Hans Werner

Die Blaue Blume


Ein romantisches Märchen

von Hans Werner

In alter Zeit lebte in einem kleinen Städtchen Deutsch­lands ein reifer Jüngling, der schon 24 Jahre auf seinem noch jungen Buckel hatte und sich dabei recht alt vorkam. Dieser junge Mann, nennen wir ihn einmal Johannes, hatte nur den einen sehnlichen Wunsch, ein treues und anständiges Mädchen zu finden, das zugleich noch schön und reizend wäre und ihn überdies noch zärtlich liebte. Das war nun frei­lich vom Schicksal etwas viel verlangt, und so kam es auch, dass Johannes jahrelang in sehnender Einsamkeit dahinschmachtete und mit der Zeit überhaupt nicht mehr recht wusste, wie er es anstellen sollte, dieses Glück zu finden.

Eines Nachts denn, als Johannes wieder einmal so recht unglück­lich zu den Sternen empor sah und in flehendem Gebet dem Himmel seine Not klagte, da erschien ihm plötzlich eine milde Fee, die sich über ihn beugte, seine Haare streichelte und in gütigem Tone zu ihm sagte:

"Guter Junge, sei nicht verzagt, denn wisse, dein Glück ist nicht mehr ferne. Du wirst einem Kind begegnen, einem herzerfrischenden Geschöpf, und wenn du ihm nahe kommst, dann wird eine geheime Kraft in dich strömen und du wirst jenes Mädchen zu dir heranziehen, und es wird sein Köpfchen bereitwillig an deiner Brust ruhen lassen. Dieses Mädchen ist für dich bestimmt. Und dies soll dir zum Zeichen sein: gib acht auf Deine Hände, und wenn sie zitternd, wie aus geheimer Kraft, plötzlich eines Mädchens Schultern umfassen und es zu dir heranziehen, dann hast du deine "Blaue Blume" gefunden."

Im gleichen Augenblick aber war die Fee verschwunden, und Johannes dachte lange über die seltsamen Worte nach, die er soeben ver­nommen hatte. Entgeistert blickte er auf seine Hände und fast fürchtete er, sie könnten lebendig werden und sich selbständig machen, getrieben von jener geheimen Kraft, von der die Fee gesprochen hatte. Und dann sann er über die "Blaue Blume" nach, über jenes Symbol der Romantik, über jenes Blumenbild, das romantisches Sehnen schlechthin verkörperte. Er also sollte die "Blaue Blume“ finden, sie sollte ganz allein für ihn sein, nur für ihn, und ihm das ersehnte Glück bringen.

Wochen und Monate vergingen. Johannes hatte die Worte der Fee längst vergessen. Ja, er bildete sich ein, nur geträumt zu haben, und sagte sich: Feen gibt‘s ja gar nicht, das sind ja alles Hirngespinste, und dann warf er sich wieder energisch auf seine Arbeit, auf seine Studien, und wollte in so recht jugendlichem Stolz dem Schicksal trotzen. Er sagte sich: wenn ich mein Glück schon nicht finden darf, dann brauch ich es gar nicht, dann will ich es auch gar nicht haben. Ich verzichte darauf. Du, Schicksal, behalt dein Glück. Ich bin mir selbst genug!

Eines Tages jedoch feierte einer seiner Freunde Hochzeit. Auch Johannes war eingeladen, und mit ihm noch viele andere junge Menschen des Städtchens. Und plötzlich, beim Tanze, geschah das Un­erwartete: Johannes, der gerade mit einem hübschen Mädchen tanzte, verspürte plötzlich in seinen Händen ein elektrisches Prickeln, seine Finger bewegten sich, wurden sozusagen selbständig und umklammerten wild die Schultern des Mädchens, mit dem er tanzte. Es zog förmlich in seinen Armen, und kaum dass er sich dessen versah, lag das schwarze Lockenköpfchen an seiner Brust, und atmete hastig, verwirrt und ängstlich, wie ein scheues Reh.

Da erinnerte er sich plötzlich wieder an die Worte der guten Fee, und er sah, wie ihre Voraussage anscheinend im Begriffe war, sich wörtlich zu erfüllen. Sein Herz begann zu jubeln, auf einen Schlag hatte es wieder mächtiges Zutrauen gefasst zum eigenen Glück und zum Leben schlechthin. Neugierig besah er sich das Mädchen, und siehe da, es war ja Ursula, ein Mädchen aus der Stadt, das er schon längst kannte und an dem er manchmal achtlos vorübergegangen war, vielleicht weil es ihm in seiner unbestreitbaren Schönheit unerreichbar schien und dem sich zu nähern er sich nie getraut hatte. Aber nun stiegen wieder Zweifel in ihm auf. Sollte er denn nicht die "Blaue Blume" finden, jenes Große, Einmalige und Unvergleichliche. Jenes ferne Ziel, das es nur einmal geben kann, jenes Ziel der letzten und äußersten Liebessehnsucht seines Herzens!? Und wieder verfiel er in ein Grübeln, in ein ständiges, uner­bittliches Nachdenken über sich selbst und darüber, ob denn Ursula tatsächlich sein Glück sein könne. Allerdings bildeten die beiden, Ursula und Johannes, ein schmuckes Paar, man konnte es nicht anders sagen, und alle Erwachsenen des Ortes hatten ihre helle Freude an ihnen. Und wenn er zu später Abendstunde seine Ursula heimbrachte, und sie beide dastanden, im Mond­schein, und vor Liebe nicht weiterwussten, wenn er sie zärtlich in seine Arme nahm und einen Kuss nach dem andern auf ihre Lippen setzte, da war er schon recht glücklich, und sie war es sicher auch, waren sie doch beide jung und oblagen der schönsten Tätigkeit, die es seit alters her für junge Leute gibt.

Aber immer wieder kam ihm die "Blaue Blume" in den Sinn und er wünschte sich oft, die Fee möchte noch einmal wieder­kehren, und ihm den Sinn ihrer Worte deuten. Eines Tages, als die ganze Bevölkerung des Städtchens sich in buntem Faschingstreiben tummelte, entdeckte Johannes plötzlich eine wundersame Erscheinung unter dem tanzenden Volk. Ein überaus schönes Mädchen, ein geradezu himmlisches Geschöpf, von zierlicher Statur, angetan mit einem luftigen, elegant fallenden, wohlausgearbeiteten Kleid, tanzte vor seinen Augen und bewegte sich anmutig zu den Klängen der volkstümlichen Musik. Ihr Kleid war blau, angenehm blau und mit Blumen gemustert, und es schmiegte sich elegant an den zarten Mädchenleib und begleitete flatternd den lebhaften Tanz des Mädchens.

Johannes war wie geblendet von dieser Erscheinung. Von ferne betrachtete er das liebliche Gesicht, die schwarzseidenen Haare, die fließenden Naturlocken, das un­schuldige Näschen, die leicht aufgeworfenen Lippen und die braunen tiefblickenden Augen. Aus dem schicklich bemessenen Kleid­ausschnitt schimmerte eine zarte Haut hervor, die Arme waren schlank und edel geformt, die Hände mündeten in dünne, fast zerbrechliche Fingerchen, und unter dem Kleid - Johannes gingen fast die Augen über - da bewegten sich Beine, ästhetisch geformte Beine, zogen sich schlank in die Höhe und verschwanden sittsam unter dem Saum des Kleides.

Johannes stand und schaute und staunte. Und nun kam es über ihn wie eine Erkenntnis: das muss die "Blaue Blume" sein, sie habe ich immer gesucht, sie ist meine einzige Liebe, nur ihr darf ich gehören, sie allein kann mich glücklich machen. Im Augenblick, als er dieses dachte, sah ihn das Mädchen plötzlich an, mit einen heimlich schnippischen Lächeln, wobei ihre braunen Augen erglänzten und sich in den Wangen Grübchen zeigten. Wie ihn aber das Mädchen ansah, bemerkte er, dass sie ja dieselben Augen hatte wie die gute Fee, die ihm damals in jener Nacht seiner Verzweiflung erschienen war. Vielleicht war sie sogar selbst jene gute Fee, wer konnte es wissen?! Und im Flug sprang er zu dem Mädchen hin, umfasste es und küsste es lange und mit Hingabe. Und als er vom Küssen wieder aufsah, da riss er vor freudiger Überraschung die Augen weit auf: er hatte ja Ursula in den Händen, sie selbst war es und keine andere, sie war die langgesuchte "Blaue Blume", sie selbst war die Fee, sie selbst war sein Glück, sie selbst war sein Ziel, und er brauchte nicht mehr weiterzusuchen. Ursula aber legte ihre Arme um seine Schultern, schmiegte ihr Köpfchen an seine Brust, sah treuherzig zu ihm empor und flüsterte:
„Du großer dummer Junge, schau, ich bin‘s doch und keine andere.
Was überlegst du denn und grübelst hin und her? Schau, ich bin's doch, die dich liebt. Und die Liebe ist ein großes Wunder, nur einmal kann sie sich im Leben eines Menschen er­eignen. Du darfst darauf vertrauen, dass ich allein dir dein Glück bescheren kann, das für dich bestimmt ist. Denn ich bin deine „Blaue Blume“.

Johannes aber schloss sie fest in seine Arme und zuckte mit den Wimpern, als müsse er Tränen verbergen. Aber es waren keine Schmerzenstränen


Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Hans Werner).
Der Beitrag wurde von Hans Werner auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Hans Werner als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Gottes Zelt: Glaubens- und Liebesgedichte von Patrick Rabe



Die Glaubens-und Liebesgedichte von Patrick Rabe sind mutig, innig, streitbar, vertrauens- und humorvoll, sie klammern auch Zweifel, Anfechtungen und Prüfungen nicht aus, stellen manchmal gewohnte Glaubensmuster auf den Kopf und eröffnen dem Leser den weiten Raum Gottes. Tief und kathartisch sind seine Gedichte von Tod und seelischer Wiederauferstehung, es finden sich Poeme der Suche, des Trostes, der Klage und der Freude. Abgerundet wird das Buch von einigen ungewöhnlichen theologischen Betrachtungen. Kein Happy-Clappy-Lobpreis, sondern ein Buch mit Ecken und Kanten, das einen Blick aufs Christentum eröffnet, der fern konservativer Traditionen liegt.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Märchen" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Hans Werner

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Ein Abend von Hans Werner (Sonstige)
Die Zwillingspuppen von Christa Astl (Märchen)
Ohne meine Mutter springe ich nicht von Achim Müller (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen