Alexander Vogt

Winterfeuer (Buch 2, Teil 1) Die Rückkehr

                     Tobaskar:    
Klamm in der nassen Kälte schien seine lumpige Kutte Tonnen zu wiegen. Tobaskar fror und schwitze in einem fiebrigen Delirium, dass er alle seine verbliebenen Kräfte dafür brauchte, sich zu konzentrieren und nicht zusammenzubrechen.
Grau wie Pottasche hing der Himmel bedrohlich niedrig über dem trostlosen Nordland, seinen felsigen Einöden und zerklüfteten Hügelketten. Hier und da waren Ansammlungen mit Flechten versehrter Tannen und Blaufichten zu sehen, wie sie sich in den Windschatten von Hügeln und schroffen Felsen duckten. Selbst der ein oder andere verkrüppelte Laubbaum hatte sich hier in die unwirtliche Gegend verirrt, aber von ihrem Herbstlaub hingen nur noch traurige Überreste in ihren mißgestalteten schwarzen Kronen.
Ein hohler Husten, dünn wie seine schlohweißen Haupthaare, ließ Tobaskars Brust und dann seinen ganzen Körper erzittern. Ihm brannte der Hals, als ein erneuter Fieberschub über ihn kam. Auf seiner Stirn mischte sich sein kalter Schweiß mit dem Regen zu einer Schlieren ziehenden Schicht, die auch den Rest seines kranken Körper bedeckte. Viele Jahrzehnte hatte dieser Körper ihm treue Dienste geleistet, doch nach über zwei Jahrhunderten war von dem starken Leib, der so lang so heiß gebrannt hatte, nur noch ein morscher und welker Überrest geblieben, dessen Tobaskar sich bald zu entledigen trachtete. Einst war er ein stattlicher Mann von fast zwei Schritt Länge gewesen, doch sein hochgewachsener Körper war zusammen geschnurrt und krumm geworden, wie ein Haar, dass einer Flamme zu nahe gekommen war. Von seinen großen Händen, die ihm einst wertvolle Werkzeuge waren, war nichts geblieben, als erstarrte Klauen mit arthritischen Buckeln angesammelten Kalks, überspannt mit einer fleckigen Schicht pergamentartiger Haut.
Seine einst stechend scharfen Augen waren trüb geworden, wie ein alter Bergsee, in den über die Jahrzehnte zuviel Gletschermilch gelaufen war. `Tobaskar der Fahle´ hatte ihn einst der Volksmund furchtsam und ehrerbietig genannt, doch fahl war nur sein Gesicht gewesen. Jetzt waren auch seine Haare, Augenbrauen und sein Bart fahl wie der Neumond. Auch seine blutleeren fahlblauen Lippen kräuselten sich über seine zahnlosen Kiefer in den Mund hinein.
Er hatte zu lange gebraucht, viel zu lange. Er hatte sich zuviel zugemutet, all die Forschungen in den uralten Höhlen der Esyllvar alleine zu betreiben. Jetzt war sein Körper so aufgezehrt und kraftlos, dass er sich nicht sicher sein konnte, dass er noch auf Menschen stoßen würde, bevor ihn sein letzter Atem für immer verließ. Was war er doch für ein alter Narr geworden, bis an den Rand des eigenen Todes im Reich der Esyllvar zu weilen um dort ein um das andere Buch ihres uralten Wissens verschlingen! Erst in dem Moment, als ihn das Fieber und der Husten wie ein Unwetter aus heiterem Himmel überkommen hatte, war er von der Furcht ergriffen worden, vielleicht nie wieder das Tageslicht sehen zu können. Seine gewaltige Macht und sein unbezahlbares Wissen über die Esyllvar und ihre Zugänge zu Quellen von noch größerer Macht wären mit seinem alten Körper einfach gestorben und für immer verloren gewesen.
Tobaskar hatte sich also auf den Rückweg in das Reich der Menschen gemacht, hatte all die wundersamen Stätten tief unter den Gefrorenen Bergen mit all ihren tödlichen Fallen und atemberaubenden Kunstwerken hinter sich gelassen, die fast zweihundert Jahre seine Heimat gewesen waren. Die Esyllvar waren dereinst das mächtigste Volk mit der höchsten Kultur in ganz Kimbernia gewesen, doch selbst sie mussten sich gegen die Gewalten der heranrückenden Eiszeit vor tausend von Jahren geschlagen geben. Die perfekte Rasse der Esyllvar – grausam, skrupellos und strikt organisiert - war aus der Geschichte des Kontinents fast verschwunden, als diese Kälteperiode Kimbernia heimgesucht hatte. Ihre heißen Quellen tief unter den Gefrorenen Bergen begannen damals zu versiegen und entzogen ihnen so ihre Lebensgrundlage, in einher gehenden Erdbeben waren ganze Städte der Esyllvar zerstört worden und die Organisation und Kultur zerbrach schließlich.
Ein kaum noch vernehmbarer Husten schüttelte den greisen Adepten Tobaskar und für einen Moment schwanden ihm die Sinne. Er musste durchhalten, er musste das Heim der geistig Verwirrten erreichen, bevor er den Weg allen Fleisches gehen würde.
Vor über zweihundert Jahren hatte er dieses abgelegene Heim der Schwachsinnigen und Behinderten selbst gegründet und in seinem Testament deren Fortbestehen auf Kosten der Monarchie bestimmt. Dieses abgelegene Heim im Hochland Loriéliens musste einfach noch existieren, denn er hatte es in weiser Voraussicht nur zu einem Zweck gegründet! Wenn er es nicht mehr erreichen würde, wäre diese schwachsinnige Wohltätigkeit für die stumpfsinnigen Bewohner dieser Anstalt völlig umsonst gewesen. Allein dieser Gedanke ließ seine Kräfte wieder warm in durch seine Adern strömen: Er hätte Menschen etwas gutes getan und würde womöglich in die Annalen als ein Wohltäter für geistig Minderbemittelte eingehen, wenn er nicht bald diese Anstalt erreichen würde!
Er war kein Wohltäter, noch ein Menschenfreund. Er war überhaupt Niemandes Freund. Es existierten keine Freunde, es gab nur Höhergestellte, Gleichberechtigte, Untergebene und Bündnisgenossen. Liebe und Loyalität existierten nicht, es existierten nur Macht und Abhängigkeit, dachte Tobaskar und etwas, das auf einem anderen Gesicht, als dem seinen vielleicht als ein Lächeln hätte erscheinen können, machte sich auf seinen zerstörten Gesichtszügen breit.
Er war Tobaskar von Halskenmoor, der mächtigste der Adepten und größter Sohn der untergegangenen esyllvanischen Zivilisation!
Nichts hasste er glühender, als die schwächlichen Menschen, die wie Würmer in einer Schale Dreck ihr Leben fristeten. Von der Angst zu Boden gedrückt, sklavisch an den Morast ihrer niederen Instinkte und kleinen Geister gekettet und unfähig, sich über sich selbst und den Rand der Schale ihrer Vorstellungskraft zu erheben! Es gab mehr in dieser Welt, als die Menschen mit ihrer begrenzten Sichtweise tagtäglich sahen, Tobaskar hatte es mit eigen Augen gesehen! Jetzt war die Zeit gekommen sein Erbe als Nachfolger der esyllvanischen Herrscher über diesen Kontinent anzutreten.
Über zweihundert Jahre hatten die übrigen Adepten, die er mit genausten Instruktionen verlassen hatte, Zeit gehabt, sich die Macht über den Kontinent zu sichern. Doch wie mächtig und einflußreich seine Brüder in der Macht und der Abstammung auch inzwischen geworden waren, nichts kam der Waffe gleich, die er aus den Höhlen der Esyllvar mitbrachte!
Das uralte Blut der Esyllvar hatte Tobaskar und den anderen Adepten nicht nur ihre unmenschlichen Kräfte verliehen, es sollte ihnen nun auch für die erneute Allianz mit einem alten Bundesgenossen der Esyllvar dienen! Wenn Tobaskar IHN gefunden und für ihre Sache gewonnen haben würde, würde es kein Heer der Menschen mehr geben, dass der uneingeschränkten Macht der Adepten und IHM über Kimbernia noch entgegen stehen würde!
In diesem Moment trat hinter einer zur Faust geballten Wolkenbank für einen Augenblick die Sonne hervor und beleuchtete eine bis dahin im kalten Dunst verborgene Fläche des Hochlandes. Tobaskar gingen die Augen über und sein schwaches Herz schlug kräftiger, als er die grauen Mauern der Anstalt, beleuchtet von hellen Sonnenstrahlen, dort mitten im Frühnebel liegen sah. Er war gerettet!
Noch eben war er bewegungslos gute zwei Fuß über den Dauerfrostboden des Nordlandes hinweg geschwebt, aber jetzt mussten ihm seine uralten Gliedmaßen noch ein paar hundert Schritt tragen, ein allerletztes Mal! Vor hundert Jahren hätte er noch aus vollem Hals gelacht, jetzt war es nur ein rasselndes Keuchen, das sich aus seiner vertrockneten und vom alter zerfressenen Kehle quälte.
`Ein guter Tag zum Sterben, alter Körper´, dachte er beschwingt und humpelte schwitzend und zitternd vor Fieber direkt auf das große Holztor zum Hof der Anstalt zu. Langsam, aber stetig, wie die nahende Flut, die alles unter sich begräbt und ertränkt, dass nicht schlau genug war, rechtzeitig zu fliehen.

                    Dadoran:
Dadoran schob den schweren Metallriegel zurück und öffnete den Verschlag zum Ralebs Zelle.
Vorsichtig schob er die Holzschale mit der lauwarmen Kohlbrühe über den Fußboden hinein zu dem Irren.
„Essen, Raleb, gutes Essen,“ rief Dadoran, immer noch gebückt, durch die kleine Öffnung in die kalte Zelle hinein. `Man muss wohl schon irre sein, um so etwas, wie diesen Fraß essen zu können,´ dachte er bei sich und schlurfte missmutig aus dem Gang wieder in die Halle zum Innenhof. Bevor er die massive Holztür zu den Irrenquartieren zuzog, hörte er noch ein Grunzen von Raleb, der sich, den kehligen Quieklauten beim Essen nach zu urteilen, tatsächlich über die Mahlzeit zu freuen schien. Dadoran schloß kopfschüttelnd das Tor und verriegelte es von außen.
Der verkrüppelte und unter schrecklichen Tobsuchtsanfällen leidende Raleb hatte außer zwei warmen Mahlzeiten am Tag nichts mehr im Leben, dass ihm Freude bereitete. Nicht einmal in den Innenhof zu den friedfertigen Einwohnern der Anstalt konnte man ihn lassen, weil er eine zu große Gefahr für sich und die anderen darstellte. Einem unglücklichen Pfleger hatte Raleb sogar die Hand abgebissen, hatte Dadoran sich erzählen lassen. Doch das war vor seiner Zeit hier in der nördlichsten Irrenanstalt in Loriélien gewesen.
Dadoran dachte wehmütig an seine Zeit als Medikus im Königlichen Spital zu Darendale zurück, aber er hatte ja immer die Welt sehen wollen! Jetzt saß er hier mit den ärmsten der Armen fest, die teilweise eher das Leben eines Gemüses führten, als das eines Säugetiers.
Im kleinen Innenhof der Anstalt schien die Herbstsonne ohne zu wärmen. Bis eben war noch ein kalter Landregen über der Hochebene niedergegangen, aber inzwischen war der Himmel aufgerissen und Pfleger sowie ihre kräftigeren Schützlinge hatten Tische und Schemel für ein gemeinsames Morgenmahl ins Freie getragen. Die anderen neun Pfleger in ihren schäbigen grauen Kutten waren nun dort um die Tische versammelt, ebenso, wie der Großteil der übrigen Bewohner ihrer Anstalt.
„Dada!“ lachte eine tiefe Stimme laut und ganz offensichtlich quietschvergnügt. Dadoran spannte sofort die Schultern an und lächelte einen Moment etwas gequält, als er von vorn gepackt und wie ein Spielzeug an die Brust des freundlichen Hünen gepresst wurde.
Als Jobar ihn wieder abgesetzt hatte, musste Dadoran den freundlichen Riesen doch angrinsen, als er Jobars Freude über sein Auftauchen aus seinem ganzen großen Herzen in seinem stoppelbärtigen Gesicht sah!
„Du...kommst auch zu Essen?“ fragte ihn Jobar aus den luftigen Höhen, wo sein leerer Kopf thronte und nickte dabei so heftig, als wollte er Dadoran damit gleich die Antwort in den Mund legen, die er dem tumben Riesen zu geben hatte.
„Ja,“ sagte Dadoran laut und nickte ebenfalls, ohne den gewaltigen Mann aus den Augen zu lassen.
„Oh, gut! Oh, gutgut!“ brachte Jobar in Worten gepresster Freude hervor und klatschte in seine haarigen Hände. Solche tierische Freude über sein Erscheinen hatte bisher nur abends sein alter Hund gezeigt, wenn Dadoran einen ganzen Tag außer Haus gewesen war. Es war schön, dass dieser imbezile Riese ihn so treuherzig liebte, wie sonst nur Kleinkinder und Haustiere einen lieben können!
„Komm, setzten!“ Gebot Jobar und deutete eifrig auf die runden Tische in Mitten des Hofes.
„Jaja, schon gut,“ lachte Dadoran jetzt setzte sich in Richtung von Jobars Finger in Bewegung.
Dann hielt er einen Moment inne, als ihm etwas einfiel: „Jobar, ich habe einen Auftrag für dich!“
Der Riese blieb ebenfalls stehen, sah ihn zuerst mit seinen hellen blauen Augen an und schien dann unmittelbar ins tiefe Grübeln zu fallen.
„Ein Auftrag, Jobar!“ wiederholte Dadoran laut und deutlich.
„Jaaa!“ lachte Jobar fröhlich, als er sich plötzlich einer Sache klar geworden zu sein schien, seine grübelnden Falten wichen auf seinem jungen Gesicht einem breiten Grinsen. „Ja, ich gehe Ziegen melken, Dada! Gehe jetzt!“
„Nein!“ sagte Dadoran laut, „diesmal nicht Ziegen melken, hörst du! Keine Ziegen melken! Du holst Estra! Estra soll auch im Hof essen! Kannst du Estra holen?“
„Estra holen,“ wiederholte Jobar sinnend. Nach einer Weile nickte er! „Kann das, Dada!“
„Dann los!“ lachte Dadoran wieder fröhlich und bedeutete dem blonden Riesen das Tor, das der Pfleger eben erst verriegelt hatte, wieder zu öffnen.
„Ja! Ich hole Estra...zu Essen!“ freute sich Jobar und ging mit ausgreifenden Schritten auf das Tor zu den Zellen der eingesperrten Irren zu.
Dadoran schaute ihm nach. Was für ein Jammer, dass dieser gewaltige Mann das Hirn eines Spatzen hatte! Vielleicht dreißig Jahre war Jobar alt, genau wusste das niemand. Seit er als Kind vor vielen Jahren hier in Tobaskars Heim für geistig verwirrte gebracht worden war, hatte er sich jedenfalls für die Pfleger als unbezahlbar herausgestellt. Er zog mühelos ganze Karren mit Brennholz allein, für die sonst mittelgroße Pferde nötig gewesen wären. Er spaltete klafterweise Holz, ohne zu murren, er grub wöchentlich wie ein Berserker neue Gruben in den Dauerfrostboden für das Plumpsklo, er hütete die Ziegen, die er wie Geschwister zu lieben schien, und war überhaupt unentbehrlich geworden! `So ein großes Herz und so ein kleiner Geist´, dachte Dadoran seufzend, als er den bärtigen Schwachkopf aus dem Gang treten sah. Auf den Armen trug er eine verschrumpelte Frau, nicht größer als ein Kind, die in unartikulierten Lauten etwas von sich gab. Normalerweise wurde sie erst nach dem Essen gefüttert, weil es eine mühselige Aufgabe war, ihr Nahrung beizubringen. Estra spuckte und verschluckte sich mehr, als dass sie aß, aber heute war ein so schöner Tag, dass sie auch im Hof mit den anderen essen sollte.
„Hierhin, lege sie hier ab!“ dirigierte Dadoran und breitete eine Decke über dem kalten Boden aus, auf der der bärtige Hüne die sabbernde und bewusstlos erzählende Estra so sanft ablegte, als wäre sie das kostbarste, was Jobar besaß!
„Das hast du sehr gut gemacht, Jobar!“ lobte Dadoran den schwerhörigen Riesen und streichelte ihn anerkennend über sein dichtes blondes Haupthaar.
Jobar gluckste vor Freude. Für ein Lob tat der Imbezile alles und er guckte den Pfleger erwartungsvoll an. „Joba hilf Dada gut?“
„Ja, du bist ein großer Helfer!“ sagte Dadoran laut.
„Joba und Dada Freunde?“ freute sich der Riese.
Dadoran legte den Arm so weit er reichte um die Schultern seines, auf den Knien vor der plappernden Estra herum rutschenden, Schutzbefohlenen. „Ja, wir sind Freunde!“
„Joba glücklich!“ gluckste der junge Mann wieder und erhob sich zu seiner vollen Größe und strahlte wieder, als könne ihn kein Gedanke und keine Sorge auf dieser Welt sein Glück nehmen.
Auf irgendeine weise, überlegte Dadoran, war dieses schwachsinnige Riesenbaby ein Vorbild für sie alle. Wie schwer von Sorgen und Ängsten standen er und seine leidgeprüften anderen Pfleger oft morgens von ihren schmalen und harten Strohmatratzen auf, um sich in ihre kratzigen Roben zu zwingen. Ein weiterer Tag voll Arbeit für die Ärmsten der Armen in Loriélien, ein weiterer Tag voll Geschrei, Sabber, Kot, Tränen und Lachen. Doch wenn sie Jobar weckten, war er gleich frisch und froh, wie ein Frühlingstag, stand auf, wusch und bekleidete sich und fragte gleich darauf mit Eifer, wie er seinen Pflegern helfen konnte. Irgendwo bewunderte Dadoran seinen Schützling, der das eine zu besitzen schien, wonach viele ihr Leben lang vergeblich suchen: Zufriedenheit! Der imbezile Hüne liebte die Pfleger, die anderen Kranken, die Ziegen und sogar die Hühner. Er weinte sogar ein jedes Mal, wenn Dadoran oder ein anderer Pfleger heimlich ein paar Hühner für eine Mahlzeit zubereitet hatten, ließ sich aber damit vertrösten, dass die Hühner wohl fortgelaufen waren.
Dadoran setzte sich zu den anderen an die runden Tische mit den stumpfgeschnitzten Kanten auf seinen runden Hocker. Als er die schwach im Morgenlicht dampfende Suppe so vor sich stehen sah, verspürte er nicht das geringste Bedürfnis, sich etwas dieser kaum gewürzten Gemüsekohlsuppe einzuverleiben. Er legte den massiven Holzlöffel wieder auf den Tisch und schüttete sich nur seinen Holzbecher mit Ziegenmilch randvoll.
„Ich gehe mir vor dem Tor ein wenig die Beine vertreten,“ rief er in die Runde.
„In Ordnung,“ rief Pelnass, der oberste Pfleger. Auch andere Rufe, teilweise unartikuliert, zeugten von der Kenntnisnahme der beisammen Sitzenden von seiner Verabschiedung.
Mit seiner Schulter stemmte Dadoran das Flügeltor auf die Hochebene aus. Er blickte gegen Osten, wo die niedrige Sonne wohl gerade die ganze Ebene von Messaton flutete. Vor nicht ganz einem Jahr hatte dort vielleicht die größte Schlacht ganz Kimbernias getobt, als die Adepten zuvor versucht hatten, die Macht an sich zu reißen.
Dadoran kratzte sich die langsam ergrauende Schläfe, Tausende schwer bewaffnete Rittern aus allen drei Orden hatten dort gegeneinander gekämpft und viele hatten ihr Leben gelassen. Schließlich hatten die Ritterheere, die für die Adepten gekämpft hatten, die Waffen strecken müssen. Die Ereignisse bis zu diesem Zeitpunkt waren sehr chaotisch gewesen und die wenigen Zeitungen, die Dadoran hier oben in Tobaskars Heim für geistig verwirrte zu lesen bekommen hatte, waren voll widersprüchlicher Informationen über die Vorgeschichte. Allein die große Schlacht auf der Ebene von Messaton war von den Historikern bislang detailliert heraus gearbeitet worden. Die Ereignisse nach dem Krieg, als die geschlagenen Adepten mit ihren schwarzen Pferden im gestreckten Galopp angeritten gekommen waren, war längst in den Schatz der Sagen und Legenden und in wohl unzählige Kindergeschichten des Landes, ja des ganzen Kontinentes, eingegangen.
Hier oben auf dem Plateau, nur zwanzig Landschritt von Messaton entfernt, hatten sie fast nichts von dem ganzen Krieg mitbekommen. Auch von den Barbarenstämmen, die viel in Loriélien verwüstet hatten, waren sie nicht behelligt worden.
Dadoran nahm einen Schluck der sauren Ziegenmilch und verzog das Gesicht. Was würde er geben für eine ordentliche Kuhmilch, aber die konnten sie in dieser kargen Gegend nicht halten. Überhaupt fand er es absonderlich, je oft er darüber nachdachte, was den Stifter dieser Einrichtung - Tobaskar den Adepten - dazu bewogen haben mochte, ausgerechnet in dieser Einöde eine Irrenanstalt zu erbauen! Reichte es denn nicht, dass man die kranken und kleinen Geister in Heime an Randbezirken der Städte abschob?
Dadoran gähnte herzhaft und streckte sich, als er aus dem Augenwinkel einen kleinen wandernden Buckel mitten auf dem felsigen Hochebene entdeckte. Er drehte sich der entfernten Gestalt zu.
Ein Mensch, ein scheinbar alterskrummer Mann mit einem weißen Bart, nicht viel größer als ein zehnjähriges Kind, bewegte sich dort mühsam zwischen den Büscheln trockenen Grases auf ihn zu.
Dadoran kniff die Augen zusammen. In den vier Jahren, die er jetzt schon hier lebte, hatte es außer den Lebensmittellieferanten am Monatsersten noch niemanden in diese unwirtliche Gegend verschlagen.
Erst recht keinen alten Greis, der sich kaum selbst auf den Beinen halten konnte.
Der Pfleger überlegte einige Augenblicke, was er tun sollte, dann lief er auf das Flügeltor zu und rief nach zwei Pflegern und einer Trage. So, wie dieser Greis sich bewegte, hatte er nicht mehr lange zu leben und er sollte seine letzte Stunden nicht alleine verbringen müssen! Vielleicht war es ein Paranoiker, den seine belastete Familie einfach ausgesetzt hatte, um ihn los zu werden. Das wäre schließlich nicht das erste mal, dachte er sich.
„Seht dort den Greis!“ der herbei geeilte Pelnass blickte in die angedeutete Richtung und blickte Dadoran darauf stirnrunzelnd an.
„Fürwahr, das ist ein ungewohnter Anblick!“ murmelte der oberste Pfleger. „Wir werden ihn Tessjas Kammer geben, bis er für immer entschlummert, was meint ihr?“
Dadoran nickte: „kommt, wir bringen ihn rein!“
Mit der Trage in den Händen näherten sie sich dem lumpigen Bündel, dass auf eine behelfsmäßige Krücke gestützt, in winzigen Schritten auf sie zukam.
Als Dadoran nahe genug war, den Greis richtig zu erkennen, riss er die Augen ungläubig auf und erschrak furchtbar!
Dieses Etwas, dieses Ding war grotesk! So etwas erbärmliches und erschreckendes zu gleich hatte er seinen Lebtag noch nicht gesehen! Er hatte mit seinen Händen Geschwüre und Knoten behandelt, seine Hände in lebenden Menschen gehabt, in ihren Gedärmen nach dem kranken Blinddarm gewühlt, doch so ein abscheuliches Bild des Jammers hatte er noch nicht gesehen! Er konnte den Greis nicht ansehen, noch seinen Blick abwenden! Wie eine geplatzte Eiterbeule hatte diese Gestalt eine abstoßende Anziehungskraft, deren Wirkung man seinen Blick nicht entziehen konnte!
„Was...ist das?“ hörte er Pelnass stammeln, als auch er die Gestalt genauer in Augenschein nahm.
„Komm, wir helfen ihm auf die Trage,“ meinte Dadoran nach einer Pause. Es geht zu Ende mit ihm, siehst du, wie er schwitzt?“ Er sah noch, wie sein Vorgesetzter einen tiefen Atemzug nahm und aus einer Hand zur eigenen Ermutigung eine Faust werden ließ, ehe er weitere Schritte auf den Greis zutrat.
Auch Dadoran hatte einen Moment überlegt, ob sie nicht vielleicht in die Falsche Richtung gingen und sich nicht hätten lieber hinter ihren Anstaltsmauern hätten einschließen sollen, so furchterregend wirkte dieses arme Geschöpf. Wie eine Nachtgestalt, mit denen man Kindern Angst macht, wie eine Figur aus einem schlimmen Alpdruck sah er aus!
Die Haut weiß und fleckig wie von Schimmel und dabei so brüchig und dünn, wie altes Pergament. Die Augen waren fast die eines Albinos, weiß, bis auf die schwarze Pupille. Welche Farbe sie vor Jahren mal gehabt haben mochten, konnte man nur erahnen. Die Hände waren groß und verkrüppelt, wirkten starr wie die Pranken eines toten Tieres. Ein entstellender Buckel trat unter den Lumpen seiner Kutte hervor, aber dieser Buckel war wahrlich noch das menschlichste an dieser Gestalt.
Es kostete ihn große Überwindung, diesen Alptraum nur zu berühren, als sie die Trage schließlich vor ihm auf den Boden gelegt hatten!
„Bleib´ stehen, Großvater, wir tragen dich das letzte Stück,“ sagte Pelnass mit dünner Stimme.
Wie angewurzelt verharrte der Greis und blickte mit seinen abstoßenden Augen über seiner kruden Nase und den eingefallenen Wangen nur stumpf zu Boden. Mit aller Überwindung hoben sie das Lumpenbündel auf die Trage, die jeden Moment seine Bahre werden konnten, so wie die Gestalt röchelte! Der Greis wog wenig mehr als Nichts und sie schafften ihn in großen Schritten zurück zur Anstalt.
„Legen wir ihn auf Tessjas Lager, bis es vorüber ist,“ murmelte Pelnass Dadoran zu, bevor er laut zu dem Lumpengreis sprach: „Wir bringen dich in Tobaskars Heim, dort wirst du ausruhen können, Alterchen!“
Ein schwaches Husten, wie aus einem fernen Traum war die einzige Antwort, die sie bekamen.
Als sie die Flügeltore passiert hatten, kamen gleich die anderen Pfleger auf sie zugeeilt, Dadoran rief ihnen kopfschüttelnd entgegen, dass ihre Hilfe nicht gebraucht wurde. Das Mahl sollte weitergehen, diesen Anblick wollten sie den anderen ersparen.
Treuherzig folgte nur Jobar ihnen in das Hauptgebäude der Anstalt, der in kindlicher Neugier und ehrlicher Hilfsbereitschaft schauen wollte, wem er dort helfen konnte!
„Bleibe draußen, Jobar, gehe zum Essen!“ rief Dadoran über seine Schulter zurück, der hinten die Trage gepackt hielt.
„Das kranker Mann, Dada?“ fragte der Riese, ohne Dadorans Anweisung Folge zu leisten.
„Ja, kranker Mann. Geh´ wieder zu den anderen!“ rief er noch lauter zurück.
„Was hat Mann?“ fragte Jobars Stimme, in der Besorgnis mitzuklingen schien.
„Der Mann geht bald schlafen und wacht nicht mehr auf. Wie Tessja!“ fügte Dadoran noch hinzu.
Jobar folgte ihnen immer noch und ein Blick zeigte Dadoran, dass sein imbeziler Freund schwer in Gedanken war.
„Dann Joba bleibt bei ihm! Wie bleiben bei Tessja, bis eingeschlafen!“
Dadoran seufzte leise. Am Sterbebett Tessjas hatte der blonde Riese auch stundenlang gesessen, bis die alte Frau ihrem Alter erlegen war. Vielleicht war es nicht richtig, Jobar zurück zu schicken. Wenn er selbst dieser alte Greis wäre, wen hätte er lieber an seinem Lager sitzen, als einen Jobar, der keinen Gedanken daran verschwendete, was sich gerade ereignete, der einfach nur liebevoll helfen wollte?
„Dann komm mit,“ sagte Dadoran lautstark, als Pelnass die Türe zu Tessjas altem Zimmer aufstieß.
Die beiden Pfleger schluckten noch einmal, bevor sie den, leicht nach Verwesung riechenden, Haufen Knochen und Lumpen ein letztes Mal anpackten und auf die Strohmatratze in dem abgedunkelten Zimmer hoben.
„Sieht aus, wie Gespenst,“ sagte Jobar jetzt, als er sich über das Bett beugte und auf das schwach röchelnde, feuchte Bündel herab sah. „Armes Gespenst, das!“ seufzte der Hüne in seiner gewohnten Lautstärke, weil er sich selbst auch kaum hören konnte.
Pelnass hatte sich schon auf den Weg nach draußen gemacht und auch Dadoran stand schon in der Tür, als er plötzlich eine hohle und doch klare, leise Stimme vernahm. Der Greis sprach!
„Habt Dank, gute Herren! Habt Dank!“
Er blickte sich zu dem Lager um, konnte aber den Anblick dieses sprechenden weißschimmligen Leichnams nicht ertragen, er sah verschämt zu Boden.
„Mann redet!“ sagte Jobar laut und freute sich, als er Dadorans Blick vergeblich suchte.
„Das ist sehr gütig, dass ihr diesen großen Mann in meinen letzten Stunden zu meiner Begleitung abstellt, Herr!“ sagte die schwache unheimliche Stimme.
Wie konnte dieser Überrest von einem Menschen, der aus unerfindlichen Gründen überhaupt noch am Leben war, vielleicht schon Jahre hätte to sein müssen, noch eine solch klare Stimme hatte?
„Jobar wird bei euch bleiben,“ murmelte der Pfleger nur halblaut, wieder ohne den Greis ansehen zu können.
„Sehr gütig!“ flüsterte die Stimme. „Ist der liebe Hüne wenigstens gesund und hat im Gegensatz zu mir noch ein langes Leben vor sich?“
„Ja, Jobar gesund und stark wie ein Bär,“ gab Dadoran zurück, dem mit jedem gefallenen Wort die Unterhaltung unangenehmer wurde. Das hatte er gar nicht sagen wollen, spürte er mit einem Mal, warum hatte er das zu diesem Todgeweihten gesagt und noch viel verwunderlicher, warum hätte er es instinktiv am liebsten verschwiegen?
„Gesund, sagt ihr?“ flüsterte die Stimme aus dem zahnlosen Mund! Das war es! Die Unmöglichkeit! Die Laute waren klar ausgesprochen worden, was unmöglich sein müsste ohne Zähne!
„Ich werde jetzt gehen, mein Herr!“ entschuldigte sich Dadoran, dem ein kalter Schauer über den Rücken lief und der die leeren weißen Augen mit den tiefschwarzen Pupillen auf sich liegen spürte.
Ein letztes Mal musste er das Lumpenbündel ansehen, bevor er durch die Tür trat. Die Leiche lächelte!
Die Alptraumfratze lächelte ihn an!
Dadoran verließ den Raum und spürte sein Herz klopfen, diesen Anblick würde er nicht vergessen können, dass fühlte er tief bis ins Mark hinein!
Mit eiligen Schritten verließ er das Hauptgebäude und trat in den Sonnenschein. Er holte tief Luft, als ihm gewahr wurde, das er bis gerade die Luft angehalten hatte. Er rieb seine eigenen Oberarme, denn ihn fröstelte noch immer von diesem Gesicht in dem dunklen Zimmer. Was für ein Alptraum!
„Alles in Ordnung, Dadoran?“ fragte Pelnass, der sich von der Tafel wieder erhoben hatte und auf ihn zu kam. „Du bist ja ganz blass!“
„Dieser Alptraum hat gesprochen!“
„Was?“
„Er sprach mit mir klar und deutlich, mir ist Angst und Bange bei ihm geworden!“
Pelnass schüttelte ungläubig den Kopf: „Dieses Bündel kann nicht gesprochen haben! Du musst einem Irrtum aufgesessen sein!“
„Und doch hat er gesprochen, leise aber deutlich! Ich weiß nicht, ob es klug ist, Jobar bei ihm zu lassen!“
Der oberste Pfleger schüttelte nur den Kopf: „Sicher, so wie dieser Greis aussah, müsste er schon lange tot sein, aber jetzt sieh und höre keine Gespenster, lass Jobar bei ihm, bis es mit ihm vorüber ist!“
Die beiden Männer fuhren zusammen, als ein herzzerreißender Schrei aus dem inneren des Haupthauses erklang. Das war zweifelsohne Jobars Stimme, die schrie, als würde er von wilden Tieren zerrissen!
Ohne auch nur einen Lidschlag nachzudenken stürmten die beiden Pfleger zurück in das Gebäude um Jobar zur Hilfe zu eilen.
Wieder ein gellender Schrei, als sie die Tür zu Tessjas Zimmer fast erreicht hatten. „Bitte, lass!“ wimmerte die von Todesangst zerfressene Stimme Jobars.
Als Dadoran die Tür zum Zimmer aufriss, erstarrte er, bei dem, was er erblicken musste. Sein Hals war wie zugeschnürt.
Vor ihm kniete sein schwachsinniger Schützling auf dem Steinboden und verdrehte die Augen, wie bei einem Anfall, Schaum stand ihm vor dem Mund und er zitterte am ganzen Körper, unfähig, sich zu rühren.
Der Greis stand aufgerichtet hinter ihm, drückte dem Riesen beide kalkweißen Leichnamshände an die Schläfen und hatte sein abscheuliches Gesicht zu einer noch groteskeren Fratze verzerrt, als bei seinem ersten Lächeln. Seine weißen Augen waren zu zwei rotglühenden Feuern angewachsen, die Dadorans Blicke zu verzehren schienen.
Dadoran war, wie auch Pelnass und Jobar, plötzlich gelähmt.
„Lass los!“ keuchte der schreckensbleiche Jobar und blickte Dadoran mit flehendsten Blick an.
„Dada, Freund, hilf! Dada!“ er streckte ihm seine langen Arme kraftlos entgegen, aber Dadoran konnte sich nicht rühren.
„Keine Angst,“ zischelte die Grabesstimme jetzt wieder leise aber vernehmlich. „Es ist gleich vorbei, mein neuer Wirt! Dein Körper wird eine prachtvolle Hülle für meinen Geist und mein Blut!“
In diesem Augenblick verlöschte plötzlich das scharlachrote Feuer in der schimmelweißen Fratze und der knochige Körper sackte in sich zusammen, wie ein Haufen trockene Erde unter einem Hieb zerfällt. Jobars Kopf knickte nach vorn und blieb dort vor seiner Brust hängen, als hätte er keinen Nackenmuskel. Die Starre in Dadorans Gliedern löste sich und er konnte auch wieder frei Atmen, kein Druck presste ihm mehr den Brustkorb zusammen.
„Was...?“ hörte er Pelnass betäubt fragen.
Dadoran suchte jetzt den Blick von Jobar. Er starrte auf seinen Schützling nieder, der leblos vor ihnen hockte.
Plötzlich war der Riese den Kopf in seinen Nacken und Dadoran blieb fast das Herz stehen! Eine unmenschlich kalte, fahle Grimasse mit leuchtend blauen Augen sah ihn aus dem Gesicht des so vertrauten Jobars an!
Dieser Riese war nicht mehr Jobar, es war der unheimliche Leichnam, der zusammengesackt und leblos hinter diesem lag!
Das fahle, gelbe Gesicht sah ihn erst ausdruckslos an, bis sich die Mundwinkel leicht nach oben bogen, als wenn die Gestalt gerade über eine kleine geschmacklose Pointe eines Witzes schmunzelte.
Wieder unbeweglich sah Dadoran auch der weiteren Metamorphose zu, die der Körper seines minderbemittelten Freundes durchlief: der blonde Bart wurde tiefgrau und weiße Schläfen bildeten sich an seinem dichten Schopf aus. Die vollen Wangen fielen ein und gaben ihm ein krankes aussehen. Auch die riesigen fleischigen Hände des Hünen wurden fahl und die Knöchel traten weiß hervor.
Die Gestalt tat einen tiefen Atemzug, als wolle sie alles Leben, alle Gefühle von Kraft und Jugend in sich aufsaugen, die ihr für Jahrzehnte verwehrt gewesen waren.
Die unnatürlich blauen Augen blickten Pelnass und ihn an, es wahr ein leerer Blick, ein Blick, mit dem man einen uninteressanten Gegenstand flüchtig musterte, einen Fels in der Ebene vielleicht.
Dadoran hörte Pelnass plötzlich die Luft einziehen und sah ihn mit flatternden Augenlidern und verdrehten Augäpfeln zusammenbrechen.
„Jobar, Freund!“ rief Dadoran seinem Schutzbefohlenen panisch und betäubt zugleich an.
Den Blick, den er darauf gespendet bekam, war das letzte, was seine Augen erblickten. Ein entmenschlichtes Lächeln sagte freundlich und doch gefühllos mit lauter, fester Stimme: „Danke, werter Herr, für eure Obhut und Fürsorge, zum Dank schenke ich euch einen raschen Tod.“
Dadoran fühlte plötzlich die eiskalte Hand des Hünen an seine Stirn greifenden, Daumen und Mittelfinger auf seinen beiden Schläfen. Dann drückten sie zu.

                    Fornworth:
Lord Fornworth hielt seine Arme hinter dem Rücken verschränkt und schaute gelangweilt aus dem frisch polierten Bogenfenster. Seit fast zwei Wochen regnete es nun schon und nach einem langen und schönen Herbst schien jetzt endgültig der Winter Einzug in Avarien zu halten.
Der Lord kratze sich nun nachdenklich an einer Augenbraue und sann gedankenverloren vor sich hin. Er dachte an nichts Bestimmtes und so kehrten, so oft er auch versuchte diesen Gedanken wieder fallen zu lassen, immer die Erinnerungen an seinen ermordeten Freund Lord Erchanger zurück.
„Ich möchte es mir ja kaum eingestehen, du alter Hund,“ murmelte der Erste Ritter der Schwarzen Greifen und seufzte, „aber deine unangemeldeten Besuche hier auf Greifenfels fehlen mir!“
Lord Fornworth wandte sich von dem deckenhohen Bogenfenster nach Osten ab, ging mit gewohnt militärischem Schritt auf seinen Eichenholzwandschrank zu, öffnete den linken Flügel und entnahm dem mittleren Fach eine große, beinahe luftdicht verschlossene, Kiste aus dünnem Pappelholz.
Dann klaubte er seine Lieblingspfeife und einen Pfeifenstopfer von dem breiten Pfeifenhalter auf seinem massiven Schreibtisch und trat an den offenen Kamin.
Während er den duftenden Tabak aus Süd Kantila, ein wahrhaft unverschämt teures Kraut, in die Pfeife stopfte, hörte er von draußen ein fröhliches Hundebellen. Der sehnige Ritter lächelte und als er sich den Tabak mit einem glühenden Holzspan ansteckte, entschied er kurzerhand seine Pfeife nicht in seinen Räumen zu rauchen, sondern mit einem Spaziergang durch das Arboretum zu verbinden.
Er legte sich den gewachsten Regenmantel der Schwarzen Greifen um die Schultern und eilte die Wendeltreppe zum ersten Ring der Greifenburg hinab.
An diesem Tag wirkte die schwarze Basaltstein Burg wie ausgestorben, das schlechte Wetter schien die Stimmung seiner Männer zu drücken und er fand nicht ein Lächeln in den Gesichtern der Ritter, die ihn auf dem Weg in den großen Hof mit Kopfnicken grüßten.
Als Lord Fornworth im Freien angelangte, schlug ihm das laute Bellen der vielen umher tollenden Welpen angenehm lebendig entgegen. Er schmunzelte breit, als er die Meute der schwarzen Wolfshunde im westlichen Arboretum herum toben sah.
„Guten Morgen Phelbs!“ lachte er dem schlacksigen Küchenjungen zu, um den sich die jungen Hunde scharrten.
Wie konnte man als Küchenjunge nur so mager sein, fragte sich der Lord und freute sich sichtlich an dem ausgelassenen Spiel der Welpen, die alle versuchten, möglichst viele der Fleischreste zu schnappen, die der spindeldürre Phelbs in die Luft warf.
„Guten Morgen, mein Lord!“ rief der Junge laut, um das Hundegebell zu übertönen, und machte einen umständlichen Diener, dass der weißhaarige Lord wieder hätte loslachen können. Nicht nur, das sich das dürre Elend nicht merken wollte, dass man vor ihm keinen Diener machte wie ein Geck. Phelbs sah in seiner weiten Küchentracht zudem noch wie eine Vogelscheuche aus. Und wenn er sich schnell bewegte, schlackerten die Kleider um seine mageren Arme und Beine, wie an einer Wäscheleine im Wind.
Seine Verbeugung nutzte eines der Hündchen, um an Phelbs hochzuspringen und dem Jungen einen feuchten Kuss mit der schwarzen Hundeschnauze zu geben. Der Junge wischte mit einem ernsten Gesichtsausdruck den nassen Hundesabber wieder von Nase und Wange, als wollte er so würdevoller bei dieser Handlung erscheinen.
„Pfui, Jasso!“ schalt Phelbs jetzt mit seinen astdünnen Fingern den vorwitzigen Wolfshund Welpen, der dies aber scheinbar als Aufforderung zum Spiel verkannte und ein weiteres Mal an dem Küchenjungen hochsprang, um schmutzige Pfotenabdrücke auf Phelbs weißer Küchenschürze zu hinterlassen.
Lord Fornworth zog schmunzelnd an seiner langen Pfeife und genoss dieses Schauspiel. Der Landregen war in einen noch weicheren Nieselregen übergegangen, als der alternde Herr der Greifen an den tollenden Hunden vorbei ins Arboretum spazierte.
Es war eine gute Idee gewesen, die schwarzen Wolfshunde, die sie den Barbaren im großen Krieg abgenommen hatten, hier auf Greifenfels zu züchten. Die gewaltigen Tiere hatten sich schon sehr nützlich gemacht, und der Lord fragte sich, wieso vorher Niemand auf die Idee gekommen war, die scharfen Ohren und guten Nasen von Hunden in den Dienst der Schwarzen Greifen zu stellen. Die zottigen, schwarzen Tiere waren treue Gefährten, ausgezeichnete Jäger, gute Wächter und auch noch sehr wehrhaft! Ein ausgewachsener Wolfshund Rüde war groß wie ein Kalb und konnte mühelos sechzig Stein auf die Wage bringen. Zwar fraßen die großen Tiere Unmengen an Fleisch, aber Küchenabfälle gab es auf Greifenfels ohnehin. Zähes Muskelfleisch, Kutteln und das Restfleisch an den Knochen der verarbeiteten Rinder und Schweine war vorher allenfalls zu Fleischbrühen ausgekocht ansonsten aber direkt weg geworfen worden.
Eines der quicklebendigen bellenden Pelzknäuel hatte sich von Phelbs und seinen Geschwistern entfernt, und war dem Lord nachgelaufen. Das putzige Hundewelpen, schon mit seinen drei Monaten größer als ein avarischer Fuchs, sprang Lord Fornworth vor den Füßen herum und suchte offensichtlich seine Aufmerksamkeit.
Als der Ritter schließlich stehenblieb, machte der Welpe Männchen vor ihm und blickte ihn aus den treudummen dunkelbraunen Hundeaugen an, die rosa Zunge hing ihm hechelnd links aus der Schnauze.
„Na, du Kleiner,“ lächelte der Lord, nahm seine Pfeife in die linke Hand und kraulte mit seiner rechten den Welpen hinter seinen buschigen spitzen Wolfsohren. Der schwarze Welpe kläffte ihn dankbar an und wedelte mit seinem zottigen Schwanz vor Freude.
„Was für ein niedliches Tier,“ grinste er und erhob sich wieder. Seine Gedanken kreisten jetzt wieder um den großen Krieg und all die Spuren, die er hinterlassen hatte. Der ganze Kontinent war noch gezeichnet von den grausigen Bluttaten, welche die marodieren Barbaren hinterlassen hatten. Viele niedergebrannte Dörfer waren gar nicht erst neu errichtet worden und viele vor dem Krieg mühsam kultivierten Landstriche waren verwahrlost. Doch die Schlimmsten Schäden waren nicht am Land, sondern an seinen Einwohnern begangen worden: Es gab kein adliges Blut mehr in Kimbernia mit Ausnahme das der jungen Königin von Loriélien.
`Lalilia die Schöne´ hieß sie bei ihrem sonst einfallsreicheren Volk, wenn es um die Ermittlung eines frechen Spitznamens für ihren Monarchen ging, aber dieser schmeichelnde Beiname kam tatsächlich nicht von ungefähr! Lord Fornworth lächelte wieder still vor sich hin, als er an Lalilia und seinen ehemaligen schwarzen Greifen, den Beschützer Greganor dachte!
Wie es dem großen Kindskopf wohl erging, fragte er sich. Er dachte dann wieder an einen anderen seiner schwarzen Greifen, der wie Greganor ein Ausnahmetalent im Kampf, aber sonst von Greganor grundverschieden war: Ein Schatten fiel über sein Gesicht, als er an den jungen Cedrick dachte. Lord Fornworth hatte an diesem Tag noch eine schwere Entscheidung über den minderjährigen Beschützeranwärter zu fällen!
Die Baumkronen der Eberesche über ihm war von Wind und Regen inzwischen genauso leer gefegt, wie die der andern Laubbäume im Arboretum. Dichte Blätterberge gelben und braunroten Laubes bedeckten die schmalen Basaltsteinpfade, die zwischen den hunderten von Bäumen hindurch führten. Lord Fornworth lenkte seine Schritte in das Obstbaumviertel des Arboretums. Allein über zwanzig verschiedene Apfelbaumbestände hatten hier Platz, fast alles Apfelsorten, die man den Winter über gut lagern konnte.
Der Erste Ritter der Greifen wälzte den Gedanken an Cedrick mal auf die eine, mal auf die andere Seite, aber wirklich besser sah keine von beiden aus. Vielleicht war es tatsächlich die einzige Lösung, den Jungen schlicht loszulassen, auch wenn ihm der Gedanke einfach nicht gefallen wollte, Cedrick alleine auf einen Auftrag zu schicken.
Nicht, dass der Lord um die Gesundheit des jungen Beschützers in einem ehrlichen Kampf fürchtete, Cedrick war ein absolut beeindruckender Kämpfer, der das Potential hatte, zum fabelhaftesten Beschützer zu avancieren, den Greifenfels seit langem hervorgebracht hatte. Nein, er fürchtete im Gegenteil um die Menschen, die diesen Jungen herausforderten!
Es war in den schlimmsten Kriegsmonaten der Fehler des Lords gewesen, noch jugendliche Greifen mit in die Gefechte zu senden! Viele Leben von Zivilisten mochten sie durch ihren Einsatz gerettet haben, doch die jungen Greifen waren einfach noch nicht charakterfest genug gewesen.
`Man wird als guter Mensch nie charakterfest genug, um einen anderen Menschen zu töten,´ korrigierte der Lord seinen Gedanken. Die jungen Greifen hatte es jedenfalls noch wesentlich härter getroffen: das Leid, das sie gesehen und das Blut, das sie vergossen hatten, sollte sie ihr Leben lang bis in ihr tiefstes Inneres prägen und verfolgen...
Längst war die gute Laune Lord Fornworths wieder verflogen und hatte der Wut Platz gemacht.
Als er an einem nahen Baumstamm ein einzelnes, nasses Apfelbaumblatt heften sah, zog er sich kurzerhand seinen Dolch aus der Gürtelscheide und ließ ihn wie einen Pfeil durch die Luft schwirren.
Die Dolchspitze nagelte das Blatt jetzt hart an den niedrigen Baum.
„Vielleicht ist es tatsächlich besser so,“ sprach Lord Fornworth bei sich. „Besser seine Aggressionen abreagieren, als sie immer weiter in sich anzustauen, bis der Damm und der Mensch um ihn herum bricht.“
Er würde Cedrick auf den Auftrag schicken und nicht zulassen, dass der junge Beschützer weiter in den schwarzen Mauern von Greifenfels seinen Schmerz an sich nagen ließ: Cedrick brauchte freien Himmel über und um sich, dessen war sich der Erste Ritter sicher.

„Cedrick, dir ist sicher durch den Avarischen Kurier bekannt, dass eine unbekannte Person über die Grenze von Loriélien nach Avarien gekommen ist, und überall Blutbäder anrichtet, wo sie vorbei zieht?“
Der junge Greif in der schwarzblauen Knappenuniform nickte. Cedrick war noch keine sechzehn Sommer alt, aber wer sein gestrenges Gesicht um seine verbitterten, schuldbeladenen und von Schmerz verdunkelten stahlgrauen Augen aus der Nähe gesehen hatte, wusste, dass er keinen Jungen vor sich hatte!
Lord Fornworth betrachtete ihn genau: wie auch bei ihren Begegnungen zuvor fand er im Antlitz des jungen Ritters nichts, als eine trotzige Gleichgültigkeit. Cedrick hatte all seinen Kummer, all seine Angst, all seinen Schmerz und all seine Liebe tief in sich hinein versenkt und die Tür dahinter geschlossen und mit massiven Schlössern verriegelt. Er sprach nur, wenn ihn ein Befehl dazu zwang, hatte keine Freunde und keine Interessen über den Kampf hinaus.
Aus dem einst empfindlichen und jähzornigen Jugendlichen war lange vor der Zeit ein abgestumpfter Erwachsener geworden, der keine eigenen Ziele, ja, keine Träume mehr hatte! Der scheinbar instinktiv keine Gefühle mehr für irgend etwas zeigen konnte, weil er sich tief im Inneren fürchtete, wieder verletzt zu werden.
Cedrick hatte nichts mehr, wofür er lebte. Für ihn gab es nur noch das Kampftraining, bei dem er, je härter und je wilder er focht, für einige Momente alles um sich herum und sogar sich selbst vergessen konnte! Wo er loslassen konnte und frei von allen Erinnerungen und Schmerzen war, die er in so unvorstellbarer Menge in seinem jungen Leben schon aufgeladen bekommen hatte. Schweigend und scheinbar völlig unbeteiligt sah ihn der junge Greif an. Der Ersten Ritter seufzte lautlos, eher er wieder ansetzte:
„Cedrick, ich mache es kurz. Ich habe zur Zeit keinen Beschützer zu entbehren, ich brauche alle hier als Lehrmeister auf Greifenfels. Dennoch lässt die Regierung Avariens mich nach einem Ritter fragen, der die Spur dieses unbekannten Mörders aufnimmt und ihn zur Strecke bringt!“
Lord Fornworth blickte Cedrick durchdringend an. „Du bist erst fünfzehn und deine Beschützerprüfung liegt noch ein Jahr fern, aber da du kaum mehr des Einzeltrainings hier in Greifenfels bedarfst, werde ich dir diesen Auftrag geben!“
Die Gleichgültigkeit wich plötzlich aus Cedricks Gesicht und der Lord glaubte eine Spur Furcht zu entdecken, als der junge Beschützeranwärter ihn jetzt verwirrt ansprach. Auch die Stimme des jungen Ritters hatte nichts kindliches mehr an sich: „Mein Lord, darf ich frei sprechen?“
„Ich bitte darum!“
„Ihr wollt, dass ich Greifenfels verlasse und mich allein auf die Suche nach diesem bestialischen Mörder mache?“
„Glaubst du, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein?“ fragte Lord Fornworth betont sachlich zurück.
Cedrick wurde unsicher. Nicht seine Kampfkunst schien er in Frage zu stellen, aber er würde aus seinem vertrauten, wenn auch nicht geliebten Umfeld gerissen werden. Für wer weiß wie lange.
Lord Fornworth freute sich, seinen jungen Greifen für einen Moment lang aus seiner gleichgültigen Lethargie gerissen zu haben. Es bestand also noch Hoffnung, dass er sich vielleicht irgendwann wieder öffnen könnte.
„Nein, mein Lord, ich denke, ich bin der Aufgabe gewachsen!“ sagte ein sichtlich ernster Cedrick jetzt.
„Gut, dann gibt es in dieser Angelegenheit nichts mehr zu sagen. Du reist Morgen zu Pferd ab, die entsprechenden Anweisungen an Stall- und Küchenmeister habe ich schon gegeben. Wenn du diesen Mörder zur Strecke bringen konntest oder aber spätestens nach einem Jahr kehrst du zurück! Deine Einzelkämpfer Ausbildung wird für diesen Zeitraum ruhen können, solange du dein Training absolvierst, aber deine Schulbücher werden dich mit ausreichend Aufgabenstellungen begleiten.“
„Nach einem Jahr, mein Lord?“ die große Furcht, die Cedrick in sich verschlossen hatte, ließ ihn jetzt doch unsicher werden. Sein halblanges, struppiges haselnussbraunes Haar wippte auf seinem Haupt.
Lord Fornworth ließ sich nichts anmerken: „Bedenken, Knappe?“
Cedrick biss die Zähne zusammen. Er würde aus dem vertrauten Heim gerissen werden, wollte sich aber auch seine Gefühle nicht anmerken lassen. „Keine Bedenken!“ sagte er mit dunkler und kühler Stimme.
„Gut! Du wirst in ziviler Kleidung reisen, im Zeughaus liegt ein gepackter Kleidersack und deine Reisekleidung für die ersten Tage bereit. Dir wird jeden Monat ein Betrag von acht Talern an allen Banken, bei denen wir Kunde sind, bereitgestellt. Noch Fragen, Cedrick?“
„Keine, mein Lord!“
„Viel Erfolg,“ sagte der Lord nüchtern.
Cedrick nickte zum Abschied und verließ dann Lord Fornworths Empfangshalle.
Kurz und schmerzlos, lächelte der Lord jetzt freudlos. Er schickte Cedrick nur, weil er sich sicher war, dass er diesen Mörder niemals aufspüren würde!
Es waren schon so viele Versuche gescheitert, diesen verrückten Schlächter zu finden und zu töten, dass für einen einzelnen Menschen kaum die Chance bestand, sich an seine Fersen heften und ihn zur Strecke bringen zu können. Überdies gab es schon seit über einer Woche keine neuen Nachrichten mehr von ihm. Der Irre schien untergetaucht zu sein.
Die von diesem Wahnsinnigen scheinbar völlig willkürlich angerichteten Blutbäder, hatten Lord Fornworth zunächst auf einen Adepten schließen lassen, denn es waren teilweise mehr als ein Dutzend Bewaffnete gewesen, die dieser Mörder abgeschlachtet hatte. Dennoch hatten sich bei den Leichen keine unnatürlichen Todesursachen feststellen lassen, was zumindest ein Indiz war, dass es sich nicht um einen Adepten handeln musste. Sie alle waren durch Gewalteinwirkung von stumpfen oder spitzen Gegenständen gestorben, so schrieb der Avarische Kurier. Der Täter wurde von Zeugen, welche die Gemetzel in sicherer Entfernung überlebt hatten, als hühnenhafter Mann beschrieben, detailliertere Beschreibungen gab es nicht.
Auch das sprach gegen einen Adepten, denn soweit der Lord wusste, hatte es noch nie einen Adepten gegeben, der über einen Schritt und achtzig Daumen groß gemessen hätte. Die meisten waren sogar noch erheblich kleiner gewesen, auch wenn sie teilweise hochgewachsene Elternteile gehabt hatten.
Cedrick hatte die Halle verlassen. Er würde ein Jahr ziellos umher reisen, aber für manchen ist schon der Weg zum Ziel geworden, dachte Lord Fornworth und rieb sich seine Hände: Cedrick würde sich auf seiner Reise finden, sich, sein Herz und eine Zukunft!

                         Cedrick:
„Dürfte ich denn ihren Namen erfahren, Sir?“ Der grauhaarige Banker in schweren braunen Brokatmantel musterte ihn kritisch.
„Cedrick von Greifenfels,“ antwortete er dem aufgedunsenen Mann mit dem roten Gesicht und den kleinen Augen kühl und feindseliger, als es seine Absicht gewesen war. Aber was machte das schon? Vermutlich hatte dieser fette Banker schon seit dem großen Krieg keinen Bankkunden unter dreißig Jahren mehr gehabt. Die Avarische Reichsbank war das älteste und nobelste Etablissement unter den Kreditinstituten im Land, wer hier Kunde war, hatte ausgesorgt. Außer reichen Kaufleuten zählte einst nur der bedeutendste Adel zu den Kunden der Bank, doch nach der Ermordung aller Adligen hatte die Avarische Reichsbank ihren Kundenkreis erweitern müssen. Der letzte minderjährige Adlige, der in diesem Gebäude Geld abgehoben hatte, war vermutlich schon vor gut Eineinhalb Jahren das letzte Mal über die Schwelle dieses Hauses getreten.
„Bitte warten sie einen Augenblick, ich werde gleich ihre Kundenkarte holen,“ meinte der dicke Banker dienstfertig, ohne sich anmerken zu lassen, wie er die schnodderige Erwiderung Cedricks aufgenommen hatte.
Cedrick blickte aus dem vergitterten Fenster, als der Braunmantel im Hinterzimmer verschwand. Draußen war es wieder bedeckt und regnerisch, doch es war ihm recht. Besser, als dieser eitle Sonnenschein, wenn sich überall lächelnd Menschen zeigen, als sei die Sonne genug, alle Sorgen der Welt zu vergessen!
Der feiste Banker trat wieder in den protzigen Empfangsraum und legte eine Karte aus bestem Büttenpapier auf den massiven Kirschbaumholz Tresen. Cedrick erkannte die Karte sofort wieder. Mit vierzehn Jahren hatte er, wie alle Schwarzen Greifen, seinen eingefärbten linken Daumen auf so eine Karte und unzählige ihrer Schwestern gedrückt. Eine dieser Hunderten von Karten lag jetzt vor ihm und der Banker zückte jetzt ein mit Halbedelsteinen besetztes Tintenfass, einen feinen Pinsel und ein weiteres Stück Papier.
„Wenn der Herr so gütig wäre,“ sagte der Braunmantel nur und schob Cedrick die Utensilien entgegen. `Kann wohl nicht in ganzen Sätzen reden´, dachte er nur missmutig, als er seinen linken Daumen mit Tinte bepinselte und auf dem sauberen Blatt abrollte.
Der Banker holte unter dem Tresen einen Zwicker auf einer Stange hervor, hielt ihn sich elegant vor die Augen und verglich die beiden Fingerabdrücke miteinander. `Wie albern diese zwei Lupen an einen Stab zu stecken nur, damit es nobler aussieht´, überlegte Cedrick genervt, als der Banker nach etlicher Zeit die Tintenflecken immer noch verglich.
„Wie viel gedenken sie abzuheben, Herr Cedrick von Greifenfels?“ fragte der feiste Braunmantel in eigenartig schnurrendem Tonfall. Der Mann betonte das `von Greifenfels´ geradezu so, als handele es sich um einen Adelstitel, dabei bekam jeder Ritter der Schwarzen Greifen diesen Beinamen!
„Wenn sie in ihren Unterlagen nachschauen, werden sie entdecken, dass es sich um einen Festbetrag von acht Talern handelt, der mir monatlich zusteht. Ich möchte auch alle acht abheben!“
„Sehr wohl, Sir!“ der Braunmantel nahm Cedricks Kundenkarte, drehte ihm den Rücken zu und verschwand ein weiteres Mal in dem Hinterzimmer.
Cedricks Magen begann zu knurren. Gleich als erstes würde er sich mit dem Geld eine Gastwirtschaft suchen und eine ordentliche warme Mahlzeit mit viel Fleisch zu sich nehmen, entschloss er.

Kurze Zeit später schlugen Cedrick wundervolle Düfte nach Gebratenem aus fast jedem größeren Wirtshaus entgegen, dass ihm das Wasser im Mund zusammen lief. Vermutlich hätte ihm selbst der Duft nach frisch gebackenem Brot solchen Appetit gemacht, denn er hatte noch nichts gefrühstückt.
Solange er zurückdenken konnte, hatte es in seinem Leben immer einen festen Zeitpunkt für das Frühstück gegeben, doch seit er Burg Greifenfels verlassen hatte, konnte er sich selbst einteilen, wann er wie viel Nahrung zu sich nahm.
Cedrick zog bald an den Zügeln seines Rappens, und sprang leichtfüßig aus dem Sattel. Er führte das schöne schwarze Tier an einem vielversprechenden Wirtshaus vorbei in eine Seitengasse, an die sich ein Stall angliederte. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, sein Pferd in eine unbewachte Box zu stellen, aber die Erfahrung in den vergangenen zwei Wochen hatte ihn gelehrt, dass der Hengst relativ sicher war. Pferdediebstähle wurden zu hart bestraft, als das sich öfter Diebe wagten, sie zu begehen.
Cedrick nahm dem Rappen Tristan den Sattel und sein Geschirr ab, goss ihm einen Scheffel Weizen in einen Eimer und verriegelte die Tür zur Box gründlich. Er warf sich den schweren Reisesack über die Schulter und betrat durch den Nebeneingang zur Gasse hin das Wirtshaus, das ihn wieder mit dem würzigen Bratenduft willkommen hieß. Routinemäßig prüfte er die Räumlichkeit und die anwesenden Gäste mit seinem Blick auf potentielle Gefahrenherde.
Wie in vielen avarischen Schankstuben hingen auch in dieser Waffen zu Dekorationszwecken an besonders schmucklosen Wänden. Zumeist Langschwerter und Streitkolben, sogar einen Rabenschnabel - einen Kriegshammer deren anderes Ende spitz wie ein Dolch zulief - entdeckte er. Die Sitte Waffen in Schankstuben aufzuhängen, die für jeden Gast zugänglich waren, stammte aus dem vergangenen großen Krieg, als Dorf- und Stadtbewohner jederzeit mit einfallenden Barbaren hatten rechnen müssen. Der Krieg war noch kein ganzes Jahr vorüber, dementsprechend neu und gut gepflegt waren diese Exemplare auch.
Die Decke der Gaststube war niedrig und ölig glänzende Lampen an den Wänden und auf den Tischen verbreiteten ein funzeliges Licht, das bei diesem tristen Regentag Cedricks mürbe machende Depressivität auch im Gebäude nicht abreißen ließ. Draußen war der Tag schon nicht wirklich hell geworden - massive graue Wolkendecken verdunkelten die ferne Sonne - aber hier drinnen war es so düster, wie in den Kellergewölben unter Greifenfels.
Sein Magen meldete sich wieder, als er sich um zwei niedrige Tische schlängelte, die viel zu dicht am blankpolierten Tresen standen. Trotz der späten Mittagstunde war die Gaststube fast menschenleer, bis auf ein paar Männer mittleren Alters, denen man ohne große Welterfahrenheit ansehen konnte, welchen Beruf sie ausübten. Es waren ausschließlich Kaufleute und Händler, die hier in Jollenburg an der Preisens Quartier bezogen, bis sie ihre geschäftlichen Angelegenheiten beendet hatten und in ihre fernen Heimatstädte zurückkehren konnten. Jollenburg war die größte Stadt an der Reichsstraße von den Hafenstädten im Süden bis zu den fernen Metropolen im Norden und Osten Avariens.
Cedrick klopfte lautstark mit den Knöcheln seiner Linken auf den Tresen: „Das Tagesgericht und ein Zimmer!“
Die Wirtin, die auch schon bessere Jahre gesehen haben durfte, blickte ihn skeptisch an. „Hast du denn Geld, Junge?“
Cedrick ballte die seine rechte Hand zur Faust und biss die Zähne zusammen. Er musste friedlich bleiben, es gab keinen Grund sich über dieses schäbige vertrocknete Weib aufzuregen! Sie wollte nur wissen, ob er zahlen konnte.
Er drückte wortlos einen ganzen Silbertaler auf den Tisch, und blickte die Wirtin feindselig an. Warum musste er sich bloß immer noch so aufregen, wenn so ein Weib ihm so unverschämt kam?
Die Frau nahm das schwere Geldstück und wand es mit ihren Fingern, dann nahm sie einen Schlüssel von dem Bund an ihrer Schürze und legte ihn mit dem Silbertaler wieder auf den Tresen.
„Vier Kupferstücke die Nacht, das Essen zwei und vier Heller. Such dir einen Tisch, ich bringe dir dein Essen.“
„Euch!“ knurrte Cedrick sie im gepressten Ton an.
„Wie bitte?“ fragte ihn die hohlwangige Wirtin mit einer gewissen Schärfe in der Stimme.
„Sucht EUCH einen Tisch, ich bringe EUCH das Essen, wolltet ihr wohl sagen!“ Cedrick steckte den Silbertaler und den Schlüssel in seine Gürteltasche.
„Wie auch immer, Junge!“ lächelte die Wirtin schief und Cedrick schoss wieder das Blut in den Kopf.
„Dann habt dank, Alte!“ gab er barsch und herablassend zurück.
„Gibt es Probleme, Fanny?“ einer der Händler hatte sich von seinem Essen erhoben.
Cedrick und die dünne Wirtin sahen sich lange ohne zu blinzeln abschätzend an. „Nein, Joss,“ antwortete die Frau, ohne ihren Blick von ihm abzuwenden, „Keine Probleme, setze dich wieder!“
Sie wandte jetzt den Blick von Cedrick ab und begann ganz unvermittelt mit einem grauen Leintuch über eine Stelle am Tresen zu wischen, auf dem noch zwei feuchte Ränder von Keramikbechern zu sehen waren. „Euer Zimmer liegt in der ersten Etage, mein Herr,“ sagte sie in scheinbar gleichmütigen Worten und ohne den Blick vom Tresen noch einmal zu heben.
Cedrick wandte sich um, suchte sich einen Platz, an dem er mit dem Rücken zur Wand sitzen und von dem aus er die ganze Gaststube überblicken konnte. Kaum hatte er sich gesetzt, machte er Atemübungen, um wieder ruhiger zu werden und einen klaren Kopf zu bekommen. Ihm schlug das Herz immer noch bis zum Hals, als er sich, um sich abzulenken, wieder auf seinen Auftrag besann. Es war ihm immer noch unbegreiflich, wie schnell und wie arg ihn Frauen in Rage versetzen konnten, allein, durch ihre Blicke und den Tonfall ihrer Worte. Er war ein Beschützeranwärter auf der Jagd nach einem Mörder und diese unbändige Wut, die jedesmal aus ihm herausplatzte, wenn ihm eine Frau oder ein Mädchen dass Gefühl gab, dass sie sich als etwas besseres fühlte, gefährdete seinen Auftrag! Nichts konnte ihn so aus der Ruhe bringen, ja, aus der Bahn werfen, als eine Frau, die sich über ihn lustig machte!
Cedrick atmete tief durch. Fünf Jahre war es inzwischen fast her, dass ihn Lord Fornworth aus dem drohenden Jugendgefängnis geholt und ihm die Uniform der Schwarzen Greifen übergestülpt hatte. Fünf Jahre lagen diese abscheulichen Folterqualen und Demütigungen schon zurück, als er in den Kleidern seiner älteren Schwestern in die Volksschule gegangen war. Cedrick hatte es immer noch nicht verwunden!
Damals hatte er nichts gehabt. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben, sein Vater war ein ständig erwerbsloser Tagelöhner gewesen und seine älteren Schwester hatten keine Gelegenheit ungenutzt gelassen, ihren gesamten Frust und ihre bösartigen Streiche an ihrem wehrlosen kleinen Bruder auszulassen. An der Schule war er wegen seiner ärmlichen aufgetragenen Mädchenkleidung unzählige Male verprügelt worden, sein Lehrer hatte Witze vor der versammelten Klasse über ihn gerissen und Cedrick konnte sich an keine Nacht erinnern, an der er nicht weinend in den Schlaf gefunden hatte.
Irgendwann hatte er angefangen, seine Spötter zurückzuschlagen. Mit jedem weiteren Mal, wo er den Kürzeren gezogen hatte, wo zwei oder mehr Jungen auf den Möchtegern Rebell in grauen und braunen Mädchenkleid gleichzeitig eingeschlagen hatten, hatte er nur mehr Kampfgeist entwickelt. Bis zu dem glorreichen Tag, wo er zum ersten mal der Sieger gewesen war, an dem er zum ersten Mal gleich vier Jungen aus seiner Klasse abgewehrt hatte. Seine Schwestern hatten die vier Schläger auf dem nassen Aschenplatz hinter der Schule sogar angefeuert, aber gerade dieser Spott, diese Verachtung war es gewesen, die ihm in den Ohren geklingelt, allen brennenden und pochenden Schmerz übertönt und ihn zu noch größerem Siegeswillen angestachelt hatte!
Aber die Bosheit und Feigheit der anderen war grenzenlos gewesen und kein Jahr später war er dann vor den Richter gestellt worden, weil er gleich neun von den rachsüchtigen Schlägern gleichzeitig ihre Dummheit aus dem Leib geprügelt hatte. Fornworth hatte ihn freigekauft, aufgelesen, aus dem Dreck, und einen neuen Anfang ermöglicht! In der Eliteschule von Greifenfels konnte er erstmals lernen, sich auf den Unterricht konzentrieren, bekam gute Noten und wurde nicht von seinen Mitschülern behelligt! Niemand wusste etwas von seiner Vergangenheit und er hatte auch niemanden davon erzählt. Er hatte keine Freunde, aber die anderen Greifen in seiner Klasse schätzten ihn aufgrund seiner schulischen Leistungen und bewunderten ihn sogar wegen seiner besonderen Kampfkunst. Die schwarzen Greifen seines Jahrgangs waren keine Freunde für ihn. Sie waren viel mehr als das: sie waren seine Brüder! Die stillschweigende Anerkennung, die er bei ihnen genoss, war die größte Liebe, die er in seinem Leben hatte erfahren dürfen und dafür liebte er auch sie. Bis dann der große Krieg ausgebrochen war und sein Leben grundlegend verändert hatte.
Cedrick schob diesen Gedanken blitzschnell bei Seite, als er bei der Erinnerung an den Krieg plötzlichen wieder den Stich in seiner Brust fühlte und seine Beine und Arme lahm wurden. Es war nicht die Zeit, sich mit alten Gespenstern und Schmerzen zu beschäftigen, er hatte einen Auftrag!
Er hatte einen Auftrag und er war näher an dessen Erfüllung, als alle Häscher, welche die Regierung bisher ausgesandt hatte, dessen war er sich sicher! Der irre Schlächter musste ganz in der Nähe sein, höchstwahrscheinlich sogar in Jollenburg! Lord Fornworth hatte ihn auf einen Auftrag geschickt, von dem der Erste Ritter der Greifen unter Garantie überzeugt gewesen war, dass Cedrick ihn nicht erfüllen konnte! Aber alte Greif sollte sich täuschen, dachte Cedrick und zeigte ein halbes Lächeln. Die Soldaten der Regierung hatten dem Mörder nur noch nicht stellen können, weil sie nicht wussten, wonach sie auf seiner Verfolgung zu achten hatten.
Zu Anfangs hatte Cedrick auch nicht gewusst, wie er sich an die Fersen dieses Schlächters heften sollte, aber schon nach ein paar Gesprächen mit der Handvoll Augenzeugen und den anderen Menschen in diesen Gegenden war ihm eine Denkwürdigkeit aufgefallen, die so bezeichnend wie offensichtlich war, dass es ihm von diesem Zeitpunkt mehr als einfach gefallen war, die Reiseroute des Mörders zu verfolgen!
Die Augenzeugen hatten den Mann als groß beschrieben, mehr war aus ihnen nicht herauszubringen gewesen, weil sie scheinbar nur ihrer räumliche Distanz zu diesem Metzger ihr Leben zu verdanken hatten. Selbst die Kleidung des Mörders wusste niemand genau zu beschreiben, lediglich, dass er wohl einen groben Kaputzenmantel getragen hatte, gaben sie wage an. Aber zu dieser Jahreszeit trug fast ein jeder gegen Kälte und Nässe einen Kaputzenmantel.
Das eigentlich absonderliche waren aber nicht die dünnen Beschreibungen der Augenzeugen, sondern die scheinbare Geistesschwäche der Anwohner in den heimgesuchten Gegenden! Wann immer Cedrick auch nach einem reisenden Fremden ohne Handelswaren im Gepäck gefragt hatte, waren die Antworten überraschend ausgefallen! Für gewöhnlich konnte man auf solche Fragen zwei Typen von Entgegnungen erwarten: Die einen Menschen konnten sich nicht erinnern, die anderen aber gaben eine Auskunft.
Manche Männer nun, die Cedrick befragt hatte, versuchten sich zu erinnern, versuchten es teilweise krampfhaft! Irgend etwas hatten seine Fragen in ihren Köpfen angestoßen: sie wussten, dass da eine Erinnerung war, konnten sie sich aber nicht wieder ins Gedächtnis rufen, sie nicht rekonstruieren. Ähnlich einem Traum, den man schon wenige Augenblicke nach dem Aufwachen nicht mehr genau fassen kann. Wie man sich erinnern kann, etwas geträumt zu haben, so wenig ist es einem noch möglich, den Traum selbst wieder in sich wach zu rufen. Die Männer konnten sich an viele Details der Tage erinnern, nach denen Cedrick sie gefragt hatte, aber in Hinblick auf einen großen Fremden litten sie offensichtlich unter einer seltsamen Geistestrübung!
Als Cedrick schließlich begonnen hatte, keinen detaillierten Informationen mehr nachzujagen, sondern nach dem Auftreten jenes Phänomens der gestörten Erinnerung zu suchen, war er ein ums andere Mal erfolgreich gewesen! Wer auch immer dieser Mörder war, er besaß besondere Kräfte! Vielleicht handelte es sich doch um einen Adepten, der im großen Krieg nicht umgekommen war. Falls dem so sein sollte, bestand für Cedrick nur eine Chance, ihn zu erledigen: er musste ihn unvorbereitet antreffen, im Schlaf oder von hinten mit dem Schwert töten, ehe dieser seine Kräfte gegen ihn benutzen konnte!
Seine Spur hatte Cedrick nach Jollenburg geführt und hier galt es wieder nach schwer überlegenden Menschen zu suchen, die ihm dann doch nichts genaues antworten können würden!

Die Straßen waren nass und glatt, ein dünner kalter Regen fiel auf das nächtliche Jollenburg, als Cedrick enttäuscht und müde den Weg zurück in die kleine Wirtschaft angetreten hatte. Das Kopfsteinpflaster glänzte im matten Licht der spärlichen auftretenden Straßenlaternen, die die Nachtwächter just angezündet hatten.
Überall hatte er herumgefragt, bei jeder großen und kleinen Pension, in jedem Gasthaus, jeder Herberge, doch die Antworten waren immer ernüchternd klar ausgefallen. Cedricks Erscheinung war wenig martialisch und gepflegt - er trug nur seinen Dolch am Gürtel - so hatten ihm die meisten Jollenburger gerne Rede und Antwort gestanden. Aber selbst bei den Gastwirten, die er als wenig vertrauenserweckend empfunden hatte, war für ihn keine schlechte Absicht zu erkennen gewesen. Seine Frage nach einem großen Fremden, der sich ein Zimmer genommen hatte, hatten sie einfach und ohne nachzudenken verneint.
Cedrick zog sich seinen grauen Kapuzenmantel dichter um die Schultern, als ein kalter Wind einsetzte und sausend durch die Gassen und die dunklen Hausgiebel über ihm fuhr. Es blieb ihm für den heutigen Tag nichts anderes übrig, als sich schlafen zu legen, um früh am nächsten Morgen erneut los zu ziehen! Es waren erst acht Uhr am Abend, aber die Straßen Jollenburgs waren menschenleer, wirkten wie ausgestorben. Das Wetter und die Witterung luden tatsächlich wenig ein, zu dieser Urzeit noch in der Großstadt flanieren zu gehen, gestand sich Cedrick missmutig ein, als er überlegte, sich doch die Kapuze über den nassen Kopf zu ziehen.
Nur noch wenige hundert Schritt trennten ihn von seiner Gastwirtschaft und seinem trockenen Zimmer, als er in eine enge Gasse zwischen einem hohen Herrenhaus und vielen niedrigen Fachwerkhäusern einschlug. Einsam an die Mauer des Herrenhauses gekauert sah Cedrick einen Bettler inmitten seines lumpigen Hab und Gutes.
Es musste sein Instinkt sein, der den jungen Greif plötzlich zu mehr Wachsamkeit ermahnte. Zu oft war man schon in seiner Kindheit unvermittelt über ihn hergefallen, als dass er bei dem noch so kleinsten Anzeichen eines möglichen Hinterhalts hätte arglos bleiben können! Vielleicht war es tatsächlich ein harmloser Bettler, der sich in den Regen- und Windschutz eines Gebäudes duckte und dabei von seiner schmutzigen Kapuze verhüllt wurde. Cedrick war dieses vielleicht zu wenig. Die Gasse war dunkel, die Hauseingänge tief und die Straßen leer. Auch seine Kapuze baumelte Cedrick nicht im Nacken, weil er zu eitel war, sie auf dem Kopf zu tragen, sondern weil sie – einmal übergezogen - eine inakzeptable Einschränkung seines Sichtfeldes und seines Gehörs mit sich bringen würde.
Cedrick beobachtete den sitzenden Mann in der schweren Dunkelheit des Gasse. Wenn es sich nun nicht um einen Bettler handelte, beobachtete man ihn bereits und er täte gut daran, sich nichts anmerken zu lassen!
Cedrick passierte den ersten Hauseingang in einigem Abstand und ohne hinein zu sehen. Selbst wenn er es getan hätte: die Dunkelheit der Nacht war einfach zu drückend, um selbst einem gezielten Blick in eine solche Nische dem Aufmerksamen etwas Genaueres zu verraten.
Er hatte einen weiteren Hauseingang passiert, war jetzt fast in der Mitte der Gasse und damit bei dem Bettler angelangt als ihn sein Instinkt ein weiteres mal warnte, diesmal zwingender als zuvor! Der junge Beschützer spürte, wie sein Herz schneller schlug, als er sich dem Hauseingang, der dem Bettler direkt gegenüber lag, näherte!
Statt an dem schwarzen Hauseingang vorbei zu schreiten, statt beim Gehen den vorderen Fuß zu belasten, setzte Cedrick ihn nur kurz auf, um dann wieder sein Gewicht auf den hinteren Fuß zu verlagern, wie bei einer Finte, einem angetäuschten Angriff im Zweikampf.
Ein Schatten schoss vor seinen Füßen aus der Schwärze des Hauseingangs, umklammerte sich selbst an der Stelle, an der Cedrick hätte stehen sollen, und ging dumpf zu Boden. Der angebliche Bettler stand auf einmal mit einem glänzendes Kurzschwert in der Rechten auf den Beinen. Und aus den zwei Hauseingängen, die Cedrick passiert hatte, wie aus einem weiteren am anderen Ende der Gasse, stürzten weitere Männer!
Meuchelmörder, schoß es ihm in den Kopf. Das Schwert des angeblichen Bettlers verfehlte ihn um gut einen halben Schritt, bevor Cedrick ihm mit einem Drehkick seines Stiefels den Kiefer aus der Verankerung trat.
Schneller, als ihm lieb war, stand nun der ins Leere gesprungene Straßenräuber wieder vor ihm, kam aber nicht mehr dazu, seinen Dolch zu ziehen, ehe ihm Cedrick mit der Faust die Nase von unten ins Stirnhirn schlagen konnte. Der Mann war tot, bevor er auf dem Pflaster aufschlug.
Die Gasse war so eng, dass die zwei anderen Räuber gerade eben nebeneinander auf ihn zueilen konnten.
„Tötet den Bastard!“ schrie jetzt der einzelne Mörder am anderen Ausgang der Gasse, der noch am weitesten von ihm entfernt war und ein Langschwert schwang.
Der Bettler gab nur einen unartikulierten Schrei voll Schmerz und Wut von sich, umklammert mit beiden Händen seine zertrümmerte Kinnlade und stolperte an der Mauer entlang aus Cedricks Nähe. Noch drei, zählte Cedrick und hielt jetzt seinen Greifendolch an der Klinge gepackt, dass die Ebenholzgriff nach oben zeigte.
Zwei, zählte er runter, als jetzt einer der beiden Mörder mit Kurzschwert abrupt stehen blieb, und sich an den Hals griff, aus dem nur noch der schwarze Griff des Dolches ragte.
„Du Dreckschwein!“ brüllte der andere der beiden und stach mit seiner kurzen breiten Klinge nach ihm. Cedrick benutzte die Hauswand als Bande, sprang sie an, stieß sich ab und packte den überraschten Räuber von hinten. Er ergriff Hinterkopf und Kinn des Mannes und drehte ihm das Genick um, bis es brach.
Diesmal erwischte Cedrick ein Streich des Langschwertes am linken Oberarm und riss ihm die Kleidung und einen großen Fetzen Haut herunter, als der letzte Mörder blindwütig nach ihm hackte. Cedrick ließ die Leiche in seinen Armen auf das Pflaster plumpsen und sprang zurück. Er hatte keine Zeit mehr, eine Waffe aufzuheben oder sich umzudrehen, um einen Vorsprung zu erlaufen, er konnte nur rückwärts in die Gasse zurück weichen, und versuchen den ungestümen Schwerthieben auszuweichen.
„Du hast meine Männer getötet, du Bastard!“ brüllte der Meuchler und verfehlte ihn ein weiteres mal nur um Haaresbreite, der Mann hatte den Griff des Schwertes mit beiden Händen umfasst, um in seiner Wut kräftiger zuschlagen zu können. Cedrick achtete nicht auf die Worte sondern konzentrierte sich genau auf die Bewegungsabläufe des Mörders vor ihm. Die Gasse war einfach zu schmal, um ihn frontal anzugreifen, er würde sich nur in das Schwert stürzen, überlegte Cedrick, als der Mann plötzlich seine linke Hand von dem Schwert nahm, um schneller zu schlagen und stechen zu können, weil er beidhändig für Cedricks geschmeidigen Ausweichschritte zu langsam war.
Das war dein letzter Fehler, dachte Cedrick, als er jetzt doch blitzschnell auf den Mörder zutrat. Er packte mit seiner Linken das rechte Handgelenk des Mannes, um das Schwert von seinem Körper weg zu drehen und zertrümmerte dem Mörder mit den Fingerspitzen seiner Rechten den Kehlkopf. Mit einem Tritt in den Magen stieß er den japsenden Mörder aus seiner Reichweite. Dieser verkrampfte sich jetzt mit fiependen Lauten auf dem Boden und rollte sich in Fötusstellung zusammen. Der Mörder würde die Kehlkopfattacke nicht überleben.
Ein suchender Blick verriet Cedrick, dass der Bettler mit dem zertrümmerten Kiefer entkommen war. Er war wieder allein in der Gasse, allein mit vier leblosen Mördern. Mit drei Schritten war er bei dem Mann, in dessen blutüberströmten Hals noch sein Dolch streckte. Die Flüssigkeit musste Blut sein, auch wenn sie so schwarz war, wie die Kleidung und die aufgerissenen toten Augen des Mörders. Der weiche Regen wusch den Hals schon wieder sauber.
Cedrick zog den Dolch heraus und streifte das Blut sauber am Hemd des Mannes ab und reinigte mit den nassen Lumpen des geflohenen Bettlers, die noch auf dem Boden lagen, die letzten Reste. Darauf steckte er ihn sich wieder in die Gürtelscheide.
Er betastete seine warme Stirn mit kalten Händen. Er sollte jetzt irgend etwas empfinden. IRGEND ETWAS! Er sollte glücklich sein, dass er dem Tot entronnen war, er könnte jetzt, um acht Silbertaler und sein Leben ärmer in seinem Blut auf dem nassen Kopfsteinpflaster liegen. Er könnte bestürzt sein, dass er soeben vier Männer in den besten Jahren mit den eigenen Händen getötet und einen fünften vermutlich bis zum Lebensende entstellt hatte. Er könnte Freude, Angst, Mitleid oder Scham empfinden. Aber nichts dergleichen stellte sich bei ihm ein. Cedrick starrte in den schwarzen Himmel über sich, und seine Augen wurden feucht: der Regen erledigte das, was seine Tränendrüsen vielleicht jetzt hätten tun müssen.
   Ganz in Routine erledigte Cedrick wieder seine Atem- und Dehnübungen nach einem Kampf, senkte somit seinen Pulsschlag und ordnete abschließend seine Kleidung. Ein Nachtwächter würde dieses Pack vielleicht noch vor dem Morgengrauen finden. Was den fünften Raubmörder betraf, der Mann hatte jetzt einen Wendepunkt in seinem Leben erreicht, an dem er möglicherweise zu dem Ergebnis kommen würde, dass er in Zukunft lieber seine Profession wechseln sollte.
Cedricks linker Oberarm schmerzte und Blut rann in seinen Ärmel. Sein offenes Fleisch glänze ihn schwarz in dem fernen Licht der Straßenlaternen an. Der Beschützeranwärter trottete los, er musste seine Wunde bald mit Jod behandeln und einen Breiumschlag machen, wenn er eine Infektion verhindern und eine schnelle Heilung gewährleisten wollte.
Jetzt wischte sich der junge Greif doch eine einzelne echte Träne aus dem nassen rechten Auge. Cedrick trauerte: er hätte wenigstens ETWAS empfinden müssen!
Kaum aus der Gasse heraus, sah er schon seine Gastwirtschaft in der Mitte einer breiteren, besser beleuchteten Straße. Das Holzschild der Wirtschaft Schwarzer Adler hing an zwei schweren Eisenketten direkt über dem Eingang und wären die Ketten nicht vom ständigen Regen festgerostet, so hätte es im starken Abendwind geschaukelt und geknarzt. Der Name Schwarzer Adler war es auch gewesen, der Cedrick dazu bewogen hatte, in dieser Wirtschaft Quartier zu beziehen, Schwarzer Adler klang für die Unterkunft eines Ritters der Schwarzen Greifen genehm! Gleich, als Cedrick den Namen zur Mittagszeit gelesen hatte, war die Entscheidung gefallen, hier abzusteigen, der Name erinnerte ihn an seine einstige Heimat, in die er vielleicht bald schon zurück kehren durfte!
Als er aus der frischen Luft des nächtlichen Jollenburgs durch den Windfang die Gaststube betrat, verschluckte ihn gleich die Dunstglocke nach altem Holz, Gewürzen und Wein. Trinkende und schmausende Gäste hatten den ganzen Schankraum okkupiert und man nahm keine Notiz von Cedrick, als er sich an der vorwiegend männlichen Kundschaft vorbei zur Treppe nach oben kämpfte. Er hatte seinen Mantel so über den Arm geworfen, dass seine lange Wunde darunter verborgen lag.
   Fast, ohne sich dessen bewusst zu sein, trat er auf dem Weg zur Treppe kurz an den Tresen heran, wo die giftige Alte inzwischen einem auffallend schmächtigen Mann des selben Alters Platz gemacht. Cedrick sprach den kleinen Wirt, der wohl der Besitzer der Gaststube sein musste, über den Lärm der Gäste an: „Guten Abend, Meister Wirt, wie lange habt ihr heute noch warme Küche?“
Der ältere Wirt sah zu ihm auf, ehe er mit einer kräftigen Barmannstimme, die nach Cedricks Meinung so überhaupt nicht zur Gestalt des Wirtes passen wollte, freundlich Antwort gab.
„Noch bis zehn Uhr Nachts, junger Herr, wir haben für euch Eintopf, Zwiebelrostbraten mit Kartoffeln oder Haxe vom Schwein!“
Cedrick deutete ein Lächeln an, um die Freundlichkeit des kleinen Wirtes zu honorieren. Junger Herr, der Wirt verstand es besser, als sein Weib, wie man mit Gästen sprach, dachte er!
„Ah, habt Dank, Meister Wirt...und,“ hörte er sich routiniert monoton fragen, „ist hier bei euch vielleicht heute ein großer Mann abgestiegen, dessen Kleidung nicht die eines Händlers war und der ohne Waren im Gepäck reist?“
Der schmächtige Mann drehte die Augen nach oben und schien zu überlegen. „Ein großer Mann?“ fragte der Mann sich selbst.
„Ich weiß es nicht ganz genau,“ erwiderte die Stimme des Schankwirtes, die einiges an ihrer Sicherheit und Lautstärke eingebüßt hatte. „Ein großer Mann ist hier eben angekommen, er speist im Nebenraum. Hier war es ihm zu voll. Ob er aber ein Händler gekleidet war...,“ der Wirt kratze sich an der Schläfe.
Cedricks Blut floss plötzlich wieder schneller durch seine Adern, schnell fragte er weiter: „Wann ist der Mann hier herein gekommen und was hat er bei euch bestellt, Meister Wirt?“
„Die Schweinekeule und einen Krug Gewürzwein, er kam vor nicht ganz einer Viertelstunde.“
„War er so um die fünfzig Jahre, dick und hatte einen langen Bart?“ Cedrick sah den Wirt durchdringend an und sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
Der kleine Wirt ließ nachdenklich seinen Blick schweifen und antwortete erst nach geraumer Zeit: „Er war...nein...ich habe ihn mir nicht so genau angesehen!“
Cedricks rechte Faust schloss sich um den Ebenholzgriff seines Dolches, das war der Mann, der Adept, den er suchte! „Er hatte aber Handelswaren bei sich?“ hakte Cedrick noch nach.
„Nein, bestimmt nicht!“ antworte der Wirt jetzt rasch und wieder mit selbstsicherer Stimme. „Er hat zumindest nichts bei uns im Schuppen lagern wollen!“
„Mmh,“ grübelte Cedrick laut und tat so, als würde er nachdenken. „Dann ist es nicht mein Freund Bessem.“ Der junge Greif machte eine kurze Pause, ehe er den Wirt wieder ansprach: „Sagt, Meister Wirt, ich habe im Gepäck auf meinem Zimmer ein paar sehr wertvolle Waren, eure Nachschlüssel zu den Zimmern sind doch des Nachts gut verwahrt?“
Der kleine Mann lachte: „Oh, nein, wir haben keine Nachschlüssel. Bislang haben wir noch jeden Schlüssel wieder gesehen und mussten noch nie ein Schloss austauschen!“
Cedrick biss wütend die Zähne zusammen. Er verstand sich nicht auf das lautlose Aufbrechen von Schlössern, aber er gab noch nicht auf: „Oh, dann will ich besonders auf meinen Schlüssel achten, dass es nicht der erste wird, der verloren geht! Das nächste Mal, wenn ich nach Jollenburg komme, werde ich in anspruchsvoller Begleitung reisen, habt ihr auch noch größere oder anders möblierte Zimmer im Haus?“
Ein Kopfschütteln bedeutete ihm die Antwort: „Tut mir Leid, junger Herr, aber unsere Zimmer sind alle gleich groß und unsere Möbel sind alle vom gleichen Schreiner!“
Wieder ein Misserfolg, Cedrick stieß enttäuscht die angehaltene Luft aus. Er konnte sich also auch nicht vorher im Zimmer verbergen und auf den Schlaf des irren Mörders warten, wenn die Zimmer alle nur mit eine kleine Kleidertruhe, einem Bett mit Bettkasten und einer Kommode mit Waschutensilien eingerichtet war! Er musste den Mann also aus dem Hinterhalt mit einem einzigen Streich erledigen, ob dies nun jetzt oder später geschah spielte keine Rolle, die Gelegenheiten würden immer gleich gut ausfallen, solange der Mörder nicht gewarnt war! Die toten Räuber eine Straße weiter und seinen schmerzenden Arm hatte Cedrick völlig vergessen.
„Nun, ich werde auch jetzt mein Abendessen zu mir nehmen! Meint ihr, ich könnte auch im Nebenraum essen, ich tafle auch lieber in Ruhe!“
„Wenn es euch nicht stört, dass es dort ein bisschen staubig ist, junger Herr. Im großen Krieg ist uns ja unsere gesamte adlige Kundschaft verloren gegangen und wir eine Zwischenwand eingezogen, dass unser Schwarzer Adler nicht immer halb leer aussieht. Dort machen wir nicht so oft sauber.“
„Das stört mich nicht, weist mir nur rasch den Weg und bringt mir dann einen Zwiebelrostbraten und ein halbes Maß Bier.“
Der schmächtige Wirt nickte eilfertig und hob den Zeigefinger: „Nur durch diese Tür!“
„Habt ein weiteres Mal Dank!“ meinte Cedrick und wandte sich der Tür zu. Er atmete ruhig. So endet es also, dachte er sich sachlich, entweder für mich oder für ihn!
Ohne Eile packte er die Tür am Knauf und zog sie auf. Der Nebenraum war etwas kleiner, kühl und still. Auch hier brannten die Öllampen an den Wänden zwischen den dekorativ angebrachten Waffen. Aber die Tischbeleuchtung fehlte, so das der Raum düsterer wirkte. Dort saß er, immer noch in einen langen Reisemantel gehüllt und die Kapuze so weit über den Kopf gezogen, dass man sein Gesicht nicht erkennen konnte.
Cedrick spürte sein Herz klopfen, als er scheinbar desinteressiert an seiner Umgebung einen Tisch im Rücken des Mörders suchte. Geräuschvoll zog er einen Schemel an sich heran um sich nieder plumpsen zu lassen, als hätte er nach einem anstrengen Tagewerk endlich Zeit sich auszuruhen.
Der Kapuzenmann schien keine Notiz von ihm zu nehmen. Cedrick hatte erkennen können, dass der Mörder den Teller vor sich schon leer gegessen hatte. Nun setzte der Mann seinen Becher Gewürzwein an die Lippen und trank ebenso geräuschlos, wie er den Keramikbecher wieder auf den Tisch absetzte.
In jeder anderen Situation hätte Cedrick es lächerlich gefunden, das jemand in einer Gaststätte nicht einmal seine Kapuze vom Kopf nahm, wenn er sich schon nicht seines ganzen Wettermantels entledigen wollte, jetzt aber schlug sein Herz so schnell, wie nach einem Sprint von zweihundert Schritt. Er musterte den Fremden genau, aber der dicke Filzmantel verhüllte seine Proportionen. Der irre Schlächter saß so unbeweglich und leise an seinem Tisch, dass Cedrick sich fragte, ob der Mann überhaupt atmete. Die sicherste Methode den Mörder zu töten, wäre ein sauberer Stich in den Rücken, zwischen den Rippenbogen hindurch direkt ins Herz, aber durch den dicken und unförmigen Filzmantel war das Risiko zu groß, doch nur eine Rippe zu treffen.
Die einzige andere Möglichkeit war, so dicht an ihn heran zu kommen, dass er ihm den Hals durchschneiden konnte, ehe der Mörder einen seiner Adeptenkräfte gebrauchen konnte. Er selbst hatte im großen Krieg mit angesehen, wozu diese verdorbenen Unmenschen nur mittels Kraft ihrer Gedanken in der Lage waren. Er würde ein gutes Werk tun, den letzten dieser verkommenen Brut für immer vom Angesicht der Erde zu tilgen.
Der junge Greif kniff die Augen zusammen. Es galt nur noch den richtigen Moment abzupassen: den Moment, in dem ein weiteres Mal die Türe zur vollen Gaststube geöffnet werden würde, und der schmächtige Wirt Cedrick sein Essen brachte! Die plötzliche Lautstärke aus dem Nebenraum würde seine drei Schritte übertönen, die er brauchte über den massiven Tisch direkt hinter den Mörder zu gelangen. Cedrick legte seine Hand an die blankpolierte Ebenholzscheide seines Dolches. Er musste nur noch warten, warten und im rechten Augenblick federnd von seinem Hocker in die Höhe schnellen!
   Die Tür öffnete sich und der staubige, stille Nebenraum füllte sich mit Stimmen. Cedrick setzte wie eine junger Hirsch über den Tisch hinweg, brauchte nur eine Bodenberührung und war hinter dem Kapuzenmörder. Cedrick stützte sich im gleichen Moment mit seiner linken Hand auf der Schulter des Mannes ab, um nicht gegen ihn zu stürzen, als er dem Mörder seinen Dolch von links nach rechts über die Kehle zog.
    Der Griff um die Schulter war ein Griff um einen Fels und die geschwärzte Scheide seines Dolches glitt nicht durch Fleisch wie ein Messer durch warme Butter, sondern ächzte scheußlich quietschend über ein Material, dass noch härter als die Klinge selbst zu sein schien! Cedrick war für einen Lidschlag wie gelähmt, aber das jahrelange Beschützertraining ließ ihn dann doch instinktiv handeln, ohne, dass er nur einen Gedanken an seine Reaktion verschwendet hätte. Bruchteile eines Augenblickes später hielt Cedrick schon ein Schwert in der Hand, dass er von der nächste Wand gerissen hatte. Der Wirt hatte den Raum noch nicht einmal betraten, und der Mörder sich gerade erst vom Schemel erheben können, als Cedrick die blanke Klinge sauber links auf dem Hals des Mannes plazierte, dass sie ihm den Kopf vom Rumpf trennen musste.
Funken stieben auf dem Hals und die Klinge bebte so heftig in seiner rechten Hand, dass sie ihm beinah aus der Faust gerissen wurde. Cedrick setzte nach und konnte noch durch zwei Hiebe ein X auf den Rücken des Mörders schlagen, ehe dieser sich ganz zu ihm umgedreht hatte. Wieder krächzendes Quietschen und Funkenflug.
Der schmächtige Wirt erfasste erst jetzt, was geschah, ließ Teller und Bierkrug aus tauben Händen auf den Boden scheppern. Cedrick stand dem Kapuzenträger jetzt gegenüber, wollte ihm die Schwertspitze in den Magen stechen, als mit einem ohrenbetäubenden Knall die komplette Klinge in hunderte von Splittern zerbarst, als wäre sie aus Glas. Schützend schloss Cedrick die Augen, bekam aber keinen Splitter ab. Dann wurde er von unsichtbarer Hand an der Brust getroffen und rücklings durch den Raum geschleudert, bis eine Wand seinen Flug abrupt beendete. Mit zusammen gebissenen Zähnen und reißenden Schmerzen in Brust und dem rechten Arm samt Handgelenk sprang Cedrick wieder auf die Beine. Er sah sich jetzt dem Mann im grauem Mantel direkt gegenüber. Zwei Punkte in tiefem rot leuchteten aus dem Schatten seiner Kapuze hervor, wo die Augen des Wahnsinnigen sitzen mussten. Plötzlich fühlten sich Cedricks Gelenke steif und kalt an, er konnte sich nicht mehr rühren, als hätten sich Bänder aus Stahl um seine Gliedmaße gelegt.
„Eine nette Art mich zu begrüßen,“ sagte die Stimme sauer.

                           Greganor:
Missmutig trommelte der König von Loriélien mit seinen Fingern auf die rechte Armlehne seines vergoldeten Thrones. Er trug wieder seinen gefütterten Ornat aus Hermelinfellen und königsblauen Brokat, die weißen Strumpfhosen aus feinster loriélischer Seide und die lächerlichen Schaftschuhe aus schwarzen Samt. Greganor hob seinen linken Fuß ein wenig vom roten Teppich und betrachtete ärgerlich diese besseren Socken, die sein Hofschuster erst gestern neue für ihn angefertigt hatte. Greganor hatte die Angewohnheit, mit diesen unpraktischen Zierschuhen bevorzugt über Natursteinwege im Schloss zu schlendern, und dabei zu schlurfen wie ein rheumatischer Fußlahmer.
Wenn das nicht ausreichte, weil dieser gewiefte Schuster immer findiger wurde, seine Samtschuhe widerstandsfähiger zu fertigen, gab Greganor diesen lächerlichen schwarzen Schaftsocken den Rest, indem er sie beim Kampftraining einfach anbehielt!
Es würde sich noch zeigen, wer mehr Ausdauer bewies: Er im böswilligen Verschleißen der Schuhe, oder Lalilia, seine geliebte Königin, mit immer wieder neuen Aufträgen an den dummen Hofschuster!
Greganor hatte jedenfalls fest beschlossen, so lange mit diesem passiven Widerstand gegen seine Ehefrau fort zu fahren, bis er endlich wieder männlicheres Schuhwerk tragen durfte! Wenn schon keine Stiefel, dann wenigstens richtige Lederschuhe.
Außerdem war es eine Tortur für ihn, sich tagtäglich in diese unbeschreiblich ekligen Seidenhosen zu zwängen. Dauernd riss eine kaputt, vermutlich nicht zuletzt, weil er nicht besonders viel Geduld beim einkleiden mit diesen weißen Strümpfen zu zeigen pflegte! Nicht nur, dass er sich in diesen überlangen, hauchdünnen Würsten für seine Beine unanständig nackt fühlte, sie juckten auch noch entsetzlich! Gerade jetzt war es Greganor ein unaufschiebbares Bedürfnis, sich kurz im Schritt kratzen zu können, aber vor den Augen von vierzig Leibgardisten, etwa zwanzig Vasallen und ebensovielen Dienern machte sich das nicht so gut. Auch die begüterte Erbin der edelsten Porzellanmanufaktur in Loriélien, die ihm gerade persönlich für einen Großauftrag dankte, hätte ein Kratzen im Schritt seinerseits ebenfalls leicht als der Situation nicht gemäß betrachten können.
Greganor verbiss sich mannhaft den Juckreiz und lächelte die alternde Matrone zu Füßen der Treppen zu seinem Thron hinauf geschäftsmäßig an: „Es war eine Freude, mit euch ins Geschäft zu kommen, Lucilla.“
„Ich danke euch ehrfürchtig,“ lächelte die etwas aus der Form gegangene Frau in einem lavendelfarbenen Kleid, in das sie ein handwerklich höchst begabter Schneider eingenäht haben musste. Sie machte einen vollendeten Kratzfuß und wartete auf ein Zeichen von ihm.
„Ihr könnt euch entfernen,“ meinte Greganor darauf lapidar und winkte mit der freien rechten Hand, als wollte er eine Fliege von einem Stück Kuchen verscheuchen. Es war nicht gerade sein Traumberuf, den König von Loriélien spielen zu müssen, aber er hatte nun mal Lalilia heiraten wollen, und was tat ein Mann nicht alles, um mit der Frau zusammen zu sein, die er liebte?
Nach der reichen Erbin Lucilla, welche die nächsten zwei Jahre lang ihr – mit Naturmotiven bepinseltes und verschnörkeltes - Kitsch Porzellan an den Palast liefern würde, musste Greganor noch unzählige Bittsteller, Zulieferer, Sülzköpfe und andere, extrem wichtige Menschen empfangen!
„Ah, seht, die Sonne bricht durch!“ rief er lautstark und deutete mit dem Finger in Richtung der gewaltigen Palastfenster im Westen, wo gerade die orange Abendsonne aus einer Wolkenbank hervorlugte. Die kurze Ablenkung der fast neunzig anwesenden Personen nutzte der König, um sich mit der anderen Hand endlich kräftig im Schritt kratzen zu können.
Mit einem gelösteren Lächeln, als noch vor einem Augenblick, durfte er sich an einem verabschiedenden Kratzfuß der dicken Lucilla erfreuen.
Der Herold trat nun vor, warf sich wieder in die Brust und schmetterte: „Es verlässt den Saal Lucilla Arnold, Eigentümerin der Porzellanmanufakturen Arnold und Söhne.“
Zwei Herolde traten links und rechts neben die Treppen, auf dem die beiden Thronsessel standen, und bliesen zum Abschied auf ihren goldenen Hörnern. Greganor konnte diese ermüdenden zwölf Noten nicht mehr hören! Ebensowenig wie die Begrüßungstöne, die Ankündigung zu öffentlichen Banketten, die dummen Tutereien zu Morgens- Mittags- und Abendstunde!
Er würde bald mit Lalilia darüber sprechen, nahm sich Greganor zum hundertsten Mal vor, als sich das Flügeltor am Ausgang des Saales hinter der reichen Matrone schloss.
Der Ritter seufzte jetzt ausgiebig und blickte seinen Herold entnervt an: „Wer ist der nächste auf der Liste?“
„Eure Majestät, ihr erwartet Jasper Belsenkamm, den Architekten der neuen Brücke über den Laurion.“
„Und?“ fragte er weiter und trommelte wieder mit seiner Rechten auf die Armlehne.
„Eure Majestät hat ihm den Auftrag über die Brücke anvertraut und er möchte persönlich vorsprechen und sich bei euerer Majestät bedanken!“
„Ahh,“ stellte Greganor fest und rollte resignierend mit den Augen. Jeder Mensch, der sich halbwegs für wichtig befand, wollte sich für dies und das bedanken, diesen oder jenen Rat einholen, diese oder jene Spende erbitten, als müsste es ausgerechnet und nur der König Loriéliens sein, der sich damit zu beschäftigen dürfte! Es fehlte nur noch, dass der königliche Pelztierjäger ihm jedes erlegte tote Hermelin für seine neue Abendgarderobe einzeln vor die Nase hielt, um sich des Königs Erlaubnis zur Verarbeitung gerade dieses Tieres zu versichern!
Aus einem Impuls heraus rief er seinen Mundschenk an: „Mundschenk, bringe mir ein gut eingeschenktes Maß Bier!“
„Eure Majestät?“ der Diener in bunter Garderobe blickte ihn verständnislos an. Anscheinend hatte Greganor ihn mit diesem Befehl gänzlich überfordert. Alles konnte sein Mundschenk ihm holen: Eine Schale Trauben, ein paar Krokantplätzchen, Nusspralinen, Jahrgangsweine und Likör. Warum nicht auch einfach einen Krug Bier? Greganor sah seinen Mundschenk leicht verärgert an.
„Wenn du mir Tinte und Pergament bringst, kann ich es dir auch aufschreiben, damit du es auf dem Weg in die Küche nicht vergisst!“ schnauzte er dann doch wieder mit guter Laune, weil dem glotzäugigen Blick des Mundschenks irgendwie ein komisches Moment anhaftete.
„Sehr wohl, eure Majestät, ein gut eingeschenktes Maß Bier!“ der Mundschenk machte einen Diener und eilte dann aus dem Raum.
   Die rotgoldene Abendsonne hatte sich jetzt vollends aus den tiefgrauen Winterwolken hervor gepellt und schien angenehm hell in den riesigen Thronsaal des Königspalastes der Hauptstadt Gnossas.
Es war erst später Nachmittag, aber die Sonne ging im Dezam schon um vier Uhr unter. In einer Stunde würden nur noch die vier Kristallüster an der Saaldecke, alle groß und hoch wie kleine Pavillons, den Saal beleuchten. Nicht zu vergessen die unzähligen Kerzenhalter an den Säulen der Halle, die in der dunkelen Jahreszeit jeden Tag ausgetauscht wurden, zusammen mit den Lüstern tauchten sie den Marmorsaal immer in ein warmes Licht, dass eine behagliche Atmosphäre verbreitete.
Greganor legte leicht den Kopf in den Nacken und bewunderte wieder das Deckenfresko. Um den geschichtlichen Ereignissen des vergangenen Jahres auch künstlerisch Rechnung zu tragen, war die ehemals kahle Rundbogendecke des Thronsaales kunstvoll bemalt worden. Eine ganze Gruppe detailverliebter Maler hatte ein halbes Jahr auf dem Rücken liegend an diesen deckenfüllenden Freskos gearbeitet! Die Malergerüste hatten fünf Monate lang den ganzen Raum blockiert, aber das Resultat war diesen Aufwand allemal wert.
Das empfand selbst Greganor, der sich nicht anlasten wollte, viel von Kunst zu verstehen. Dieses Deckenfresko jedoch sagte auch ihm etwas. Manchmal spricht Kunst eben doch für sich, lächelte er, als er sich selbst überproportional groß in seiner schwarzen Beschützerrüstung fast unmittelbar über seinem Haupt sah. Sein Abbild saß stolz aufgerichtet im Sattel seines mächtigen Rappens an der Spitze des ganzen Heeres der Schwarzen Greifen und deutete mit Siegerpose in Richtung des Horizonts, an dem man das feindliche Heer ausmachen konnte. Seinen furchterregenden Helm hatte er unter den Arm geklemmt und Wind plusterte sein Haar zu einem wilden und ungestümen Meer aus blauschwarzen Wellen auf. Die Greifenritter um ihn herum, darunter auch sein erster Ritter und Befehlshaber Lord Fornworth, sahen bewundernd zu ihm auf, als wäre er die Quelle ihren Mutes und ihrer Stärke.
Greganor grinste breit, als er die ehernen Züge seines damals noch bartlosen Gesichtes betrachtete! Ganz so war es damals nicht gewesen. Genaugenommen war dieser Teil des Deckenfreskos totaler Mumpitz: nichts, aber auch gar nichts, stimmte an diesem Bild! Aber das war eben die künstlerische Freiheit und weil er auf diesem Bild des Freskos so gut weg gekommen war, hatte er auch von einer Beschwerde bei den Künstlern abgesehen.
Als er seinen Blick auf das mittige Deckenfresko wandern ließ, spürte er wieder einmal den Druck in Magen und Brust, als er seinen verstorbenen besten Freund, der ihm näher als ein Bruder gewesen war, riesengroß und noch sehr lebendig auf einem Hügel stehen sah. Auf diesem Bild waren sie noch alle vereint: Lalilia, Jannick und Greganor selbst. Sogar die ihre tapfere kleine Lebensretterin Ran hatten die - auf Details versessen - Künstler abgebildet, ohne es zu wissen, denn auf Jannicks Schulter saß ein putziges kleines Tigerkätzchen! Auch hier hatten die Künstler einen starken Wind wehen lassen, der ihre Haare stürmisch durcheinander wehte und an ihren Mäntel riss. Das Menschen so verwegen gucken konnten, hatte Greganor erst nach eingehender Betrachtung ihrer Gesichter glauben können. Vielleicht war es gut so, dass all die Verzweiflung und all die Angst, die sie in diesen Momenten empfunden hatten, von den Malern einfach ausgespart worden waren: die Bilder sahen den Originalen ohnehin schon zu ähnlich!
Das dritte und letzte Fresko, das den Flügeltoren am nächsten und Greganors Thron am entferntesten lag, zeigte den feurigen Tod aller Adepten. Von Pferden und Reitern, die in den Wellen kochender Magma verschwanden, wie von brennenden Blutroben und entsetzten Gesichter erzählte dieses angsteinflößende Bild in satten Farben. Die Leiber der zur Schinde getriebenen Pferde mit in Todesangst geweiteten Augen und speichelnden Mäulern versanken auf dem Fresko bis zum Hals in der glühenden Gesteinsmasse. Nichts aber hatte Greganor, wie auch Lalilia, so bei dem Anblick dieses Teilfreskos so erschauern lassen, wie die Gesichter der Adepten. Zur Vorlage des Freskos hatten die Künstler Gemälde von Lord Veranas und Marbuk genommen, und ihren kalten Mienen eine ganz besondere Art von Leben eingehaucht. Die Form von Entsetzen nämlich, wenn einem Menschen sein eigenes, unausweichliches Ende deutlich in den Augen abzulesen ist, man nur noch den brennenden Wunsch in ihnen sehen kann, dem Tod doch noch ein Schnippchen zu schlagen. Vollkommene Verzweiflung gepaart mit unbändiger Wut, unbändigem Lebenswillen! Den Anblick der rotglühenden Augen und die zu Angstfratzen entstellten Gesichter hatte Greganor nicht lange ertragen können. Er mochte das Bild nicht, hatte es nur ein einziges Mal genauer betrachtet, denn es war keine Genugtuung am Verscheiden dieser Unmenschen, die er beim Studium dieses Bildes empfand, sondern nur der Schmerz, dass sein Freund auch auf diese Weise sein Leben verloren hatte!
Jannicks Tod hatte man auf keinem Bild in ganz Loriélien dargestellt, das hatten Lalilia und Greganor sich verbitten lassen. Doch hatte dieses Verbot inzwischen ganz eigene Blüten im Sagenschatz des Volkes treiben lassen, das eine gute Geschichte weit mehr schätzte, als die unbeschönigten Fakten. Einige Stimmen hatten zu raunen begonnen, dass weder die junge Königin noch der König an das Ableben ihres Freundes glaubten! Diese Sage war anscheinend auf so interessierte Hörerschaft gestoßen, dass es inzwischen bei einem kleinen Teil der Bevölkerung Loriéliens als gesicherte Tatsache galt, das Jannick mit dem Leben davon gekommen war. Auf der anderen Seite jährte sich bald der Tag seines Ablebens und der anderen Adepten, der offiziell zum Tag der neuen Friedensordnung in Loriélien erklärt worden war: auch die Skeptiker würden seinen Todestag feiern. Greganor schüttelte den Kopf, das Volk wollte Märchen, das Volk brauchte Märchen und vielleicht, so dachte der traurige König jetzt, brauchte er sie auch.
Eine Veränderung trat im Thronsaal ein, erst unmerklich doch dann rapide begann das Licht in dem riesigen Raum zu schwinden. Zuerst glaubte Greganor, es läge an der Sonne, die wieder von grauen Winterwolken erstickt worden war, aber ein Blick durch die mächtigen Bogenfenster zeigte ihm, dass der orange Feuerball noch schien! Greganor blinzelte, rieb sich rasch die Augen und schaute erneut in den Abendhimmel und dann nach den hellen Kristallüstern an der Decke, aber tatsächlich: mit jedem Lidschlag schwand etwas Helligkeit aus dem Raum. Ein weiterer Blick verriet ihm, dass auch ein paar seiner Diener und Ritter es bemerkt hatten, die sich ähnlich verunsichert umsahen. Es wurde dunkel, kurz vor der Dämmerung wurde es dunkel! Es war, als schrumpfe der Lichtkreis aller Kerzen, als würden sie immer weniger ihre Umgebung erhellen, bis sie sich am Ende nur noch selbst beleuchten würden. Gleich einem Kerzenlicht unter einer Buntglasglocke mit Rauchabzug, das nur die Glocke selbst erhellt, nicht den Raum um sie herum.  
„Was zum Henker...“, fluchte Greganor flüsternd und erhob sich. Die Ritter seiner Leibgarde fassten ihre Hellebarden fester um die Stangen und die Dienstboten wirkten verunsichert.
Plötzlich donnerte das geschlossene Flügeltor, als hätte ein Riese dagegen geschlagen und ausnahmslos alle im Saal Anwesenden fuhren vor Schreck zusammen. Greganor vernahm jetzt einen Wind, der gegen das Flügeltor blies, was vollkommen unmöglich war, denn dahinter lag ein langer Korridor, dessen Fenster man ebensowenig öffnen konnte, wie die des Thronsaales.
Ein zweites und ein drittes donnerndes Klopfen ließ das Tor erzittern, als stoße ein Rammbock dagegen. Die Diener entfernten sich aus dem Raum und die Eisenmäntel sammelten sich nun und richteten ihre Hellebarden in Richtung des Tores.
Der Wind gegen das Tor war angeschwollen, als es ein drittes mal unter mächtigen Stößen erzitterte.
Etwas donnerte wieder mit lähmenden Abständen gegen das Tor, dass Greganor nicht wusste, ob jeweils dem letzten Schlag noch einer folgen würde, bis das schlotternde Tor schließlich mit dem bislang gewaltigsten, siebten Stoß, aufsprang. Die Torflügel flogen nach beiden Seiten auf und herein blies ein orkanartiger Wind, der Hunderttausende Blätter braunroten Herbstlaubes in den Thronsaal wirbelte. Greganor hielt nun seinen Anderthalbhänder wieder in den Fäusten, der direkt hinter seinen Thronsessel geschnallt war. Das Rauschen des Windes, eben noch gedämpft durch das Tor, heulte jetzt durch den ganzen Saal, ließ die Kerzen bedenklich flackern und verteilte die Blätter in jeder Niesche. Mit zusammengekniffenen Augen starrten alle auf das Tor, aber dahinter stand Niemand!
So unheimlich und unangekündigt, wie der Wind gekommen war, verebbte er plötzlich wieder und das Laub legte sich an jeder Stelle des Saales einen halben Schritt hoch nieder. Der Wind schien nur aus jener einzelnen Orkanböe bestanden zu haben, die die Blätter in den Saal getragen hatte. Es war wieder still im Schloss! Auch die bedrückende Dunkelheit wich jetzt wieder, die Kerzen schienen wieder heller zu brennen und auch das Licht der Sonne gewann wieder an Kraft.
Greganor ließ seine zum Hieb erhobene Schwertspitze wieder sinken, starrte aber immer noch angespannt und unsicher gegen das offene Flügeltor. Auch seine Ritter gaben sich mit dieser Erklärung - die ihnen wohl ebenfalls zu dürftig erschien - nicht zu frieden und hielten ihre Hellebarden noch gefechtsbereit in den Panzerhandschuhen. Es war wohl kaum ein Haufen Blätter, der gegen die Türe gedonnert war und das Schloss gesprengt hatte, wie ein Felsbrocken! Schweigen herrschte im Saal und das einzige, was Greganor hörte, war sein eigener, leicht beschleunigter Atem, als wäre der Saal leer! Es blieb still.
„Das kann doch nicht sein,“ sagte er in einer eigenartigen Stimmung zwischen Wut, Zweifel und Freude. „Das ist...“ sprach er weiter, als ein markerschütterndes Krachen, die Stille zerriss! Ein Donner, als befänden sie sich mitten in der Gewitterwolke. Ein paar Rittern der Leibgarde fielen die Spieße aus den Händen und Greganor beinahe sein Schwert. Eine kleine Windhose bildete sich jetzt keine drei Schritte vor ihm, welche rotbraune Blätter in die Höhe zog und so dicht war, dass man sie nicht durchblicken konnte, bis nach kaum zwei Lidschlägen zusammenfiel.
Die Blätter rieselten herab und an der Stelle der kleinen Windhose stand ganz unspektakulär in ärmlicher Kleidung ein lächelnder Mann, dem die Tränen in den Augen standen.
Der Anderthalbhänder fiel Greganor haltlos aus tauben Fingern. Er starrte die Treppe zu seinen Füßen hinab und konnte nicht fassen, wen er dort sah. Er öffnete den Mund, um den Mann anzusprechen, aber seine Zunge war belegt, dass er keinen Ton heraus brachte.
Der Fremde inmitten des bunten Blätterberges kämpfte mit den Tränen, sprach jedoch als erstes mit wackliger Stimme: „Willst du deinen alten Freund nicht begrüßen?“
„Jannick, du bist doch tot!?“ hörte Greganor sich krächzen, ging aber den ersten Schritt die Stufen hinab auf den Mann zu.
Jannick schüttelte langsam den Kopf.
„Wie kann das sein?“ sagte Greganor, eilte jetzt schneller die Treppen hinab und spürte sein Herz hämmern. Als er ihn erreicht hatte, schloss er seinen Freund ohne Überlegung so fest in die Arme, als wolle er feststellen, ob diese Erscheinung auch handfesten Druck noch standhalten konnte, ohne sich einfach wieder aufzulösen. Jannick löste sich nicht auf.
„Ich war nie tot,“ lachte sein Freund nun unter Tränen, als er ihn wieder freigab. „Nicht einen Moment!“ Der Adept wischte sich die Augen: „Ich war aber nicht weit davon entfernt und habe mir in jenen Tagen oft gewünscht, es zu sein, so schwach war ich!“
„Wo warst du?“ rief ihn Greganor im lauten, wütendem Ton an, als er sich immer mehr der Tragweite dessen, was gerade geschah, bewusst wurde.
„Fort,“ lachte Jannick jetzt. „Wo ich war, ist tatsächlich die richtige Frage. Bringe mir einen Atlas und ich werde es dir zeigen!“
„Ich verstehe das nicht!“ kläffte Greganor und boxte seinen Freund gegen die Schulter, als könne er so die Wahrheit aus ihm schneller heraus holen.
„Ich werde dir alles erzählen, später! Zuerst muss ich Ran sehen! Geht es ihr gut?“ Jannicks Augen blickten flehend, als könnte er keine schlechte Antwort auf seine Frage verkraften, ohne auf der Stelle dahinzusiechen. Greganor hielt einen Moment die Luft an, dann lächelte er: „Ja! Es geht Ran gut! Es geht ihr sogar sehr gut!“
„Wo ist sie!“
Greganor legte den Arm um seinen Jannicks Schultern und schob seinen widerwilligen Freund die Treppen zu den Thronsesseln hinauf: „Sie ist nicht hier, Ran ist bei Grasa. Ran und euer Sohn!“
Jannick blieb wie angewurzelt stehen.
„Unser Sohn?“ weinte er mit dünner Stimme.
Greganor lachte jetzt donnernd und grinste über beide Ohren, als er mit nicht unerheblicher Anstrengung Jannick weiter auf die Geheimtür hinter den Thronsessel zuschob: „Wirst du jetzt wohl vorwärtsgehen!“ gebot er. „Du genießt inzwischen und völlig ungerechtfertigt den Ruf eines Helden, Mann! Wie kommt das denn an, wenn du hier heulst, wie ein Waschweib.“
„Ich muss sofort zu ihr!“ sagte die bebende Stimme seines Freundes. Jannick wollte sich aus seinem Griff befreien, aber Greganor lenkte ihn unbarmherzig weiter auf die schmale Tür zu.
„Nichts da, erst kommst du mit und begrüßt Lalilia. Machst hier so einen Krach und Wind um deine Rückkehr und willst dich dann gleich wieder dünn machen? Da hast du dich aber geschnitten!“
„Versteh doch, ich muss zu ihr!“ meinte Jannick noch, als Greganor ihn bereits durch die Türe zu den königlichen Privatgemächern stieß.
„Heute geht’s du nirgendwo mehr hin!“ knurrte er ihn an und wandte sich dann wieder dem unter Laub begrabenen Thronsaal zu. Vierzig paar Augen unter schweren Stahlhelmen blickten verständnislos zu ihm hinauf.
„Was steht ihr da so herum, wie ein paar Bäume im Blätterwald?“ rief Greganor im militärischen Ton seinen erstarrten Leibgardisten zu, um sie wieder in die Wirklichkeit zurück zu holen.
„Sorgt dafür, dass aus diesem Saustall wieder ein Thronsaal wird! Und noch etwas: Ihr habt nichts gesehen, Ritter, das ist ein Befehl! Wenn ich irgendwie mitbekommen sollte, das irgendwo irgend jemand über einen heimgekehrten Freund des Königs spräche, werdet ihr alle ohne Ausnahme versetzt! Dann könnt ihr als Hafenarbeitern in Talmkamm Schiffsladungen löschen, oder die Kanäle und Latrinen von Gnossas eigenhändig reinigen! Ich stehe zu meinem Wort. Für sämtliches - noch im Verborgenen anwesendes - Dienstpersonal gilt selbstverständlich das Selbe!“
Greganor lachte: „Wenn nur einer redet, trifft es alle, also haltet eure Münder geschlossen und macht eure Arbeit! Ich bin heute für niemanden mehr zu sprechen! Befehl zur Kenntnis genommen?“
Die Eisenmäntel salutierten jetzt: „Jawohl, eure Majestät,“ hallte es ihm entgegen.
Der König nickte ihnen nur zu, trat dann auch durch die Geheimtür und warf sie geräuschvoll ins Schloss. Zwei hellblau leuchtenden Augen glitzerten ihn im fahlen Licht des Geheimganges an: „Wie heißt mein Sohn?“
„Arn!“ lachte Greganor laut, drückte sich eine Freudenträne aus dem Auge und stieß Jannick vorwärts durch den Gang. „Arn, und er soll deine Augen haben, schreibt Ran!“

„Du lässt dir jetzt einen Bart wachsen?“ schmunzelte Jannick mit der für ihn so charakteristisch spöttischen Miene, die Greganor eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr zu sehen bekommen hatte. Jannick führte mit beiden Händen den Tee an seine Lippen und schlürfte lautstark einen großen Schluck.
Greganor fasste sich mit gespieltem Stolz an seinen üppigen schwarzen Vollbart: „Ganz recht! Weißt du, ich dachte, jetzt, wo ich König eines Landes geworden bin, würde mir so ein Bart mehr Majestät und Würde verleihen!“
„Würde? Ich weiß nicht,“ murmelte Jannick und schlürfte einen weiteren Schluck Tee. „Jetzt siehst du aus, wie ich in einer Kindergeschichte einen Waldschrat, einen Einsiedler beschreiben würde.“
Greganor zuckte nur mit einem breiten Grinsen die Schultern. Er konnte es immer noch nicht fassen, mit wem er sich gerade unterhielt!
„Wo steckt eigentlich Lalilia? Ist sie nicht hier im Schloss?“ wollte sein abgemagerter Freund wissen.
„Sie kommt erst morgen gegen Mittag aus Bärental zurück. Wir haben in unserer kurzen Zeit als Monarchen Loriéliens bereits das ganze Land bereist! Aber genug davon!“
Greganor, der die ganze Zeit in den königlichen Privatgemächern nur auf und ab gelaufen war, zwang sich jetzt Jannick gegenüber Platz zu nehmen. Allein die Finger seiner Rechten trommelten noch auf sein Knie, aber nicht in angestrengter Langeweile, wie im Thronsaal, sondern in nervöser Aufregung: „Wir haben uns über so viel zu unterhalten, aber es gibt da gewisse Prioritäten! Ich möchte zuerst wissen, welchem Umstand ich es verdanke, dich jetzt lebendig vor mir zu sehen!“
Jannick seufzte mit einem immer breiter werdenden Lächeln, schlürfte noch einen Schluck aus seiner Tasse und lehnte sich dann genüsslich langsam in den moosgrünen Lehnsessel zurück.
„Nun,“ fragte Greganor in aufkeimender Ungeduld, „Was ist? Wieso sind die anderen Adepten von der Vulkanmagma zermalmt und verbrannt worden, und ich muss mir hier dein selbstgerechtes Grinsen ansehen, als hättest du nie daran gezweifelt, dass es natürlich so kommen würde?“
„Oh, missdeute mein Lächeln nicht: Ich glaube, es war niemand überraschter, als sich selbst, dass ich mit dem Leben davon gekommen bin. Ich sehe nur schon mit einigem Abstand auf diese Feststellung zurück und kann allein deshalb darüber lächeln!“
„Jetzt versuche es nicht auch noch spannend zu machen, Mensch!“ Greganor sprang wieder auf die Beine und rang mit den Händen: „Wir konnten in dem Qualm nicht erkennen, ob dich die Lava erreichte, aber niemand hat aus der Wolke schwarzen Rauches etwas emporsteigen sehen! Außerdem,“ überlegte er, „warst du doch viel zu schwach, um dich noch in einen Vogel zu verwandeln. Es ist dir doch auch keine Zeit dazu geblieben, die anderen Adepten haben doch auch alles versucht, um sich zu retten, aber ein jeder von ihnen wurde von der Lava erfasst, ehe er sich verwandeln konnte!“
„Es stimmt;“ grinste Jannick, „weder hatte ich die Kraft, noch die Zeit, mich zu verwandeln und zu entkommen.“
„Also?“ fragte Greganor und sah Jannick durchdringend an.
„Ich fürchte, ich muss etwas ausholen,“ gestand Jannick und stellte die Tasse vor sich auf den runden Teetisch. Greganor warf die Hände in die Höhe und stöhnte.
„Der Tee ist übrigens ausgezeichnet, wie heißt die Sorte?“
„Was weiß ich,“ knurrte Greganor.
„Erinnerst du dich an die Geschichte aus meiner Kindheit, in der ich noch bei meinen Eltern wohnte und Geschirr abspülen musste?“
„Ich hoffe, das führt zu etwas!“ grummelte Greganor und warf sich wieder in seinen Lehnsessel auf der anderen Seite des Teetisches.
„Ich sollte also die Tonteller spülen, war aber so wütend darüber, dass ich sie Kraft meiner Gedanken einfach fortgewünscht habe. Sie waren jedenfalls plötzlich verschwunden und nichts, als ein hauchfeiner Staub fand sich anstelle des kleinen Tellerstapels!“
Greganor kratzte sich am Hinterkopf, er meinte sich an diese Geschichte erinnern zu können. „Weiter!“ forderte er.
„Ich dachte lange Zeit, ich hätte die Teller in meiner Wut zerstört. Dem war tatsächlich auch so, denn die Staubreste rührten von den Tellern her, aber es war noch ein anderer Effekt eingetreten, ein sehr nützlicher, wie meine Lebendigkeit wohl anschaulich beweist!“
„Dein Vater hat einige Teller wiedergefunden,“ platzte jetzt die Erinnerung aus dem erfreuten König heraus.
„Ja, er fand, weit vom Haus entfernt, an verschiedensten Stellen Teller wieder. Immer in Gebieten, und das ist das Wichtigste, in denen es lehmige Erde gab!“
„Was soll das heißen?“
„Du weißt, dass die Adeptenkräfte nur Dinge manipulieren können, nichts aber erschaffen, dass irgendeine Masse hat. Ich kann Illusionen erschaffen, aber nichts, dass wirklich existiert, dazu brauche ich irgendein Material!“
„Aber du kannst doch Feuer in der Luft entstehen lassen!“ entfuhr es Greganor.
Jannick nickte: „Ich vermute, das etwas in der Luft enthalten ist, dass brennen kann. Vielleicht kann dir dein Bruder Grasa mehr verraten, er beschäftigt sich doch mir Gasen und Chemikalien. In der Luft, oder der Luftfeuchtigkeit muss etwas sein, dass aufgespalten und wieder zusammengefügt, Energie in Form von Feuer entstehen lässt! Nichts anderes bewirken meine Kräfte ja, wenn ich Dinge forme: ich zersetzte Material, um es wieder anders zusammenzufügen!“
„Was hat das mit den Tontellern zu tun?“
„Ton besteht aus gebranntem Lehm, und der Boden, wo sich die einzelnen Teller fanden, war lehmig!“
„Du glaubst also, dass sich in dem Moment, wo die echten Teller zu Staub zerfallen sind, an den anderen Stellen sich aus dem Lehm Kopien von ihnen gebildet haben? Von ganz allein?“
Jannicks Grinsen entblößte fast alle seine Zähne: „Ganz Recht! Ich habe sie ja damals nicht vernichten, sondern nur verschwinden lassen wollen. Das heißt - und ich hoffe, du kannst mir folgen - ich habe ihre Form an ihrem alten Platz ausgelöscht, nicht aber ihren Stoff! Aus den Tontellern wurden wieder ihre Bestandteile: Staub und Feuchtigkeit. An anderen Stellen der Gegend nun, wo Staub von der gleichen Zusammensetzung, wie die der zerstörten Tonteller sowie auch Feuchtigkeit vorhanden war, bildeten sich exakte Kopien der Teller!“
„Also haben an willkürlichen Orten, an denen der Stoff für Tonteller vorhanden war, die Teller wieder ihre zerstörte Struktur zurückgewonnen?!“
„Ja, der Stoff der zerstörten und neue entstandenen Teller hat sich nicht von der Stelle bewegt, nur die Struktur ist von einem Ort an den anderen gewandert!“
„Das heißt,“ Greganor stieß Jannick unsanft seinen rechten Zeigefinger in die Brust, „das diese Struktur, wenn ich deinen Körper so nennen darf, also an einem anderen Ort wieder entstanden ist, weil du dich `weggewünscht´ hast?“ Er sah Jannick fassungslos an.
Jannick stärkte sich noch mit einem weiteren Schluck Tee. „Als die Lava auf mich zustürzte, ich mich kaum noch auf den Beinen und die Augen kaum noch offenhalten konnte, versuchte ich nicht zu entkommen! Es war mir klar, dass ich nicht würde fliehen können! So strengte ich unbewusst den letzten Rest meiner verblieben Phantasie an und träumte mich inbrünstig an einem Ort, an dem ich leben würde, an dem ich nicht in Bruchteilen eines Augenblicks von brennendem Gestein ausgelöscht werden würde! Eine ganz natürliche Reaktion, wie ich finde.“
„Anscheinend nicht,“ lachte Greganor, als er bemerkte, dass er einen Moment lang die Luft angehalten hatte. „Du warst der einzige deiner Adepten Bruderschaft, der so reagierte! Ich habe die anderen verbrennen sehen!“
„Vielleicht wollten sie gar nicht entkommen,“ sagte Jannick jetzt lapidar. Er musste wirklich schon einigen Abstand zu den letzten Augenblicken des großen Krieges gewonnen haben, dachte Greganor nur.
„Vielleicht wollten sie in ihrem brennenden Hass bleiben, mich vernichten, euch vernichten!“ lächelte Jannick fröhlich. „Sie wollten nicht fort, sondern kämpfen und töten: sie wollten Rache!“
„Und wo bist du gelandet? Ich meine: wo hat sich deine Struktur neu aus Staub, Wasser und der Grütze in deinem Schädel zusammengesetzt?“ lachte Greganor jetzt lauthals.
Jannick seufzte: „In einem Land namens Kinkardine, weit südlich der Länder, die sich auf unseren neusten Atlanten finden! Aber das ist eine ganz andere Geschichte! Nur so viel: ich habe zunächst nicht viel davon mitbekommen! Der Mann, dessen Barmherzigkeit ich mein Überleben verdanke, erklärte mir Wochen später mit Händen und Füßen in fremden Worten, er hätte mich bewusstlos in verbrannter Kleidung auf einer Insel im Moor aufgefunden. Er brachte mich mit seinem Boot zu seiner Familie und sie pflegten mich lange Zeit, bevor ich wieder ansprechbar war. Ich in habe fast vierundzwanzig Stunden am Tag geschlafen, konnte gerade so lange wachgerüttelt werden, dass sie mir schlückchenweise etwas Wasser beizubringen vermochten. Nur der Fürsorge und Heilkunst dieser freundlichen Menschen ist es zu verdanken, dass ich jetzt hier mit dir Tee trinken kann.“
„Das ist in der Tat eine unglaubliche Geschichte,“ murmelte Greganor. „Du wärst also jederzeit wieder in der Lage, dich an...wie soll ich sagen...an einen anderen Ort zu versetzten?“
„Vielleicht,“ Jannick wiegte seinen Kopf hin und her, „vielleicht auch nicht. Das ich so weit ab von der Ebene von Messaton erst wieder Struktur gewonnen habe, kann bedeuten, dass die spezielle Zusammensetzung eines Menschen weniger häufig auf der Erde auftritt, als die eines gewöhnlichen Tontellers. Die Teller fanden sich schließlich alle in der Nähe meines Elternhauses! Vielleicht würde mich ein weiter Ortswechsel für immer auslöschen. Ich bin jedenfalls nicht gewillt, es nur für eine Bestätigung dieser Fähigkeit ein weiteres Mal auszuprobieren!“
„Verständlich,“ murmelte Greganor und kratzte sich seinen Vollbart. „Zu deinen Rettern...“
„Nein,“ schnitt sein ausgezehrter Freund ihm die Frage ab: „Du wirst verstehen, dass es momentan ganz andere Personen und Ereignisse sind, die mich interessieren. Morgen werde ich dir zu allem Rede und Antwort stehen, aber jetzt lass uns feiern! Erzähle du mir, wie es euch nach dem Krieg erging und komme ja nicht auf die Idee, du könntest auch nur eine einzige Sache zu detailliert beschreiben!“
„Nur eines noch, bevor ich uns das Beste bringen lasse, was Küche und Keller unseres Königshauses zu bieten haben, und ich dir alles erzähle,“ verlangte Greganor. „Hast du von diesem irren Mörder gehört, der inzwischen durch Avarien Kimbernia zieht? Es kursieren Gerüchte, es handele sich um einen Adepten!“
„Hah!“ Jannick verzog wenig begeistert den Mund. „Die ganze Angelegenheit ist seltsam, ja. Ob es ein Adept war, werden wir wohl erst später erfahren können, denn er ist untergetaucht. Ich bin unlängst auf denjenigen seiner Verfolger gestoßen, der ihm wohl am nächsten gekommen ist!“
„Wen? Dein Ton lässt vermuten, du kanntest ihn?!“
Jannick schmunzelte jetzt: „Kennen wäre zu viel gesagt: du kennst ihn vielleicht. Ich habe ihn zumindest aber erkannt, sonst wäre er jetzt tot!“
„Wieso das?“ Greganor überlegte, wen sein Freund meinen könnte.
„Dazu muss ich doch noch ein paar Worte sagen,“ seufzte Jannick, „kaum hatte ich das Schiff verlassen, das mich aus den Südländern zurück über das Meer getragen hatte, musste ich feststellen, dass mein Konterfei an mehr als einem Ort zu sehen war.“
„Freilich,“ lächelte Greganor, „du bist jetzt so etwas, wie eine Berühmtheit. Die Repliken deines Gemäldes aus unserer Heimat Neuschaffenburg fanden weite Verbreitung, als bekannt wurde, dass du dich geopfert hast, um gleich alle verdammten Adepten auf einmal auszulöschen!“
„Jedenfalls hatte ich ein gewisses Interesse daran, nicht aufzufallen. Schließlich wollte ich der erste sein, der Ran, dir und Lalilia von meinem Überleben erzählt!“
„Und es entsprechend dramatisch gestalten kann,“ fügte Greganor grinsend hinzu.
„Ich ging also auf Nummer sicher, zumal mir auch Gerüchte bekannt wurden, dass ich angeblich davongekommen wäre! Blödes Volk!“
„Aber du bist davon gekommen!“
Jannick warf ihm nur einen ärgerlichen Blick zu. „So reiste ich nur unter einer Kapuze verborgen und wann immer ich mich von Angesicht zu Angesicht mit jemandem unterhalten musste, trübte ich dessen Wahrnehmung.“
„Und weiter?“
„Gleich, als ich hörte, wer jetzt die Krone in Loriélien trägt, brach ich hierher auf. In einer Stadt namens Jollenburg angelangt - das war vor drei Tagen - kehrte ich in einen Gasthof Namens `Schwarzer Adler´ ein.“
„Ein schöner Name, passend für uns ehemalige Schwarzen Greifen!“
„Du sagst es! Dort rettete mir jedenfalls meine, oft von dir verspottete, Furchtsamkeit das Leben! Ich nahm gerade mein Abendessen zu mir, als ein anderer Mann den sonst menschenleeren Raum betrat. Ich schenkte ihm keine besondere Beachtung, auch nicht, als er sich an einem Tisch in meinem Rücken niederließ. Als kurz darauf aber ein weiters Mal die Tür aufging - was sage ich - aufgerissen wurde, erschreckte ich mich!“
„Verstehe,“ Greganor grinste ihn an. „Du Angstbündel lässt deine Haut ja instinktiv hart wie Stahl werden, wenn du dich bedroht fühlst!“
„Zum Glück erwischte mich Cedrick in dem Moment, da der Schreck noch nicht nachgelassen hatte, und auch nicht früher, sonst wäre ich jetzt Mausetod!“
„Cedrick, der kleine Beschützeranwärter?“ Greganor riss die Augen auf.
„Er wollte mir von hinten den Hals durchschneiden, dein `Kleiner´!“ entfuhr es Jannick übellaunig. „Ich fürchte, der Krieg hat den Jungen, der dir bei eurem Übungskampf so zu schaffen gemacht hat, in einen gnadenlosen Krieger verwandelt! Völlig in Trance ist er mit dem Schwert auf mich eingedrungen, als wäre ich ein Stück Holz und kein Lebewesen. Regelrecht zerhackt hätte er mich. Und als ich ihn schließlich außer Gefecht gesetzt hatte: du hättest seinen Gesichtsausdruck sehen sollen!“
„Wieso, was ist damit, hat er dich erkannt?“
„Nein, eben nicht, ich trug auch in der Taverne meine Kapuze über dem Kopf. Da Cedrick mich nun für den irren Mörder gehalten hatte, lässt sich noch verstehen, wieso er mich in Stücke schlagen wollte. Aber seine Mimik, als er glauben musste, gleich von dem irren Schlächter getötet zu werden, war beängstigend!“
„Hat er dich mit Blicken töten wollen, oder was meinst du?“
„Nein, alles hätte ich verstehen können: unbändigen Hass, Verzweiflung, als auch Todesangst! Aber nichts fand ich in seinem Gesicht, gar nichts! Er sah mich an, als betrachtete er mit dem Blick eines Kenners ein Gemälde an der Wand. Es war einfach nur der Ausdruck abschätzender Gleichgültigkeit! Ich glaube wenn ich seinen Gliedern die Bewegungsfreiheit zurück gegeben, ohne ihm vorher meine wahre Identität zu enthüllen, er hätte sich gleich die nächste Waffe geschnappt, um mich doch noch in Stücke zu schlagen!“
Greganor schaute seinen Freund ernst an: „Wo ist der Junge jetzt? Hast du ihn mitgebracht?“
„Nein, sein Auftrag war, den Mörder zu finden, aber die letzte Spur hatte Cedrick schon knapp vor Jollenburg verloren und dieser irre Meuchler hat sich seit dem ruhig verhalten. Vielleicht erwischt Cedrick ihn ja noch, das ist zu hoffen. Für den Fall, dass er aber keinen Erfolg haben sollte, riet ich ihm, hierher zu kommen, weil wir gemeinsam bessere Chancen haben würden, den Mörder zu erwischen!“
„Kannst du dir denken, wer es ist? Ich meine, glaubst du, es ist ein Adept? Und wenn: welcher?“
„Bislang habe ich nur eine Vermutung, die ich mich nicht einmal vage als vage zu bezeichnen.... Ich behalte sie im Hinterkopf, aber von dieser fixen Idee einmal abgesehen, habe ich nicht die geringste Ahnung, wer warum mordend das Land heimsuchte! Es wird wohl weitere Tote geben, bevor wir etwas unternehmen können!"
„Wir? Von wem sprichst du? Du willst zu Ran und zu deinem Sohn und ich bin der König des Mittelreiches!“
Jannick huschte jetzt ein schelmisches Lächeln auf die Lippen: „Oh ja, sicher!“
„Was soll das heißen?“ brummte Greganor. „Ich weiß nicht, was du machen willst, wenn du Ran und euer Kind in die Arme nehmen konntest. Wenn dir irgendwann nach Monaten doch das Dach auf den Kopf fällt vor Langweile. Aber ich habe eine Aufgabe!“
„Wolltest du uns nicht Essen bringen und kühles Nass kredenzen lassen?“ lächelte sein abgezehrter Freund.
„Du kannst nicht einfach wir sagen! Meinst du etwa, ich hätte nichts Besseres zu tun, als mich persönlich auf die Suche nach einem Mörder zu machen? Am Ende glaubst du auch noch, ich begleite dich auf der Reise nach Kantila, weil ich meinen Bruder wiedersehen möchte?“
„Ich habe nichts dergleichen gesagt,“ grinste Jannick. „Habt ihr auch Geschnetzeltes anzubieten, ich habe monatelang keines mehr gegessen!“ Der Adept erhob sich und wandte ihm den Rücken zu.
„Hör mal, Jannick!“ rief Greganor ihn jetzt mit steigender Verärgerung hinterher, bevor er sich ebenfalls erhob. „Ich habe hier täglich wichtige Besuche! Allein heute habe ich wegen dir vier Empfänge abgesagt, die ich alle nachholen muss. Unser Land kann mich hier kaum einen Tag entbehren!“
„Du solltest etwas essen, du hast bestimmt einen leeren Magen und bist deshalb so schlecht gelaunt!“
Greganor erwischte sich jetzt dabei, dass er Jannick sogar hinterherlief und seinen Blickkontakt suchte, als sein Freund durch die Räume wanderte und die Einrichtung begutachtete: „Jetzt tu nicht so, als würdest du nicht zuhören,“ Greganor blieb demonstrativ stehen. „Es ist nicht mehr wie damals, als ich für deinen Schutz zu sorgen hatte! Nimm von mir aus Cedrick mit, aber erwarte nicht von mir, dass ich hier meine Pflichten und Lalilia um Stich lasse!“
„Lalilia und deine Pflichten, meintest du wohl!“
„Richtig! Nein! Meine Pflichten, ich bin der König!“
„So? Jannick drehte sich ihm jetzt doch zu, sagte nichts weiter, sondern musterte Greganor nur mit einer amüsierten Miene von den Zehen an aufwärts, wobei er sein Blick sich mit den Schuhen und der Hose besonders viel Zeit ließ.
„Das ist meine Amtstracht, also gucke nicht so blöd! Ich könnte mir auch vorstellen, bessere Kleidung zu tragen, aber so ist es eben! Ich habe einfach keine Zeit wieder zu reisen! Als König und als Ehemann habe ich eben nicht mehr die Muße, durch das Land zu ziehen, um meine Freunde und Verwandten zu besuchen!“
„Als Ehemann und König wolltest du sagen!“ grinste Jannick.
„Was soll das für ein Spiel sein, was du da treibst!“ bellte Greganor ihn jetzt zornig an.
„Kein Spiel,“ lachte Jannick, „ich höre dir nur gerade neugierig zu, was du dir alles für Erklärungen geschaffen hast, dein schlechtes Gewissen zu beruhigen, so lange hier am Hofe herum zuhängen!“
„Und deine Neunmal Klugheit kannst du dir erst recht schenken!“
„Wenn ich dich recht verstanden habe,“ lächelte Jannick in honigsüßem Amüsement, „dann plagt dich dein Gewissen, weil du seit fast einem Jahr nur in deiner Funktion als Repräsentant an Lalilias Seite durch Loriélien gezogen bist. Für jeden Hinz und Kunz Zeit finden konntest, aber deine eigenen Verwandten, deine Lebensretterin Ran und ihr Kind nicht besucht hast. Tag ein, Tag aus zwängst du dich in diese weibischen Strumpfhosen samt diesen lächerlichen Pantoffeln, lächelst den ganzen Tag, als wäre dir danach, und träumst doch nur davon, dich für einige Zeit dünn machen zu können. Natürlich würdest du damit Lalilia verraten, deshalb unterdrückst du diesen Wunsch und magst erst recht nicht auf ihn angesprochen werden! Es sind nicht deine - wie auch immer gearteten Pflichten - als Monarch, die dich hier bei Hofe halten, sondern die Angst davor, Lalilia zu sagen, dass du sie zwar über alles liebst, aber es im Palast nicht mehr aushältst!“
Greganor wollte wütend etwas Findiges erwidern, hörte sich aber nur ein überranntes Grummeln ausstoßen. Wie sollte man jemanden bezwingen, der einem nicht nur die eigenen Waffen unter die Nase reibt, sondern dir auch noch verrät, wo sie dir abhanden gekommen sind?
„Warum besprechen wir nicht alles Weitere beim Essen?“ lächelte Jannick ihn an.
„Ich habe noch nicht einmal meine eigene Nichte gesehen!“ gestand Greganor jetzt murmelnd.
„Ja?“ lachte sein Freund. „Ich habe einen Sohn geschenkt bekommen und du eine Nichte? Was ist der beste Wein, den ihr in Loriélien im Hofkeller habt?“
„Sternseetaler, selbstverständlich!“ Greganor blickte erst zu Boden und dann seinem Freund in die Augen: „Ich habe deine Neunmal Klugheit vielleicht doch vermisst, du Schwätzer! Ich werde hier bei aller Liebe zu Lalilia noch verrückt mit all den Laffen und Gecken! Aber es muss erst mein tot geglaubter Freund und Bruder zurück kommen, bis ich das merke!“
„Ich habe auch meinen Freund und Bruder, den ehrlichsten - weil am leichtesten zu durchschauenden - Menschen Kimbernias vermisst!“
„Aufschneider!“
„Kindskopf!“
„Besserwisser!“
„Barbar!“
„Klugscheißer!“
„Vier Flaschen?“
„Und was soll ich trinken?“ lachte Greganor. Er klopfte Jannick auf den Rücken: „Komm, wenn ich nicht bald was zu Trinken bekomme, werde ich noch sentimental und heule dir vor, wie arm so ein König doch dran ist!“
„Dann drängt die Zeit wirklich! Gehen wir mit Abstecher zur Küche gleich in den Weinkeller?“
„Dachtest du, ich habe vor, hier mit Silberbesteck von marmoriertem Porzellan zu dinieren und den guten Wein aus Kristallgläsern mit Stil und Reichswappen zu nippen?“
„Woher soll ich das denn bitte wissen?“ grinste Jannick und bekam dafür Greganors Flache Hand über den Hinterkopf gezogen.

                          Arminius:
„Eure Majestät, hier ist eure bestellte Honigmilch!“ Arminius machte einen tiefen Diener und balancierte das Silbertablett so geschickt dabei, dass die Oberfläche der dampfenden Flüssigkeit in den beiden Porzellantassen kaum vibrierte. Hier draußen im Schloßpark lag die Temperatur nur knapp über dem Gefrierpunkt und auf dem sauber gestutzten Rasen glänzte eine dicke weiße Schicht Reif in der Mittagssonne. Die niedrige Wintersonne blendete ihn, als Arminius das Gesicht seines Dienstherren treusorgend anblickte.
„Danke, Mundschenk,“ sagte der König, ohne ihm in die Augen zu sehen. König  Greganor nahm beide Tassen von dem Tablett und reichte eine an seinen Freund weiter. Arminius betrachtete die beiden Männer mit unauffälliger Eilfertigkeit.
„Es geht doch nichts über eine heiße Honigmilch bei einem zünftigen Kater!“ lachte sein König.
„Ich weiß nicht,“ der andere Mann wandte die heiße Tasse in seinen Händen hin und her, „es wäre zumindest wünschenswert, dass sie –einmal im Magen- diesen auch wieder auf regulärem Wege verlässt!“
Der König lachte nur, zog seine laufende Nase hoch und trank erste Schlucke der brühheißen Milch, wie ein Verdurstender wohl kaltes Wasser in sich hinein schütten wird. Auch würde es dem König bald so ergehen, wie dem Verdurstenden: er würde sich den Bauch halten vor Schmerzen!
„Eure Majestät, wenn ihr erlaubt, werde ich mich zur Verfügung halten, und euch Herren die leeren Tassen gleich abnehmen, wenn ihr sie über habt,“ lächelte Arminius diensteifrig und ein wenig einfältig. „Auch stehe ich dann zur Verfügung, wenn ihr weitere Wünsche habt,“ fügte er noch hinzu, um sicher zu gehen, dass der König ihn nicht fort schickte.
„Gut, Mundschenk.“ Wieder hatte ihn der König nicht angesehen.
Arminius verbeugte sich ein weiteres Mal: „Eure Majestät!“ Er nahm dann vornehmen Ganges einige Schritte Abstand zu den beiden Männern.
„Es ist lausig kalt heute Morgen, nicht?“ grunzte der König jetzt, da Arminius nicht mehr in unmittelbarer Nähe stand, und sein Dienstherr scheinbar auf Etikette keinen Wert mehr legen wollte.
Der andere Mann, der einen schweren und nicht wenig abgenutzten Reisemantel trug, lachte nur unter seiner Kapuze hervor: „In deinen Hosen würde mir auch kalt werden.“
Arminius blickte eisig zu ihnen hinüber und erlaubte sich aus der Entfernung ein süffisantes Lächeln: er kannte die Identität des Fremden, obwohl er sein Gesicht verhüllte!
„Du hast gut lachen!“ knurrte der König den anderen Mann an. „Komm, ich wollte dir im Park etwas zeigen, bevor ich den Schneider rufen lasse, und wir dir ein paar anständige Klamotten verpassen!“
Arminius ließ den beiden Männern einen Vorsprung, bevor er ihnen in diskretem Abstand folgte. Bei dem eiskalten Wetter, das Stimmen im Freien viel weiter trug, könnte er glücklicherweise dennoch jedes Wort verstehen, das die beiden redeten.
Arminius wusste, mit wem sich der König unterhielt. Er wusste auch viel mehr über den König, als dieser sich ausmalen konnte! Er lächelte, als er den beiden Männern in den schönsten Teil des Schlossparks folgte. Es war Arminius spezielle Art zu lächeln, wenn er im Letzten doch noch triumphieren würde. Wenn er mit der Vergangenheit abgeschlossen hatte und sich nun nur noch darauf freute, die Scharten seiner begangenen Fehler in der Zukunft wieder auszuwetzen!
Wäre er nicht so nachlässig und schwach gewesen, befänden sich der König und sein Freund inzwischen dort, wo sie hingehörten: sieben Fuß tief unter der Erde! Seiner Voraussicht und Raffinesse war es zu verdanken gewesen, dass den Adepten damals diese beiden Männer in die Hände gefallen waren, sein Netz war es gewesen, das sich um die beiden zugezogen hatte!
Wäre er nur nicht so schwach gewesen, dem Adepten Wiscon zuzugestehen, den abtrünnigen Adepten Jannick persönlich töten zu dürfen, hätte es den Großen Krieg nicht gegeben!
Die Adepten hätten triumphiert, würden Kimbernia regieren und er, Arminius, wäre mit Reichtümern überschüttet worden! Statt dessen hatte er, der große Kopfgeldjäger, eine Arbeit als Mundschenk des Mannes annehmen müssen, den er hätte schon vor einen Jahr töten können! Damals jedoch hatten Adeptenkräfte das Erscheinungsbild des Königs zu dem eines alten Greises gemacht und auch Arminius war der Täuschung erlegen. Wie jedoch dem gefesselten und eingesperrten Greis die Flucht gelingen konnte, war Arminius bis zum heutigen Tage unerklärlich geblieben.
Wenigstens war er nicht so tolldreist gewesen, noch an einen Sieg der Adepten und ihrer Handlanger zu glauben, als ihre Verschwörung aufgedeckt worden war! Er hatte sich nicht - wie die anderen Ritter seines Ordens - in die Ebene von Messaton begeben, um sich von den Schwarzen Greifen abschlachten zu lassen. Intelligentes Vorgehen bedeutete für Arminius zunächst, seine eigenen Kräfte richtig einzuschätzen. Und als ein Soldat von tausenden sein Leben auf einem Schlachtfeld auszuhauchen war eben nicht sein erklärtes Ziel gewesen. Er war ein außergewöhnlich begabter Mensch, ein großartiger Kopfgeldjäger, ein brillanter Schauspieler, Meister der Täuschung, Folter und Jagd, aber doch nur ein Mensch. Auch wenn er sich auf seine Kampfkunst einiges einbilden konnte, so hätte ihm ein Schwertstreich doch ebenso das Leben gekostet, wie einem der törichten und ungebildeten Bauerntölpel, die sich in ihren Ritterrüstungen wohl unbesiegbar vorgekommen waren.
Nein, Arminius war vor einem Jahr untergetaucht und da niemand, weder Verbündete noch Feinde sein wahres Gesicht kannten, war ihm dies mehr als leicht gefallen. Es hatte ihn einige Mühen gekostet, in den Reichsdienst aufgenommen zu werden und in die Vertrauensstellung als königlicher Mundschenk zu gelangen. Aber wo seine Intelligenz, sein Verhandlungsgeschick und sein Ehrgeiz versagt hatten, war ihm keinen Augenblick lang Skrupel im Weg gewesen, zu anderen Mitteln zu greifen. So war sein Vorgänger recht unspektakulär in dessen Bett gestorben, nachdem ihm eine kleine Dosis Pflanzengift beigebracht worden war, welche noch kein Arzt verstand nachzuweisen.
Auch wäre es Arminius ein Leichtes gewesen, König und Königin zu töten, ob mit Klinge oder Gift, aber wozu hätte er das tun sollen? Nicht Rachegefühle waren es, die ihn all diese Schmähungen als Mundschenk treu erdulden ließen, die ihn dazu bewogen hatten, sich in den Königspalast Loriéliens einzuschleichen! Nein, es ging ihm nur um das Geld, was er verdienen konnte! Ein toter König hatte für ihn keinen Wert, ein lebendiger König aber würde sich als nahezu unbezahlbar erweisen, lächelte Arminius fröhlich. Dafür würde seine Lösegeldforderung schon sorgen, wenn er den Monarchen Loriéliens erst in seinen Händen hatte!
Bis dahin war Geduld seine wichtigste Tugend. Es galt für Arminius den richtigen Zeitpunkt abzupassen, seine untergetauchten Verbündeten wieder zusammen zu rufen und gemeinsam mit ihnen den König zu entführen.
Vielleicht hatten sich doch einige Rachegedanken in seine Ambitionen geschlichen, gestand sich der Kopfgeldjäger ein: die Idee die Königin zu entführen war ihm nämlich keinen Moment lang gekommen! Es musste der König sein, ihn wollte er haben und seine Folterkünste an ihm weiter perfektionieren! Er wollte seinen Willen brechen, ihn winselnd und verunstaltet, in seinen eigenen Exkrementen und seinem Blut vor sich knien sehen! Für das Bubenstück des Königs, ihn zu täuschen und ihm zu entkommen, konnte Arminius sich keine bessere Wiedergutmachung vorstellen.
Seit Monaten wartete der Kopfgeldjäger nun schon darauf, dass der Monarch eine Reise antreten würde, den Königspalast endlich verließ und sich auf unsicheres Terrain begab. Nichts war einfacher für Arminius, als mit seinen Verbündeten ein paar königliche Leibwächter in einem Waldgebiet aufzubringen und niederzumachen. Selbst in einem Gasthaus oder auf offenem Marktplatz war es kein Problem, ein paar Eisenmäntel ohne Vorwarnung zu töten, aber hier im Palast war dies nicht ohne weiteres möglich, ohne Gefahr zu laufen, selbst getötet zu werden.
Arminius durchschritt nun einen Marmornen Torbogen, eingelassen in eine über zwei Schritt hohe winterkahle Hecke. Die beiden Männer und er befanden sich jetzt im wohl prächtigsten Abschnitt des Palastgartens, der im Sommer an den meisten Tagen dem Volk frei zugänglich war. Zu dieser Jahreszeit jedoch, wo die Blumenbeete reifbedeckt und Blütensträucher wie die kunstvoll zu Figuren zurecht gestutzten Bäume kahl waren, blieb der Garten verschlossen.
„Können wir einen Augenblick anhalten,“ vernahm Arminius die gepresste Stimme des Königs und darauf ein leises Lachen des abtrünnigen Adepten.
„Ich glaube, ich habe die heiße Milch etwas zu schnell getrunken, mir ist es ganz elend!“
„Getrunken? Du hast sie in dich hinein gestürzt, wie warmes Bier,“ spottete der Adept.
„Ich muss mich einen Moment hinhocken, fürchte ich,“ stöhnte der König und tat es. Arminius betrachtete die beiden Männer abschätzend. Diesen beiden war es zu verdanken, dass fast sein kompletter Orden, die Ritter der Speerspitze, zerschlagen worden war! Und dass alle mächtigen Adepten ihr Leben verloren hatten! Den König hatte Arminius längst einzuschätzen vermocht: Greganor I. war ein kluger Mann und mächtiger Kämpfer, mit dem Hang sich kindisch aufzuführen und sich gerne zu überschätzen.
Was er jedoch von dem letzten erwachsenen Adepten des Kontinents halten musste, war der Kopfgeldjäger noch erpicht zu erfahren. Um besser planen zu können, wie er ihn unschädlich machen konnte. Nach seinem Auftritt im Thronsaal, ja, nachdem der Totgeglaubte es überhaupt geschafft hatte, zu überleben, konnte Arminius dessen Gefährlichkeit kaum überschätzen!
„Geht es dir besser?“ fragte der Adept nach einer Weile aus dem Schutz seiner Kapuze hervor.
Der König grunzte missmutig, erhob sich aber: „komm weiter! Mein Schädel schmerzt, mir ist übel und wenn wir nicht bald wieder ins Warme kommen, frieren mir noch meine Familienjuwelen ein!“
Sie durchquerten den halben Park bis sie in der Mitte vor einer protzigen Marmorstatue zum Stehen kamen. Die beiden Männer blickten zu dem Bildnis auf ihrem mannshohen Marmorsockel auf.
„Nicht im Ernst, oder?“ lachte der Adept jetzt lauthals.
„Das war nicht meine Idee!“
Der Adept schüttelte den Kopf: „Mir fehlen die Worte!“
„Das Standbild ist auf einen Brocken kalter Magma gebaut, den ich aus der Masse in der Ebene von Messaton gehämmert habe.  Wir hatten sonst nichts, dass wir hätten beerdigen können.“
„Es ist schon eigenartig,“ die kaum zu vernehmende Stimme des Adepten klang rührselig, „so vor seinem eigenen Grab zu stehen!“
„Hast du schon die Inschrift gelesen?“ der König zeigte auf die massivgoldene Tafel am Sockel von zweimal zwei Schritt Ausmaß.
„Jannick dem Adepten, Retter der Reiche, großherzigem und tapferen Freund und Bruder, in Andenken, Greganor I. und Lalilia I.,“ las der Kapuzenträger.
„Du wirst dir doch nicht wieder durch die Augen wischen wollen?“ drohte der König.
„Nein,“ murmelte der Adept, „aber gerührt bin ich.“
„Tja, was sollen wir jetzt mit der Tafel machen? Ich bin nicht so töricht, glauben zu wollen, dass sich deine Rückkehr ganz verheimlichen lässt. Irgendwie werden die Informationen Verbreitung finden, egal, was ich den Rittern und Dienern androhen werden,“ lachte der König.
„Aber offiziell möchte ich lieber verschollen bleiben.“
„Das dachte ich mir und daran wird sich auch nichts ändern.“
„Nur eine Kleinigkeit noch, für die besonders Neugierigen!“ Der Adept wandte sich der Goldtafel zu und Arminius erkannte, dass sich ein Lichtschimmer in einer Ecke darauf bildete und zu wandern begann, wie eine glühend heiße Schreibfeder von unsichtbarer Hand geführt. Der Adept brannte etwas in die Tafel ein.
Als sich das Metall wieder abkühlte, kratzte sich der König am Kopf und schien nachzudenken.
„Die Gerüchte von meinem Überleben werden überschätzt!“ las er langsam. „Dein Humor ist noch der alte,“ grinste der Monarch nun und blickte plötzlich in Arminius Richtung: „Mundschenk, komm her!“
„Sehr wohl, eure Majestät!“ rief Arminius vornehm und dümmlich, ehe er mit langen Schritten auf die beiden Männer zueilte. Er hielt ihnen das lehre Tablett entgegen, um die leeren Porzellantassen zu übernehmen.
„Zu keinem ein Wort hierüber!“
„Eure Majestät, ich habe nichts gesehen!“ versprach er unterwürfig und machte einen tiefen Diener.

                    Tobaskar:
Das Geschrei von einem Schwarm Seemöven, der sich gerade auf den zerklüfteten grauen Uferfelsen niederließ wurde von der salzigen Meeresluft zu Tobaskar hinüber geweht. Die See war genauso grau, wie die Felsen und der ferne Horizont. Giftig grüngraue Wogen brachen sich in weißer Gischt an den Uferfelsen und der Winterwind blies eisig über die Küste.
Hier war er richtig, seine Berechnungen hatten immer und immer wieder auf diesen Flecken Land an der Südküste Avariens hingewiesen, hier würde er IHN finden! Eine angenehme Anspannung ergriff von ihm Besitz. Etwas großes Stand bevor, ein Ereignis, wie es in den letzten zwanzigtausend Jahren nicht statt gefunden hatte! Er, Tobaskar, würde eine neue Epoche der Geschichte Begründen, würde eine längst vergessene Ära, die nur noch im Sagenschatz der Völker Kimbernias existierte wieder zu neuem Leben erwecken!
Tobaskar blickte sich aufmerksam um, betrachtete die nassen Dünen und die Büschel dichten Ufergrases, fand aber keine Merkmale, die ihm seine Suche erleichtern konnten. Dieselben weißgrauen Dünen bin hinein ins Hinterland und dieselben scharfkantigen Felsen vom Ufer bis weit hinein in die Bucht, die es Schiffen unmöglich machten, diese Gewässer zu befahren.
Eine unwirtliche und abgelegene Gegend, die mit Gewissheit schon seit Jahrtausenden niemanden eingeladen hatte, sich hier niederzulassen. Das Wetter an der Südspitze Avariens war rauh, der Himmel meist von dichten Wolken bedeckt und der Boden so sandig, dass man weder gut darauf bauen, noch andere Pflanzen als Kartoffeln anbauen konnte.
Mit großen Schritten durchquerte Tobaskar die Dünenlandschaft. Er war zufrieden mit seinem neuen Körper, seiner neu gewonnenen Gesundheit und Stärke und er hatte gefallen daran gefunden, endlich wieder seine Gelüste auszuleben, wenn ihm danach war.
Es war ein Hochgefühl gewesen, wieder ein paar schwächliche Menschen mit seinen eigenen Händen umzubringen, ihnen die Kehle zuzudrücken, bis sich rote Punkte in ihren Gesichtern bildeten, wie bei Erhängten! Sein neuer Körper hatte solch immense Körperkräfte, dass Tobaskar meist nur einen geringen Teil seiner Adeptenkraft hatte einsetzen müssen, um sich der Figuren zu entledigen, die auf seiner Reise sein Missfallen erregt hatten. Beunruhigend war die Tatsache, dass er immer noch die verbliebene Persönlichkeit des Schwachsinnigen spürte, dessen Leibs er sich bemächtigt hatte.
Wann immer Tobaskar Blutdurst überkommen hatte, war ihm die bis zur Bedeutungslosigkeit unterdrückte Existenz dieses Stumpfsinnigen gewahr geworden. Irgendwo in den Tiefen seines Kopfes war noch der schwache Keim seines Wirtes vorhanden, aber Tobaskars mächtiger parasitärer Geist hatte ihn überwuchert wie gesundes Efeu eine schäbige Ruine. Und er war sich sicher, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er die Überbelibsel des einstigen Geistbesitzers ganz erstickt hatte!
Die Landschaft blieb unverändert, doch der Adept spürte nun eine andere Existenz ganz in der Nähe, die sein frisches Blut in Wallung brachte. Es war ein Gefühl im Magen, dass er nicht recht einzuordnen wusste. Etwas großes, etwas mächtiges befand sich an diesem Ort, eine Kreatur von so uralter und gewaltiger Kraft, dass allein die Nähe zu ihr Tobaskar einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Er schloss seine Augen und konzentrierte sich ganz auf das Gefühl, das ihn überkommen hatte. Nicht mit seinen Augen musste er IHN suchen, er musste vielmehr seine Ängste und seine Macht bemühen, um die Kreatur zu entdecken, von der die Wellen der Furcht ausgingen.
Vor seinem geistigen Auge zeichnete sich jetzt die Dünenlandschaft um ihn herum ab, schwarz und schemenhaft. Tobaskar atmete langsam und regelmäßig tastete gewissenhaft mit seinem Geist die wilde Küstenlandschaft um ihn herum Düne für Düne ab. Die einzigen schwachen Existenzformen aber, die er aufspürte, erschienen ihm wie graue Lichtpunkte vor schwarzen Hintergrund, wie erlöschende Sterne am Nachthimmel.
Dennoch wurde das Gefühl in seinem Magen immer drückender, die wage Angst und erregte Anspannung immer greifbarer, je mehr er sich einer langen Senke in der Dünenlandschaft näherte. Aber als Tobaskar auch hier wieder innehielt, die Augen schloss und seinen Geist die Umgebung abtasten ließ, fand er unter der Senke nichts, dass auf IHN hätte hindeuten können.
„Wo verbirgst du dich?“ murmelte er, öffnete seine Augen und blickte von einer Anhöhe hinab in die sandige Senke tief unter sich.
Tobaskar fixierte mit seinem Blick die regennasse, graslose Senke als eine Welle der Macht seinen Körper plötzlich mit Gänsehaut überzog. Mit aufgerissenen Augen starrte sich der Adept auf seine Unterarme, auf denen sich jedes Haar wie ein Speer aufgestellt hatte, als wolle es sich gegen einen unbestimmten Feind verteidigen.
Sein Herz schlug aufgeregt in seiner Brust. „Hier beginnt es also,“ lächelte Tobaskar. Er atmete tief durch, hob seine Stimme und rief in gestochen scharfen, dunklen Worten den Namen, den seit zwanzigtausend Jahren niemand mehr in den Mund genommen hatte.
„Berkoltesh Tebraka, Fisorennek Shichten, Fertikve Forsha, Skakne Kimbati!“
Momente lang geschah nichts, doch der Druck auf seinen Geist und seinen Magen nahm urplötzlich quälende Ausmaße an und Tobaskar musste seine Muskeln anspannen um nicht vom entsetzten Schüttelfrost überfallen zu werden. Der Sand in der Senke wühlte sich jetzt auf, als ob kleine Krebse im überspülten Uferschlick nach Nahrung gruben. Schneller und schneller zogen sich die wirren Bewegungen, Ellipsen und Achten, von unsichtbaren Kräften aufgewühlt und der Sand der Senke wurde dazu von einem Sog in die Tiefe gezogen.
Wie auch von dem umliegenden Dünen strömte nun um auch Tobaskars Stiefel herum der nasse Sand, wie von Sturm über den Boden geblasen, hinab in die Senke. Tonnen von Sand füllten die Senke, die sich wie ein Loch ohne Boden nicht füllen lassen wollte, als plötzlich ein ferner Laut, wie von berstenden Holz, aus dem Sandboden zu hören war.
Ein ohrenbetäubendes Krachen, als wäre ein verzweigter Blitz in hundert Bäume gefahren, erschütterte die Küste, als ein schwarzer Schatten, groß wie ein Herrenhaus, aus der Senke emporschoß und donnernd mit vier Klauen auf dem Sandboden aufsetzte. Der Boden bebte von dem Aufschlag der schwarzen Bestie, als wäre eine abgebrochene Bergspitze aus Eintausend Schritt Höhe auf den Ufersand aufgeschlagen.
Der Drache spreizte seine schwarzen Flügel und verdunkelte den grauen Himmel mit den scharfkantigen und grotesk geschwungenen Schwingen. Seinen dornigen Schweif schmetterte er auf eine nahe Düne, die sich teilte, wie eine Sandburg unter einem Axthieb.
Die Ausmaße seines Körpers waren so gewaltig, dass sie jeder Beschreibung anderer Lebensformen über oder unter Wasser spotteten. Weit größer, als der gewaltigste Blauwal, den Kantilas Fischer je erlegt hatten, mit Flügeln der Fläche sämtlicher Segel eines Dreimasters. Der schattenhaft schwarze Körper war lang und schlangenartig, rauh und stromlinienförmig wie die Haut eines Haifisches. Ein dorniger Kamm, wie die Mähne eines Pferdes, zog sich vom Kopf des Drachen bis zu seiner Schweifspitze hin, welche ihrerseits in einer stachelversehenen Kugel endete. Wie die Zacken eines Morgensternes standen die Stacheln nach allen Seiten hin ab. Die natürlich gewachsene Form der Stachelfaust erinnerte aber eher an die Schale von Kastanien oder den Rücken eines Igels.
Der Kopf der riesigen Kreatur war länglich und die Augen lagen rechts und links des Schädels, wie bei einem Pferd. Ein Jagdtier hatte seine scharfen Augen vorn im Schädel, um seine Opfer anzuvisieren, der schwarze Drache aber hatte einen Rundumblick, wie ein Beutetier. Und wie die Augen eines Pferdes waren auch seine Augen schwarz. Makellos schwarz wie ein Schatten, ohne einen einzigen hellen Fleck, ohne überhaupt Licht zu reflektieren, stand die monströse Bestie in der Senke und blickte aus großer Höhe auf Tobaskar hinab.
Das lange Maul des Drachen blieb geschlossen, aber die stumpf wirkenden Augen richteten sich nun auf den Adepten.
Urplötzlich wurden seine Gedanken von ein Sog erfasst, einem Mahlstrom von ungeheuerlicher Intensität und Unwiderstehlichkeit, dass Tobaskar das Gefühl hatte, alle seine Erinnerungen, seine ganze Identität, sein Leben würden ihm ausgesaugt. Er konnte nicht mehr richtig atmen, er japste nach Luft, wie ein aufs Land geworfener Fisch. Weiter wurden seine Gedanken von dem Drachen angezogen und gelesen, als wäre sein Kopf ein offenes Buch. Stechende und brennende Schmerzen malträtierten seinen Kopf und wäre ihm Atem gewesen zu schreien, hätte er wie am Spieß gebrüllt.
Nach nur wenigen Lidschlägen ebbte der quälende Mahlstrom ab, aber diese wenigen Momente kamen Tobaskar wie Jahre vor. Sein Geist war vergewaltigt worden, überfallen und ausgeplündert, nicht eine Erinnerung, nicht eine Erkenntnis war ihm geblieben, die nicht von diesem Wesen aufgeschlagen und gelesen worden war. Er konnte wieder atmen und seine Lungen füllten sich dankbar mit der salzigen Meeresluft, als Tobaskar wieder versuchte, seinen zerwühlten Verstand zu ordnen.
„Nun, mein Freund, was darf ich für dich tun?“ Eine Stimme, die Tobaskar kannte, erklang angenehm in seinem Kopf, ohne einen Umweg über seine Ohren genommen zu haben. Das Maul des Drachen war immer noch geschlossen, aber Berkoltesh hatte zu ihm gesprochen! Die Stimme war zwingend laut und doch von solch angenehm sonorem Klang und solch vertrauter Freundlichkeit, dass sie zutiefst vertrauenerweckend und gutartig auf Tobaskar wirkte. Er erkannte die Stimme, konnte aber noch nicht recht zuordnen, wem diese Stimme gehört hatte. Auch verwunderte es den Adepten, dass der Drache ihn nicht in der alten Sprache der Drachen und Esyllvar ansprach, sondern in der kimbernischen. Der Sprache, die sich erst in den letzen tausend Jahren entwickelt hatte. In der Zeit, da Bekoltesh geschlummert hatte.
Tobaskar riss sich zusammen: „Berkoltesh Sturmauge, Geißel der Küsten, Blutdürstiger Jäger, Schlächter der Kimbern,“ entgegnete er dem Drachen nun seinen klangvollen Namen ebenfalls in der heutigen Gemeinsprache des Kontinents. „Ich ersuche dich um ein Bündnis.“
Das schwarze Ungeheuer schnaubte durch seine Nasenlöcher und die Luft flimmerte, wie die Luft über einem Feuer. „So, ein Bündnis?“ sagte die Stimme in Tobaskars Kopf und wieder versuchte sich der Adept verzweifelt daran zu erinnern, woher er diese Stimme ursprünglich kannte.
„Ich sehe den Körper eines Menschen vor mir,“ fuhr die schreckliche und zugleich schöne Stimme fort, „doch dein Geist und Blut sind die eines Esyllvar, aber du bist keiner, nicht wahr?“
„Ich stamme von den Esyllvar ab, Berkoltesh Tebraka, ich habe die Macht der Esyllvar geerbt!“
„Oho, so bescheiden?“ Der Drache legte sich nun in der Senke nieder mit der Geschmeidigkeit und Anmut einer Katze. Die Berührung seines gigantischen Leibes war nur ganz sacht am Wanken des Sandes unter Tobaskars Füßen zu spüren. Die schwarze Bestie faltete nun in seine Flügel ein und wandte ihren Schweif halb um ihren liegenden Körper, ehe sie mit geschlossenem Maul weiter sprach.
„Du bist weit mächtiger, als ein Esyllvar, Tobaskar! Ja, ich möchte meinen, du bist der mächtigste Esyllvar, der je gelebt hat. Deine Kräfte sind so weit über das Normalmaß eines deiner Vorfahren hinaus gewachsen, wie eine ausgewachsene Eiche über die Eichel, aus der sie entsprang.“
Tobaskar schwieg. Er starrte den Drachen unverblümt an. Was konnte er der gewaltigen Bestie noch sagen, dass sie nicht schon wusste, inwieweit spielte der Drache nur mit ihm und woher aus seinen Erinnerungen hatte das schwarze Ungetüm diese vertraute und schöne Stimme gestohlen.
„Du schweigst, mein Freund?“ fragte ihn die laute Stimme in seinem Kopf. „Erst weckst du mich aus meinem Schlaf und dann strafst du mich mit deinem Schweigen?“
Der Drache öffnete sein riesiges Maul und zog die Luft ein, als wollte er gähnen. Mehrere Zahnreihen blitzender schwarzer Zähne wurden nun sichtbar, überzogen mit einer ebenso schwarzen wie zähen Flüssigkeit. Fangzähne, groß und scharfkantig wie Dolche und nach innen gekrümmt wie Dornen.
„Ich bin geneigt dir zuzuhören, warum sprichst du also nicht?“
Tobaskar lächelte jetzt zu dem Drachen hinauf. „Was hältst du also von meinem Plan, großer Berkoltesh? Oder muss ich ihn erst wiederholen, weil du Bedenkzeit brauchst?“
Wieder schnaubte der Drache kochend heiße Luft aus seiner Nase und hob leicht seine Schwanzspitze, wie ein Haustier, dass gerade von seiner Herrschaft angeredet worden war.
„So?“ klang die angenehme Stimme im Kopf des Adepten. „Wie erfreulich! Du bist also nicht nur sehr mächtig sondern auch noch über alle Maßen klug, mein Freund! Wie erbaulich, mit einer solchen Persönlichkeit zu sprechen. Ja, in der Tat, dein Plan gefällt mir!“
Tobaskars Lächeln wurde breiter, der Drache hatte alle seine Gedanken gelesen, auch seine Absichten. Berkoltesh wusste, wie der Adept mit ihm gemeinsam zu herrschen gedachte, wie sie als Gespann von Mensch und Bestie über die Reiche herrschen würden, wie Herr und Hund über die Schafherde. Er, Tobaskar würde zum Herren, und der Drache - hundert mal mächtiger als er selbst - wäre seine Kreatur. Berkoltesh würde sich in seine Dienste stellen für Sklaven und Pflege, die der Adept ihm verschaffen würde. Alle Welt sollte glauben, dass der Drache nur eine wilde und unkontrollierbare Bestie von tierischer Intelligenz sei, dass sie nur von Tobaskar allein zu bändigen wär!
So würde der Adept alle Macht und Ansehen gewinnen und der schwarze Drache das Geheimnis um seinen Verstand und seine eigentlichen Kräfte behalten. Er würde nur als Mensch und Tier fressendes, feuerspuckendes Ungetüm die Länder heimsuchen, aber seine verborgenen Kräfte, die in keinem Verhältnis zu seinen körperlichen Fähigkeiten standen, würden unentdeckt bleiben!
Diener würden ihn mit Vieh versorgen und ihn pflegen, nur hin und wieder sollte er ausbrechen und Massaker anrichten, um die beständige Furcht des Volkes aufrecht zu erhalten. Tobaskar würde ihn dann wieder einfangen und bändigen, bis wieder ein neuer Zeitpunkt gekommen war, Angst zu schüren und ein paar Dörfer sowie die eine oder andere Stadt in Schutt und Asche zu legen und die zerfetzten Leiber der Bewohner bis weit hinaus in andere bewohnte Gegenden zu schleudern.
„Du willigst also ein?“ fragte der Adept nun die schwarze Bestie, die selbst in der großen Mulde liegend noch viele Schritt größer als er war.
„Nach allem, was du auf dich genommen hast, nur um mich vor meinen Brüdern und Schwestern zu wecken? Wie könnte ich dein Angebot ausschlagen, mein Freund?“

                    Jannick:
„Du meinst, das können wir ihr zumuten? Findest du das nicht etwas grob von uns?“ Jannick blickte seinen grinsenden Freund stirnrunzelnd an.
„Na hör mal, von wem stammt denn die Idee?“ lachte Greganor ihn nur an.
„Sicher, aber es war mehr im Spass gesagt.“
„Bei mir hattest du kein schlechtes Gewissen mit Paukenschlag und Donnerhall ins Haus zu fallen, und Lalilia willst du es schonend beibringen? Gleiches Recht für alle, Jannick!“ Der König warf sich in einen geschmacklos pompösen Sessel, in dem er auf der Stelle so tief versank, dass Jannick den Eindruck hatte, das Sitzmöbel wolle seinen Freund verschlucken.
„Das ist noch etwas anderes,“ berichtigte er den mehr in einer Grube hängenden, als auf einem Sessel sitzenden Greganor. „Immerhin würdest du einen ebenso wichtigen schauspielerischen Part übernehmen, wie meine Wenigkeit. Kannst du es mit deinem Gewissen vereinbaren, mit mir gemeinsam deine schwer beanspruchte Gattin so hinter das Licht zu führen?“
Aus den Tiefen des braungoldenen Sitzmöbels konnte Jannick weiße Zähne hinter dem schwarzen Bart des Königs blitzen sehen, und musste darauf hin unwillkürlich auch über beide Ohren grinsen.
„Dann solltest du jetzt nach einem Diener klingeln, um uns alle notwendigen Utensilien bald zukommen zu lassen,“ Jannick verschränkte die Hände hinter seinem Rücken und blickte schmunzelnd aus dem Fenster: das Leben hatte ihn wieder! Glücklich war er besonders darüber, dass er wieder lachen konnte, dass er wieder eine Zukunft hatte, auf die er sich freute, dass ihm wieder der Schalk im Nacken saß, als wäre er nie fortgewesen! Ein zusammenknautschen von gefederten Sitzkissen war in seinem Rücken zu vernehmen und ein Blick aus dem Augenwinkel verriet ihm, dass Greganor sich Kraft seiner Arme jetzt aus dem goldbestickten Sitzmöbel hervor arbeitete. Er stütze sich auf den Lehnen ab und war schnell wieder auf den Beinen. Für einen alten Menschen wäre dieser braune Sessel eine Todesfalle, sinnierte Jannick nur: einmal hineingestoßen, gab es ohne akrobatisches Geschick und einige Körperkraft kein Entrinnen aus dem bis zur Perversion bequemen Sitzmöbel!
„Ich werde mich gleich darum kümmern,“ schnaufte Greganor, den das Aufstehen doch mehr Mühe gekostet hatte, als es aus der schneller Aktion ersichtlich gewesen war.
„Ich glaube, es ist gut, dass wir so schnell wie möglich aufbrechen, du bist ja völlig außer Form,“ lächelte Jannick, als Greganor an der Klingelschnur für das Küchenpersonal riss.
„Wenn du wüsstest,“ grummelte der König nur. „Vor einem Jahr konnte ich noch ohne mit der Wimper zu zucken einen Waldlauf von zehn Landschritt absolvieren, aber aus diesem goldenen Vogelkäfig kommt man ja nie raus! Vermutlich würde ich heute schon Muskelkrämpfe und Übelkeit nach bloß sechs oder sieben Landschritt bekommen!“
Ein vornehmes Klopfen war an einer der Türen zu den Königlichen Gemächern zu vernehmen, Jannick zog eine Braue hoch: „Das nenne ich prompte Bedienung.“
„Herein,“ rief Greganor und der gewohnt joviale Ton seines Freundes hatte plötzlich wieder diese ungewohnte Autorität, dass Jannick nicht umhin kam ein wenig spöttisch zu schmunzeln.
„Eure Majestät haben einen Wunsch?“ der Diener in Livree verbeugte sich.
„Bringe mir ein Stück Hanfseil von vier Schritt Länge, ein komplettes Messer und Scher Besteck eines Fallenstellers, einen Trog mit scharfer Lauge, einen Spannrahmen, ein Holzbrett und zwei Tote Hasen mit Fell. Möglichst große Hasen und beeile dich!“
An den geschäftig hin und her wandernden Augen des Dieners, las Jannick, dass sich der Mann alles zu merken versuchte, was man ihm aufgetragen hatte. „Sehr wohl, eure Majestät,“ nickte der bunte Diener nun, verbeugte sich, zog sich rückwärts aus dem Raum zurück und die Tür hinter sich zu.
„Guter Mann,“ lachte Greganor. „Gehorcht, ohne den Eindruck zu erwecken, über seine Befehle nachzudenken, eine Tugend, wie sie auch die besten Eisenmantel Ritter ziert!“
„Ob uns Lalilia diese Scharade auch nur einen Augenblick lang abkaufen wird? Wir tragen schon ziemlich dick auf, findest du nicht?“ Jannick blickte während dieser Worte auf seine Hände, konzentrierte sich und ließ die Illusion entstehen, ganz spröde und geschundene Haut zu haben, als würde er täglich mit harter Arbeit seine Hände bis zum Äußersten beanspruchen.
„Wir sprechen hier von Lalilia,“ lachte Greganor und packte sich selbst mit beiden Händen fröhlich am Revers. „So selbstsicher und erhaben sie sich auch geben mag, sie wird tief in ihrem Innern immer ein verunsichertes Mädchen bleiben. Wenn wir ihr nur ganz souverän unsere Rollen vorspielen, wird sie aus der offensiven Rolle gleich wieder in die defensive fallen! Ach ja, an deinen Illusionären Hosen musst du noch arbeiten!“
„Moment!“ forderte Jannick, der gerade dabei war seine Augenbrauen buschig und blond werden zu lassen, ehe er sich einen filzigen blonden Vollbart sprießen ließ und zwei lange, parallel verlaufende Narben auf der Wange entstehen ließ.
„Sieht aus, wie Narben vom Tatzenhieb eines Waschbären oder Dachses, der noch nicht ganz tod war, als du ihn aus einer Falle befreit hast,“ meinte Greganor kritisch. „Jetzt noch eine schäbige Mütze und ein paar plumpe Goldohrringe, und du siehst aus, wie das Klischee eines Fallenstellers!“
Jannick kicherte: „Fehlt nur noch der dazu gehörige Geruch,“ er versuchte sich zu erinnern und konzentrierte sich wieder, „wie ist das?“
Greganor rümpfte die Nase und gab ein missbilligendes Grunzen von sich: „Das ist widerwärtig, und abstoßend! Ganz hervorragend!“
„Oder dieser hier?“ fragte Jannick fasste sich konzentriert mit Daumen und Zeigefinger an die Stirn unter seiner illusionären Fallenstellermütze.
Sein Freund ließ einen gedehnten Laut des Ekels vernehmen und verzog angewidert das Gesicht: „Das ist grauenvoll, aber es riecht zu sehr nach Fleischfressern. Du musst einen frugaleren Gestank erzeugen, wenn du den Eindruck erwecken willst, bei Pferde oder Kuhmist geschlafen zu haben!“
„Da spricht der Fachmann,“ lachte Jannick.
„Was ist mit deiner Stimme?“ fragte sein Freund. „Du wirst auch deine Stimme...still, das ist die Tür zum Hof, Lalilia wird jeden Augenblick hier sein! Werde jetzt bloß nicht schwach oder sentimental, sonst können wir den Auftritt gleich abblasen!“
Jannick schluckte einmal kräftig, Greganors Warnung war nicht ungerechtfertigt. Aber er blieb hart und überlegte noch rasch, welchen Klang er seiner Stimme geben wollte, als auch schon eine der sieben prunkvollen Türen aufgerissen wurde, die in die Räume des Königspaares führten. Herein platzte eine wunderschöne Frau in ausladenden blau und gelbgoldenen Kleidern, einem Kopfputz aus glänzendem braunen Haar mit silbernen Spangen und einem Umhang von feinster sonnengelber Seide.
Als Lalilia auch nur einen Schritt in den Raum gesetzt hatte, verzog sie in einem Ausdruck höchsten Ekels ihr schönes Gesicht. Ihre königlichen, von der Winterkälte geröteten Wangen, verloren einiges an Farbe, als sie erschrocken ihren Blick durch den Raum schweifen ließ und neben ihrem Gemahl auch noch Jannick entdeckte. In diesem Moment hätte er am liebsten das Theater dran gegeben, um Lalilia in die Arme zu schließen, fing sich aber wieder schnell, als Greganor jetzt lautstark seine Königin empfing.
„Schatz, dass ist aber eine Freude, dass du schon so zeitig wieder hier bist! Lass dich herzen!“
Greganor nahm sie grazile Frau kurz in den Arm und küsste sie auf den Mund, derweil die arme Lalilia ihren entsetzten Blick nicht von Jannick wenden wollte.
„Wer...ist das?“ fragte Lalilia ihren Gemahl leise aber für Jannick noch gut verständlich, „Dieser Gestank...“
„Oh, das!“ Greganor legte seinen rechten Arm um Lalilia und deutete mit dem linken auf Jannick. „Das ist Jeregrin, ein Fallensteller aus Itomen. Er wird für ein paar Tage hier wohnen.“
„Er wird was?“ Lalilia blickte ihren Mann mit weit aufgerissenen Augen an. „Wo genau, wird er wohnen? Doch nicht hier, in unserer Suite?“
Jannick biss sich vor Lachen hart auf die Unterlippe und war nur froh, dass sein verfilzter Bart diese Unbeherrschtheit verbarg. Sein Freund hingegen war die Ruhe selbst, als seine Stimme jetzt so selbstverständlich und entspannt weiter sprach, als würde dem König jedes Verständnis für die gerechte Aufregung und den Zorn seiner Gattin abgehen: „Ja, doch, hier in unserer Suite, er hat seinen Schlafsack nur noch nicht ausgelegt. Das war übrigens meine Idee. Die freie Presse unseres Landes brachte in letzter Zeit so negative Schlagzeilen, und DU hast mir doch immer vorgeworfen, ich sollte etwas mehr auf unser Ansehen im Volk achten!“
„Ich verstehe gar nichts,“ jammerte Lalilia jetzt, versuchte sich mit ihrer Linken den Gestank von ihrer Nase weg zu fächern und lief aber in aufkeimender Wut wieder rot an: „Was soll ich gesagt haben?“
„Nun,“ Greganor gab sich unschuldig wie ein Gänseblümchen, „du meintest, ich sollte immer bemüht sein, es mir mit den großen Zeitungen unseres Landes und so mit dem Volk nicht zu verderben. Die Zeitungen haben uns in letzter Zeit aber zu sehr als vornehme, völlig abgehobene Monarchen dargestellt, als hätten wir unseren Blick für die Realität im Reich verloren. Als müssten wir unseren Kontakt zu dem einfachen Volk erst wieder herstellen, um nicht aus den Augen zu verlieren, dass es noch eine andere Welt gibt, als die hier im Palast!“
„Wie bitte?“ Lalilias Stimme hatte einen hysterischen Beiklang bekommen, der sowohl den König, wie auch Jannick leicht zusammen zucken ließ.
Jannick räusperte sich jetzt und ließ das heisere Räuspern nahtlos in einen Husten übergehen, wie der eines alten Rauchers, als er Lalilia mit einer angedeuteten Verbeugung ansprach: „Liebe Königin, es ist mir eine Ehre, dass ich bei ihnen hausieren darf!“
„Logieren!“ verbesserte ihn Greganor prompt und Jannick zwinkerte sich eine Lachträne aus dem Auge, als er Lalilias fassungsloses Gesicht betrachtete.
„Ich werde auch nicht viel Unordnung machen, meine Königin. Ihr werdet sehen, ich bin ein großartiger Koch!“
„Ein was?“ schrie Lalilia Greganor jetzt in einer Lautstärke an, die jegliche vornehme Zurückhaltung vermissen ließ.
Sein Freund jedoch behielt sein Gesicht und murmelte beruhigender Stimme: „Also, da ich diesen Jeregrin schon eine Woche hier wohnen lasse...“
„Eine Woche?“ schrie Lalilia ihn wieder an, aber Greganor entließ sie nicht aus seinem rechten Arm.
„Ja, es sollen die Zeitungen nicht berichten, wir wären uns zu vornehm für den Mann. Da ist eine Woche eine angemessene Zeit. Da er also hier wohnt, dachte ich, könnten wir auch ihn die ein oder andere Mahlzeit für uns machen lassen. Mit ihm das Essen eines Fallenstellers zu uns nehmen, das werden die Schreiber unserer Zeitungen bestimmt anerkennen!“
Lalilia war wieder etwas blasser geworden und blickte jetzt, nach ihren ersten hysterischen Augenblicken wieder auf Jannick, als könnte sie nicht glauben, was sie da sah. Jannick kratzte sich ein wenig beschämt an seiner Mütze, aus der er sogleich die Illusion eines Käfers purzeln ließ, die sich dann krabbelnd unter eine nahe Couch stahl.
„Ich will bestimmt keine, äh...Ungelegenheit bereiten, Majestät.“ Er grinste Lalilia schief an und überzog gerade noch rechtzeitig zwei seiner Backenzähne mit illusionärer dunkler Farbe, als wären sie faulig. „Aber mein Hasenbraten hat noch jedem geschmeckt, der ihn verspachtelt hat!“
„Gegessen hat!“ verbesserte Greganor wieder.
Lalilia blickte jetzt wieder ihren Gemahl an, ihre angespannte Haltung hatte war zu einer kraftlosen geworden und ihre Wangen waren von so nobler Blässe, wie ihre feuchte Stirn: „Bitte sag mir, dass du das nicht ernst meinst! Bitte sag mir, dass du diesen Fallensteller nicht herbestellt hast, damit er hier in unseren Gemächern wohnt und für uns kocht!“ Ihre Stimme war weich und hatte etwas Flehendes.
Greganor blickte sie nur verständnislos an: „Doch, Schatz, um dir einen Gefallen zu tun! Der Artikel wird gerade in der Druckerei gesetzt! Das wird ganz Loriélien zeigen, wie nah wir am Puls des Volkes sind.“ Lalilia sackte ein wenig in Greganors Umarmung zusammen.
Wieder war ein Klopfen an einer Tür zu vernehmen. „Herein!“ gebot der König.
„Ahh, meine Werkzeuge, bringt sie nur her, hierher. Bitte,“ freute sich Jannick, als er vier Diener mit den bestellten Utensielien erblickte. Zwei Dienstboten waren allein für den Waschtrog nötig, den sie auf sein Geheiß auf den dichten handgeknüpften Teppich aus Kantila wuchteten, dass etwas Lauge über den Rand schwappte.
In Windeseile hatte Jannick die beiden Enden des Hanfseiles am Kaminsims befestigt, knotete darauf das Seil um die Hinterläufe der gerade getöteten Stallhasen und band das andere Seilende um den Hals der Marmorstatue eines verstorbenen Monarchen. Die beiden toten Tiere hingen jetzt in zwei Schritt Höhe kopfüber in die königlichen Gemächer hinab. Jannick betastete die Tiere aufmerksam, ehe er wieder sein schiefes Lächeln aufsetzte und das ungleiche Königspaar anblickte: Greganor stand triumphierend wie eine Eins und verkniff sich ein Grinsen, derweil Lalilia leicht in Greganors Arm zu hängen schien und ihre Augen etwas glasig auf die beiden erschlagenen Karnickel blickten.
„Sind gut im Futter, die Viecher!“ lachte Jannick, zückte demonstrativ ein Messer aus dem Besteck und fuhr mit seinem Daumen abschätzend über die Klinge.
„Noch scharf genug, wird ein paar Flecken auf dem Marmor geben.“
„Kein Problem, dass lassen wir putzen,“ meinte Greganor gönnerhaft.
Nach kurzer Überlegung fiel Jannick wieder ein, wo man einen Hasen das Fell einschneiden musste. So, wie er und Greganor es zur Jugendzeit bei den Schwarzen Greifen gelehrt bekommen hatten. Er packte darauf das Fell an den Hinterläufen und zog es dem Hasen mit einem gewaltsamen Ruck über die Ohren, Lalilia schrie angewidert auf.
Die nackten roten Leiber der großen Tiere, die nur noch an Kopf und Pfoten ihr braunes Fell trugen, tropften jetzt an dem Hanfseil.
„Schönes Fell, das hier!“ meinte Jannick und nickte. „Bei uns im Dorf verkaufen die Metzger die Hoppelviecher immer mit dem Kopf noch dran. Gab nämlich Leute, die haben Katzen gefangen, geköpft, abgezogen und als junge Hasen verkauft. Sehen abgezogen genauso aus, müssen sie wissen! Nennt man deshalb auch Dachhasen, die Katzen, hähä!“
„Ich glaube, mir wird schlecht!“ stammelte Lalilia jetzt und war tatsächlich ganz weiß um ihre schöne Nase herum geworden.
„Ich werde nur rasch die schönen Felle von der Resthaut befreien, dann gehe ich mit den Hasen in die Küche!“ versprach Jannick und blickte fragend auf Greganor.
Sein Freund nickte, als er seine schöne Frau in seinem Arm betrachtete, die regelrecht zusammen geschrumpft zu sein schien.
„Okay, Jannick, lassen wir das!“ nickte Greganor jetzt in seine Richtung.
Plötzlich fuhr Lalilias Kopf herum und starrte Jannick mit ihren grünen Augen durchdringend an. Der Adept löste zunächst die Illusion von Gestank in den Räumen auf, dann verschwand auch seine schäbige Kleidung und die feine Kleidung, die Greganor ihm verschafft hatte, kam zum Vorschein.
Mit einem Anflug schlechten Gewissens und doch befreit und glücklich, dass er nach dem erfolgreichen Schauspiel jetzt seine veränderte Gestalt aufgeben konnte, ließ er auch seine veränderten Gesichtszüge, den falschen Bart und die Augenbrauen verschwinden.
Lalilia blinzelte ihn an.Fahl, wie Kreide und auf wackeligen Beinen. Greganor küsste ihr Haar: „Willst du unseren Freund nicht begrüßen, Schatz? Er hat überlebt! Er hat sich fortgewünscht und überlebt, aber jetzt ist er wieder hier!“
Augenblicke verstrichen, dann bekam Greganor die Ohrfeige seines Lebens und Lalilia stürmte, immer noch blass aber mit roten Wangen, aus dem Raum in das königliche Bad und warf die Tür hinter sich zu.
Die beiden Freunde sahen sich an, solange, bis Greganor als erster anfing, zu grinsen.
„Das war es wert!“ Er rieb sich die Wange, auf der jetzt sogar die einzelnen Finger der königlichen Hand abgebildet waren und brach in Gelächter aus.
„Komm, wir gehen zu ihr!“ grinste Jannick und eilte zum Bad.
„Kommst du heraus, Schatz?“ fragte Greganor jetzt mit weicher unschuldiger Stimme, den Kopf direkt an die verzierte Türe gedrückt.
„Bitte, bitte, bitte!“
„Nein!“ erklang es gedämpft durch die Tür. „Jannick ist tot und ich muss etwas schlechtes gegessen haben, das passiert nicht wirklich!“
„Jetzt sei nicht albern, Schatz!“ schnurrte Greganor. „Ich habe es auch nicht glauben können, aber komm heraus und überzeuge dich.“
„Nein!“ rief die Stimme wieder, dann aber fing sie an zu schluchzen: „Jannick, du hast überlebt? Und dann bist du wieder hier und ihr beiden unverbesserlichen Kerle...ihr Schweine...habt nichts besseres zu tun, als mich bloßzustellen, euren Schabernack mit mir zu treiben?“
Greganor nickte ihm wieder zu. Jannick stieß also behutsam die Tür auf und trat in das riesige Bad ein, wo die Königin weinend auf einem Stuhl an der Wand saß. Er kniete sich bei ihr nieder und nahm sie in die Arme. Schnell schlossen sich auch Lalilias Arme fest um ihn und drückten ihn an sich: „Du Kindskopf, du musst es sein,“ lachte sie jetzt unter Tränen „eine solch unmögliche Vorstellung kann sich nur ein Tunichtgut wie du ausgedacht haben.“

„Ist das wirklich nötig?“ Jannick blickte abwechselnd in die Gesichter von Lalilia und Greganor.
„Es ist eine ganz praktische Erwägung, Jannick,“ Greganor zwirbelte sich mit seinen Fingerspitzen am Kinnbart, „Wir brauchen einen Verwalter für unser Lehen Donnerfall und du wirst in Zukunft ein geregeltes Einkommen brauchen. Jetzt, wo Lord Erchanger nicht mehr für uns beide aufkommen kann.“
„Wir haben im letzten Jahr fast vierzig verdiente Personen in den Adelsstand erhoben, es stellt also keine Besonderheit da!“ lächelte Lalilia, „Außerdem ist es uns ein ganz persönliches Anliegen!“
„Dann bringen wir es hinter uns!“ seufzte Jannick theatralisch.
„Du musst dich hin knien, so sind die Formalien.“ Lalilia freute sich jetzt wie ein kleines Mädchen und sah ihren Mann bittend an, bis Greganor ihr schließlich sein Langschwert aus dem Versteck oben von einem gewaltigen Kleiderschrank holte und in die Hände gab.
Jannick tat wie geheißen und kniete sich nieder, wie ein junger Knappe, der ohne sonstige Feierlichkeiten und Formalitäten für seine Verdienste noch auf dem Schlachtfeld zum Ritter geschlagen wurde.
„Aber sei vorsichtig, Schatz! Nicht, dass du Jannick, wie dem armen Graf Jodwyf das halbe Ohr abtrennst!“ Greganor kassierte nur einen eisigen Blick seiner Frau, die sich darauf aufrecht vor Jannick stellte, das Schwert senkrecht mit der Spitze zur Decke hielt und einen zeremoniellen Ton anschlug: „Sprich, treuer Diener des Reiches Loriélien, wie ist dein Name!“
„Eure Majestät, mein Name ist Jannick von Greifenfels.“
„Versprecht ihr unserem Reich und unserer Regentschaft treu zu Dienen und unseren Weisungen Folge zu leisten?“
„Euere Majestät, ich verspreche es.“
„Versprecht ihr in euren Entscheidungen euren Untertanen gegenüber weise und gerecht zu sein?“
„Euere Majestät, ich verspreche es.“
„Versprecht ihr, den Notleidenden zu Hilfe zu kommen und den unschuldig in Bedrängnis geratenen beizustehen, so wie euch euer Gewissen berät und ihr es vermögt?“
„Euere Majestät, ich verspreche es.“
„Versprecht ihr eure Gemahlin und eure Nachkommen zu eben diesen Tugenden zu erziehen?“
„Ran wird sich bei dir bedanken,“ lachte Greganor und wurde wieder mit einer Blick Lalilias bestraft.
„Euere Majestät, ich verspreche es,“ grinste Jannick.
„Dann erhaltet jetzt den Ritterschlag.“ Lalilia legte ihm die Schwertspitze erst auf die linke, dann auf die rechte Schulter. „Noch diesen Schlag nehmt hin, und danach keinen mehr,“ fuhr sie fort und berührte noch einmal mit der Schwertspitze seine rechte Schulter. „Nun erhebt euch, Baron Jannick von und zu Donnerfall!“
Jannick erhob sich lächelnd: „Baron von Donnerfall, eine steile Karriere, für den Sohn eines Dorfschulmeisters.“
Greganor reichte ihm grinsend die Hand und wollte ihm seine schier zerdrücken und Lalilia legte nur rasch das Schwert auf einen kleinen Tisch um ihn dann in die Arme zu nehmen.
„Den Papierkram klären wir später,“ Greganor blickte aus dem Fenster und schaute ernst nach dem Stand der Sonne. „Lalilia, wir haben noch etwas anderes zu besprechen!“
Lalilia löste ihre Umarmung und blickte sie beide - den Unterton in Greganors Stimme gleich richtig deutend - fragend an. Jannick sah ihr an, das Lalilia ahnte wenig angenehmes zu hören zu bekommen.
„Worum geht es?“ fragte sie scharf.
„Schatz,“ begann Greganor und Jannick sah förmlich, wie sein Freund nach den geeigneten Worten suchte, die er aber weder jetzt noch zu irgendeinem Zeitpunkt hätte finden können, um Lalilia zu erklären, warum er heute Nacht noch aufbrechen musste. „Ich...“
„Du willst was?“
„Ich habe nicht gesagt, dass ich etwas will!“ verteidigte sich Greganor.
„Ich kenne dich, wenn du dich für etwas entschuldigen willst, klingst du anders!“
„Ich habe doch noch gar nichts gesagt!“
Jannick verdeckte sich schmunzelnd die Augen und wandte sich von den beiden ab, um zu gehen. Wie seinen beiden besten Freunde ihre Eheprobleme besprachen ging ihn nun wirklich nichts an.
„Du bleibst hier!“ fuhr ihn Lalilias helle Stimme von hinten an. „Es kostet mich keine Überlegung, um dich als Urheber dieser Bitte, die Greganor gleich äußern wird, zu erkennen!“
„Aber er hat doch noch gar nichts gesagt!“ hörte sich Jannick jetzt sagen. Lalilia verschränkte ihre Arme, klopfte mit ihrer linken Schuhspitze auf den weichen Teppich und sah die beiden Männer strafend an.
„Schatz,“ Greganor räusperte sich, „Jannick und ich, wir wollen so bald wie möglich nach Kantila zu Ran und Grasa reisen!“
„Was heißt das? Wann genau?“
Greganor warf ihm einen hilfesuchenden Blick zu und Jannick schüttelte rasch den Kopf. „Übermorgen,“ sagte Greganor daraufhin. Wobei seine Antwort mehr wie eine Frage klang.
„Übermorgen?“ Lalilia riss die Arme in die Höhe. „Jannick kann ich hier kaum halten, das kann ich verstehen. Aber du wirst hier bleiben! Wir sehen uns ohnehin viel zu selten und außerdem bist du der König! Ich brauche dich hier, wenn einmal eine wichtige Angelegenheit zu entscheiden ist! Wenn du unbedingt deinen Bruder, Ronjaxil und Ran wiedersehen willst, dann bestell sie doch hierher!“
„Aber Grasa ist doch von schwacher Gesundheit und sie haben zwei Säuglinge...die lange Reise...“
„Dann soll er sich eben dick in Decken packen und die Babys auch!“
Jannick seufzte wieder. An Lalilias aufgebrachter Stimme war unzweifelhaft zu erkennen, dass sie rationalen Argumenten im Augenblick nicht zugänglich sein würde. Um weitere unnütze Streitereien zu umgehen, konzentrierte er sich und ließ eine leise Stimme in Greganors linkes Ohr sprechen: „Lass es gut sein: es hat keinen Zweck! Ich werde heute Nacht abreisen, wenn du es verantworten kannst, komm heimlich mit, ansonsten bleibe hier am Hof!“
„Was?“ fragte Lalilia ihren Mann, der für ihren Geschmack zu lange am Stück geschwiegen zu haben schien.
„Ja, Schatz, ich werde darüber nachdenken, ob ich Grasa schreibe!“
„Dann ist die Angelegenheit also geklärt?“ fragte sie.
Anstatt einer Antwort packte Greganor sie und küsste sie fest auf den Mund: „Ich liebe dich, mein Bienchen.“
„Bienchen,“ wiederholte Jannick kichernd. „Wegen dem Stachel, oder weshalb?“
„Du bist ruhig!“ knurrte ihn Greganor an. „Du hast mir den Ärger schließlich eingebrockt!“
„Kommt jetzt,“ lächelte Lalilia plötzlich wieder. Das Gewitter in ihren Zügen war plötzlich wieder vom strahlenden Sonnenschein und völlig ungetrübten blauen Himmel abgelöst worden, als wäre es nie da gewesen. Ihre grünen Augen strahlten wieder fröhlich in ihrem anmutigen Gesicht, als sie ihn ansah: „Wir werden uns jetzt in den königlichen Wintergarten gegeben, er ist beheizt und das herrliche Kristallglas holt alles an Wärme aus der Wintersonne heraus, was irgend möglich ist. Du hast ihn bestimmt noch nicht bewundert, Jannick, oder? Ich lasse uns gleich heiße Milch und Gebäck servieren, wenn wir da sind!“
„Oh bitte,“ bat Greganor, „keine heiße Milch mehr für mich.“

Jannick schulterte einen leichten Reiserucksack, in den er gerade das Nötigste an Gepäck für ein paar Tage gestopft hatte, und blickte mit einem Unruhegefühl im Magen durch ein winziges Fenster in die sternklare Nacht hinaus. In wenigen Augenblicken würde es soweit sein, dass sie sich aus dem Schloss schleichen würden. Im Verlaufe des Abends war sogar noch der junge Cedrick in Gnossas am Hof eingetroffen, was Jannick nicht wenig verwundert hatte. Zwar hatte er dem jungen Greifen nahegelegt, sich hierher zu begeben, weil ein Adept mit einem Beschützer gemeinsam besser gegen einen anderen Adepten vorgehen konnte, als einer von beiden allein. Doch hatte Cedrick zu keinem Zeitpunkt während ihrer Begegnung den Eindruck erweckt, dass er auf den Rat von ihm hören würde. Um so mehr hatte es Jannick nun gefreut, den jungen Greif hier in Loriélien wiederzusehen und er hatte keinen Augenblick gezögert, ihn zu fragen, ob er Greganor und ihn nicht auch nach Kantila begleiten wolle. Der Junge auf dem Weg zum Erwachsenen hatte einen verletzten Geist und so wenig Jannick sich auch darauf verstand, solche Wunden zu behandeln, so sehr glaubte er doch, dass es ein Fehler war, Cedrick ganz mit sich allein zu lassen! Greganor hatte er schon eingeschärft, dass sie dem jungen Beschützeranwärter keine Fragen stellen würden, ihn völlig in Frieden lassen wollten, aber dennoch so akzeptieren, als würden sie ihn schon lange kennen. Cedrick sollte für sich allein sein können und doch das Gefühl bekommen, dazu zu gehören, vielleicht würde er auf diese Weise selbst irgendwann so weit sein, dass er sich öffnen konnte und über das sprechen wollte, dass ihn so schwer verwundet hatte.
Greganor war mit dem Vorschlag, den Greifen mit auf ihre kleine Flucht zu nehmen, mehr als einverstanden, hatte er doch so den geeigneten Partner für sein Kampftraining gefunden! Der Mond Parsfer stand schon in seiner ganzen weißen Pracht am Himmel, der Mond Parsweil wurde noch zur Hälfte von den Dächern und Türmen der nächtlichen Hauptstadt Loriéliens verdeckt. Nur wenige Lichter brannten noch in den klaren Kristallglas und den zahlreicheren Buntglasfenstern der prächtigen Metropole. Es war bereits die dritte Nachtstunde, als Jannick endlich die Schritte von zwei Personen erlauschen konnte, die sich ihm mit leisen Sohlen über den schmalen Gang der Dienstboten näherten.
Lalilia hatte Greganor und ihn bis in die späte Nacht von einem Ort zum anderen im Schloss geschleift, und Jannick kannte sich inzwischen in dem gewaltigen Palast so gut aus, dass er fast mit geschlossenen Augen durch die hohen Säulen- und verwinkelten Geheimgänge hätte finden können. Greganor und Cedrick nun benutzen einen Gang, der es dem Personal ermöglichte, Vorräte vom Hinterhof im Dienstbotenflügel bis in die Küche des Hauptschlosses zu schaffen.
Jannick stellte seine Sicht so um, dass er warme Objekte von kalten abgegrenzt wahrnahm und erkannte jetzt in dreißig Schritt Entfernung, wie zwei orangerot leuchtende Männer in grüngrauer Gewandung um die blauschwarze Ecke des Ganges bogen.
„Da seid ihr ja!“ flüsterte er ihnen entgegen. „Ich sehe schon, ihr habt die richtigen Sachen an, für diese eiskalte Nacht!“
„Ich sehe gar nichts, ich renne mir hier noch den Schädel ein, so dunkel ist es,“ hörte Jannick seinen Freund flüsternd fluchen, der tatsächlich etwas zu groß für die sehr niedrigen Dienstbotengänge war.
„Oh, ich sehe, du hast dir deinen Bart abrasiert, hat es deshalb so lange gedauert?“ flüsterte Jannick, als er das gleichmäßig orange Gesicht Greganors erkannte.
„Ja, ohne meinen Bart wird mich kaum jemand erkennen, dem ich erst seit meiner Zeit als Monarch bekannt bin. Ich wünschte, ich hätte deine Adeptenaugen, Jannick, siehst du das Ding da an meiner Stirn?“
Jannick schmunzelte, tatsächlich leuchtete eine Stelle an der Stirn des Königs in etwas hellerem orange: eine ovale Beule! Cedrick hatte den selben leeren Gesichtsausdruck, wie noch in Jollenburg, Jannick konnte in dem Gesicht des Beschützeranwärters nichts erkennen, von dem er auf irgendeine Gefühlsregung hätte schließen können.
„Folgt mir, der Gang knickt noch zweimal ab, dann sind wir im Innenhof. Dann drücken wir uns an der Wand entlang durch das Tor in den Garten und erst aus dem Garten heraus sind wir auch bald an den Stallungen, wo ich uns die drei Pferde erworben habe.“
„Ich bin fast so aufgeregt wie zu Kinderzeiten auf Greifenfels, wenn wir nachts Backwerk aus der Küche gestohlen haben!“ flüsterte Greganor fröhlich.
„Das ist Angst, mein Freund. Damals hattest du Angst vor Erin Achtfinger, heute vor deiner Frau!“
Greganor stieß ihn unsanft vorwärts weiter durch den Gang. „Na, mit Angst kennst du dich ja wohl aus,“ murrte der König nur.
Helles Mondlicht begrüßte sie, im Hinterhof des Dienstbotenflügels, als sie vorsichtig aus dem Rundbogen des Ganges hervor sahen.
„Und? Werden wir beobachtet? Kannst du irgendwen erspähen?“ Greganor stupste ihn mit dem Finger, worauf Jannick sich im Hof umsah und auch die Fenster der drei Hauswände um den Hof herum in Augenschein nahm. Alles um sie herum war schwarz und dunkelblau, nur ein hellroter kleiner Punkt huschte an einer der Hauswände entlang.
„Ihr habt eine Maus im Schloss,“ lächelte Jannick, „ansonsten sind wir hier weit und breit die einzigen atmenden Wesen!“
„Das schmeckt mir nicht,“ ärgerte sich Greganor jetzt. „Wir sind bisher so einfach aus dem Schloss hinaus gekommen, dass es auch nicht viel schwieriger sein kann, hinein zu kommen! Sobald es sich ergibt, werde ich Lalilia schreiben, sie soll mehr Wachen aufstellen lassen!“
Jannick schüttelte nur grinsend den Kopf, Greganor konnte man vieles zu Gute halten, dass er jedoch jemals Weitsichtig gewesen wäre nicht! Er beschäftigte sich immer erst mit einer Angelegenheit, wenn diese bereits im Argen lag, aber in dieser Nacht war Jannick dankbar für diese Schwäche. Tatsächlich war es ein Kinderspiel gewesen, sich aus dem Schloss zu stehlen!
Leise spazierten sie an der linken Mauer des U-förmigen Gebäudes entlang, das den Hof umgab, bis sie an das verschlossene Gittertor zur Straße durch den Garten gelangten. Greganor wühlte jetzt unter seinem Mantel nach dem Schlüssel und sperrte das Tor vorsichtig auf.
„Gut geölt,“ nickte Jannick anerkennend, als Greganor das Tor einen Spalt breit aufzog, gerade groß genug, dass sie hindurch schlüpfen konnten. „Keine Wachen im Schloss, aber dafür gut geölte Scharniere!“
„Treib es nicht zu weit!“ flüsterte Greganor.
Das Tor ließ sich auch lautlos wieder schließen und verriegeln, dann verschwanden sie im Schutz der Hecke, welche die Gartenstraße beidseitig flankierte. Ihre Stiefel knirschten leicht, auf dem kurzen gefrorenen Gras, als sie in Richtung der Stadt liefen.
„Ich wette, niemand wird vor dem Morgengrauen merken, dass wir drei uns aus dem Staub gemacht haben,“ schnaufte Greganor jetzt hinter Jannick in normaler Lautstärke.
„Nein, bestimmt nicht,“ bestätigte er ebenfalls schwer atmend. Allein an Cedrick waren die Spuren ihres anstrengenden Laufes vorübergegangen, der junge Greif - wie ein Beschützer in den besten Zeiten seines Trainings - atmete sogar nach tausend Schritt Geländelauf noch durch die Nase!
„Nichteinmal jemand, der es darauf angelegt hätte, auf mich acht zu geben, würde unsere Flucht vor dem Frühstück bemerken können.“
„Spricht wieder dein schlechtes Gewissen aus dir? Glaubst du, Lalilia hat jemanden damit beauftragt, dich zu überwachen?“ lachte Jannick.
„Du wirst hier bleiben!“ äffte Greganor jetzt keuchend Lalilia nach, „Wir sehen uns ohnehin viel zu selten.“
„Sie macht sich eben Gedanken um dich!“
„Wir sehen uns fast an sieben Tagen in der Woche, trotz ihrer Reisen! Ich kann selbst auf mich aufpassen!“
„Ich finde es sympathisch, dass sie so eifersüchtig über dich wacht,“ lachte Jannick.
„Als wenn ich mich gleich der erst besten Frau an den Hals werfen würde, die mir außerhalb von Gnossas begegnet!“ keuchte Greganor.
„Ich glaube, ihre Sorge gilt eher deiner Reaktion, wenn sich gleich die erst beste Frau DIR an den Hals werfen wird!“
„Pah!“ pustete Greganor zurück, aber mit einer Pause von der Länge, dass Jannick schon die Stirn runzelte.
„Und außerdem,“ äffte Greganor seine Königin jetzt wieder nach, „außerdem bist du der König! Ich brauche dich hier, wenn einmal eine wichtige Angelegenheit zu entscheiden ist! Hah!“
Greganor unterbrach seinen Lauf kurz um Atem zu schöpfen. „Als wenn in naher Zukunft wichtige Angelegenheiten zu entscheiden wären, die meiner unbedingten Aufmerksamkeit bedürfen würden!“
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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