plötzlich einen tiefen Zusammenhang. Die lichtdurchtränkte Luft verschleierte alles zu einem weichen Aquarell. Michael fürchtete sich, in einen Laden einzutreten, aus Angst, er könne in Wasser zerfließen. Alles war durchsichtig geworden. Er begann zu begreifen, was das ist, Schöpfung und Leben. Er setzte sich in ein Straßencafe, entschlossen, die so seltsam lichtumglänzte Welt in sich aufzunehmen.

Der Kellner brachte Limonade. Michael zahlte, ergriff das Glas, setzte es an die Lippen, prüfte den Geschmack und fand ihn auf eine eigenartige Weise süßlich. Er stellte das Glas wieder hin und besah die nähere Umgebung.

Augenblicklich fiel ihm ein junger Mensch auf, der sich auf den Boden gekauert hatte und mit farbiger Kreide ein Bildnis auf das Trottoir malte.



Michael wusste, es gab viele solcher langhaarigen jungen Menschen, die sich ihre Zeit mit dem Malen von Trottoirbildern vertrieben und damit zugleich von den Passanten ein wenig Geld erbettelten. Eigentlich hielt er nicht viel von ihnen, denn er war der Ansicht, dass junge gesunde Menschen arbeiten und nicht andern zur Last fallen sollten.



Aber er sah trotzdem wieder hin. Eigenartig, das Kreidebildnis begann sich immer klarer abzuzeichnen, es wurde ausgesprochen schön. Ohne jeden Zweifel konnte der Junge malen. Michael konnte nicht umhin, sich für diesen seltsamen Künstler zu interessieren. Er trank sein Glas aus, erhob sich vom Stuhl und trat zögernd an den Maler heran. In der Tat, das Bildnis war außergewöhnlich.

Es stellte einen Mann dar, der lose um die Schultern ein bläulich-weißes Gewand trug. Sein Antlitz strahlte Würde aus und blickte mit seltener Eindringlichkeit auf den Betrachter. Ein Teil der Brust war freigelassen und zeigte, wie auch das Gesicht, eine bronzene Hautfarbe von warmem Braun. Die eine Hand war leicht erhoben, als ob sie zu etwas ermahnen wollte, die andere schmiegte sich zwanglos an das faltenreiche Gewand. Es ist doch eine große Kunst, wenn es einem Maler gelingt, in seinem Bilde ein menschliches Antlitz lebendig werden zu lassen, so dass man sich davon angesprochen fühlt, dass man für einen Moment vergisst, vor einem leblosen Bild zu stehen, und glaubt, dem Blick

eines lebenden Menschen zu begegnen.



Michael sprach den Maler an:

"Sie zeichnen sehr gut."

Er sah auf, lächelte und erwiderte:

"Danke".

"Warum geben Sie sich denn soviel Mühe, da doch das Bild schon nach wenigen Stunden unter den Tritten der Menge verwischt sein wird?"

Er wurde verlegen, blickte Michael mit glücklich strahlenden Augen an und sagte:

"Nur so."

Michael ward in seinem Innern plötzlich sehr weich gestimmt. Er glaubte, in dem Blick des jungen Menschen so etwas wie eine geheime Schwermut, ein fernes Leiden wahrzunehmen. Er fragte weiter:

"Wer ist es, den Sie da zeichnen?"

Der Angesprochene schien diese Frage erwartet zu haben, denn sein bleiches Gesicht überzog sich augenblicklich mit einer leichten Röte, und mit leuchtenden Augen erwiderte er:

"Christus." ---

Geraume Zeit stand Michael wortlos da, getroffen von der Wucht dieses Namens, dann griff er in sein Portemonnaie, holte zwei Franken heraus und gab sie dem Menschen, den er, ohne es recht zu bemerken, sehr lieb gewonnen hatte.



Waren das die Apostel der modernen Zeit, die jungen Menschen mit langen Haaren, mit engen Hosen und weich geschnittenen Gesichtern? Musste Christus den Menschen auf dem Trottoir begegnen und sie herausfordern, ihn mit Füßen zu treten?!



Michael erwog alle diese Gedanken in seinem Herzen und kostete sie aus bis auf den Grund. Er fühlte die Bedeutung der alltäglichen Lebenssituationen. Einem wachen Herzen können sie ihre zeichenhafte Bedeutung offenbaren und ihren religiös-poetischen Sinn einflößen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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