Diethelm Reiner Kaminski

Maibäume



"Du siehst so niedergeschlagen aus“, sagte Marinas Mutter am 1. Mai zu ihrer Tochter, „bist du nicht gut drauf? Hast du schlecht geschlafen?“
„Alle kriegen einen Maibaum. Nur ich wieder nicht“, schluchzte Marina. „Ich möchte nur wissen, warum mich kein Junge mag.“

„Das ist doch Quatsch“, tröstete ihre Mutter sie und nahm sie in den Arm. „Das redest du dir nur ein. „Du siehst toll aus. Vielleicht zu toll. Das schreckt viele Jungen ab. Sie trauen sich dann nicht. Mag auch sein, dass du zu abweisend oder kühl wirkst. Oder …“

„Oder was?“, fragte Marina misstrauisch.

„Wie soll ich es ausdrücken. Zu … zu intellektuell. Vielleicht bist du für viele Jungen einfach zu klug.“

„Bin ich doch gar nicht“, protestierte Marina, „jedenfalls nicht gegenüber Jungen. Du willst mich doch auch nur trösten. Tatsache ist, dass ich schon siebzehn bin und noch nie einen Maibaum gekriegt habe.“

„Mach dir nichts draus. Was ist schon dran an so einem Ast, den jeder telefonisch beim Maibaumservice bestellen kann. Der alte Brauch, total kommerzialisiert. Reine Geldschneiderei. Ein Anruf genügt: ‚Liefern Sie bitte bis 01. Mai 04.00 Uhr früh einen Maibaum an folgende Adresse … Drei Meter hoch, mit bunten Bändern und roten Herzen geschmückt‘... Das ist doch wohl kein Kunststück. Und erst recht kein Liebesbeweis.“

„Aber ein Zeichen, dass jemand an mich gedacht hat, aber keiner denkt an mich. Ich bin allen gleichgültig“, beharrte Marina, und schon wieder kullerten die Tränen.

„Ich habe – nun stell dir das doch nur einmal vor – von Jungen gehört, die fünf Maibäume an fünf Mädchen schicken, um bei fünf gleichzeitig ihre Chancen zu verbessern. Ist das normal? Möchtest du eine von fünfen sein?“, fragte Marinas Mutter.

„Und ob ich das möchte. Von den anderen vier wüsste ich ja gar nichts, und außerdem wäre es mir auch egal. Hast du eigentlich mal einen Maibaum gekriegt, als du jung warst?“, fragte nun Marina, weil sie zu gerne gehört hätte, dass ihre Mutter früher genauso enttäuscht wurde wie sie selbst.

„Doch, habe ich, sogar viermal in Folge, aber viel Freude haben mir diese Teile lange nicht gebracht“, gestand Marinas Mutter.

„Und warum nicht? Erzähl.“

„Die ersten drei Male war es der falsche Junge. Ausgerechnet von einem in der Klasse, mit dem kein Mädchen freiwillig ausgegangen wäre. In meiner Empörung  habe ich meinen Vater gebeten, den Vater des Jungen anzurufen, damit er seinen Sohn dazu bringt, den Müll wieder abzuholen.“

„Wie gemein. Und dein Vater hat das auch wirklich getan?“, wollte Marina wissen.

„Hat er. Dem war diese Plage mit den Maibäumen doch sowieso ein Dorn im Auge. Und dass seine eigene Tochter ausnahmsweise auf seiner Seite stand und ihn unterstützte, das fand er großartig. Mein Vater drohte sogar mit einer Anzeige. Hausfriedensbruch und nächtlicher Einbruch. Um den Baum an unserer Hauswand zu befestigen, hatte der Junge ja über die Mauer und die Regenrinne hochklettern müssen und diese dabei beschädigt. Den Baum musste der Junge unter diesen Umständen natürlich wieder abholen. Ich stand neben meinem Vater und würdigte den verliebten Baumspender keines Blickes. Insgeheim musste ich mir aber doch eingestehen, dass mein junger Verehrer keine Mühe gescheut hatte, um nachts den Baum anzubringen und zu schmücken. Und zu meiner Zeit gab es noch keinen telefonischen Maibaumbestellservice.“

„Bestimmt hasst der Junge oder jetzt ja: der Mann, den du so grausam abgewiesen hast, dich auch heute noch“, sagte Marina spitz.

„Ich hoffe nicht“, sagte Marina.

„Und warum nicht? Es könnte dir doch völlig egal sein“, sagte Marina.

„Weil es dein Vater war“, sagte Marinas Mutter.

„Vati?“, fragte Marina sichtlich überrascht. „Und wieso seid ihr euch trotzdem näher gekommen, obwohl du ihn doch so verachtet hast?“

„Weil er hartnäckig war. Auch im Jahr darauf stellte er wieder einen Maibaum vor meinem Fenster auf, noch höher und größer als der erste.“

„Und über den hast du dich gefreut und ihn behalten“, sagte Marina.

„Natürlich nicht. Auch den ließen mein Vater und ich wieder abholen. Ebenso im dritten Jahr.“

„Und dann?“, fragte Marina.

„Dann hatte er mich endlich da, wo er mich haben wollte. Dreimal abgewiesen und trotzdem nicht resigniert … Wenn das kein Liebesbeweis war. Der Maibaum blieb stehen, und ich lud Hans, der inzwischen ein Studium in einer anderen Stadt begonnen hatte, zu uns nach Hause zum Essen ein, denn auch meine Eltern waren tief beeindruckt von der Beharrlichkeit des jungen Mannes, den kein Rückschlag und keine Strafandrohung hatten abschrecken können.“

„Aber ich denke, der Hans war hässlich“, sagte Marina.

„Dass er hässlich war, habe ich nicht gesagt, außerdem brauchst du dir deinen Vater ja nur genau anzusehen. Der kann sich heute noch sehen lassen. Nein, den Mädchen in meiner Klasse war er zu klug und zu reserviert, vielleicht mochten sie ihn auch nicht, weil er nur Augen für mich hatte. Und ich blinde Kuh hatte nichts Besseres zu tun, als deren Meinung ungeprüft zu übernehmen.“

„Wie süß. Mir kommen gleich die Tränen“, sagte Marina. „Warum erzählst du mir das alles? Um mir zu beweisen, wie beliebt und begehrt du früher warst?“

„Nein, natürlich nicht. Ich wollte dir nur klar machen, dass Liebessymbole für sich genommen wertlos sind. Damit sie zu einem echten Liebesbeweis werden, gehört einiges mehr dazu“, antwortete Marinas Mutter.

„Mal angenommen … Es ist ja nicht auszuschließen, dass ich im nächsten Jahr endlich auch einmal einen Maibaum kriege … Kommt dann bitte ja nicht auf die Idee, die Eltern des Jungen anzurufen, damit er den Baum wieder abholt. Früher hattet ihr noch jede Menge Zeit. Ich habe aber keine Lust, vier Jahre zu warten. Und die Jungen erst recht nicht. Ein Korb und die laufen zur nächsten. Mir wäre es überhaupt am liebsten, ich würde fünf Maibäume gleichzeitig von fünf verschiedenen Jungen kriegen.“

„Ganz schön anspruchsvoll“, sagte Marinas Mutter. „Und welchem würdest du dann den Vorzug geben?“

„Keinem. Ich bin doch klug. Hast du eben selber behauptet. Ich würde sie alle im Glauben lassen, dass ich ihre Gefühle erwidere. Damit ihre Maibäume von Jahr zu Jahr größer und bunter werden. Was meinst du wohl, wie mich dann alle Mädchen, die an unserem Haus vorbeigehen, beneiden.“
 


Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Diethelm Reiner Kaminski).
Der Beitrag wurde von Diethelm Reiner Kaminski auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Diethelm Reiner Kaminski als Lieblingsautor markieren

Buch von Diethelm Reiner Kaminski:

cover

Von Schindludern und Fliedermäusen: Unglaubliche Geschichten um Großvater, Ole und Irmi von Diethelm Reiner Kaminski



Erzieht Großvater seine Enkel Ole und Irmi, oder erziehen Ole und Irmi ihren Großvater?
Das ist nicht immer leicht zu entscheiden in den 48 munteren Geschichten.

Auf jeden Fall ist Großvater ebenso gut im Lügen und Erfinden von fantastischen Erlebnissen im Fahrstuhl, auf dem Mond, in Afrika oder auf dem heimischen Gemüsemarkt wie Ole und Irmi im Erfinden von Spielen oder Ausreden.
Erfolgreich wehren sie mit vereinten Kinderkräften Großvaters unermüdliche Erziehungsversuche ab.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Romantisches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Diethelm Reiner Kaminski

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Spiegelpunkt von Diethelm Reiner Kaminski (Lebensgeschichten & Schicksale)
Ein bisschen Liebe von Klaus-D. Heid (Romantisches)
Der Arztbesuch 2 von Klaus Lutz (Besinnliches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen