Katharina Gröblinger

Der Wahnsinn im Schatten des Hauses


Die Außenwände des Hauses waren gerade erst frisch gestrichen worden. Sie waren nun weißer als die digital bearbeiteten Zähne in der künstlichsten aller Werbungen. Wenn also auf dem blauen Hintergrund plötzlich ein Heer von Wolken anmarschierte, schien es fast so, als ob sich das Haus von seinem Keller losreißen und sich mit den Wolken unter dem Banner der Unbeschwertheit verbrüdern würde. Aber es passierte nie und niemand kann sagen, warum es nie passierte.
Die Sonne dürfte mit dem Unwillen des Hauses sich dem Marsch der Wolken anzuschließen kein Problem gehabt haben, denn sie liebte es, sich im Glanz der großen Fensterscheiben zu betrachten. Von Zeit zu Zeit wurde sie zwar ganz rot vor Eifersucht und eilte zu ihrem Spiegel, um sich zu vergewissern, dass sie nach wie vor die am hellsten strahlende Institution auf Erden ist. Weil diese Verhandlungen meist sehr viel Zeit in Anspruch nahmen, vergaß sie regelmäßig unterzugehen, was wiederum den Mond regelmäßig in den Wahnsinn trieb. Als Nachtwächter des Hauses nahm er dem Zaun ein wenig Arbeit ab, damit dieser die Ruhe der Nacht genießen konnte, denn er liebte die Grazie der Stille, die über die Welt hereinbricht, wenn alle zu Bett gegangen sind oder zumindest ihre Stimmen und arbeitenden Hände gesenkt haben. Tagsüber konnte sich der Zaun keine Minute der Ruhe oder des Spiels gönnen, weil er allein für Recht und Ordnung gerade stehen musste. Die Sonne hatte keine helfende Hand für ihn übrig. Leider.
Ebenso wie die Außenwände waren auch sämtliche Türen und Fensterläden neu gestrichen worden. Das schon in die Jahre gekommene Holz spielte wieder eine glänzende Rolle auf der weißen Bühne und der Efeu, der einst die ersten Reihen der Zuschauertribüne für sich beansprucht hatte, war in seine Schranken gewiesen worden. Das Tüpfelchen auf der durchdachten Farbkomposition waren die neuen Blumenkisten, die exakt dieselbe Farbe hatten wie die Fensterläden und Türen. Jedes Fenstersims, das eine solche Blumenkiste sein eigen nennen durfte, war plötzlich beliebt und wurde sogar von den Tauben verschont. Die viele Aufmerksamkeit und Bewunderung ließ die Blumenkisten zwar von Zeit zu Zeit erröten, ansonsten ließen sie sich aber nichts anmerken. Vielleicht waren sie auch nur zu beschäftigt mit der Erziehung der Blumenzwiebeln, die ihnen anvertraut worden waren. Sie hatten zwar viel Hilfe in Form von den Leibwächtern Erde und Wasser, aber dennoch schliefen sie nur selten eine Nacht durch. Trotz der Mühen und Streitfragen die Erziehung der Kleinen betreffend, bemühten sich alle nach bestem Wissen und Gewissen. Da sich einige hartnäckige Tränen, trotz mehrmaliger Abmahnungen, nicht an die Spielregeln halten wollten, wurden sie unverzüglich vor die Tür gesetzt. Der Auftritt im Frühling war einfach zu wichtig und auf keinen Fall wollte man die Gunst der Passanten an die Nelken im Garten abtreten.
Leider hatte man sich auch von vielen treuen Wegbegleitern wie etwa den verrosteten Regenrinnen verabschieden müssen. Sie waren schon zu alt um ihre Arbeit noch gemäß Vertrag erledigen zu können. Das war kein Geheimnis, aber alle Kollegen schätzten sie, weil sie bei Schönwetter stets erfrischende Anekdoten zum Besten gaben. Doch am Ende waren die alten zwangsweise durch neue ersetzt worden, was man den neuen unbewusst sicher zum Vorwurf machte. Sie waren anfangs äußerst schüchtern, weswegen neue Freundschaften nur sehr schleppend zustande kamen. Nur die Blätter aus gutem Hause und den Nachwuchs der Familie Blütenstaub schien das alles nicht zu interessieren, denn sie waren damit beschäftigt Abfangen auf ihrer neuen hauseigenen Rutsche zu spielen. Sie machten dabei so viel Lärm, dass bald der ganze Garten Bescheid wusste und die Regenrinnen für ihre Engelsgeduld lobten.
Das Dach setzte dem weißen Kunstwerk den königlichen Hut auf. Stolz wie ein Blumenmädchen, das noch vor der Braut die Kirche betreten darf, stand jede Schindel am Dach ihren Mann. Der Job war zwar sehr gut bezahlt, aber dementsprechend hart. Er verlangte allen Beteiligten sehr viel ab und viele zerbrachen auch am Druck, der sich Tag und Nacht auf ihnen ausruhte. Dennoch würde es keine der Schindeln je wagen aus der Reihe zu tanzen. Zum einen waren sie sich ihrer übermenschlichen Verantwortung bewusst und zum anderen wollte keine einen Kratzer abbekommen und sich vor den Vögeln, die sie belagerten wie fotohungrige Paparazzi, die Blöße geben.
 
Die Gruppe von Vögeln, die sich täglich zu ihrer Version des Fünf Uhr Tees am Dach einfand, hatte auch den besten Blick auf den neu angelegten Weg, der von der Terrasse zum Gartenhaus führte. Das aus Fertigteilen bestehende Gartenhaus zerrissen sie sogleich in der Luft, aber der Weg an sich entsprach durchaus ihrem Geschmack. Die Steine waren quadratisch und kleiner als gedacht, weswegen mehr Steine als ursprünglich geplant für die Fertigstellung des Weges von Nöten waren. Laut Plan hatte jeder Stein von Anfang an seine Bestimmung, aber dennoch ist es zwischendurch zu teils sehr beunruhigenden Ausschreitungen gekommen, weil sich natürlich jeder Stein einen Platz auf der Sonnenseite des Daseins sichern wollte. Daraufhin schlossen die Terrasse und das Gartenhaus einen Pakt und nahmen die Querulanten in die Mangel. Die Rechnung ging auf und es herrschte augenblicklich Ruhe. Seither kommt es nur mehr äußerst selten zu Unstimmigkeiten. Meistens geht es dann um die Nähe zu gewissen wild wachsenden Blumen. Die daraus resultierenden Eifersuchtsszenen sind ganz großes Kino und bis weit über die Grenzen des Garten hinaus bekannt.
Der Garten darf nicht nur einen märchenhaften und sehr unterhaltsamen Weg sein eigen nennen, sondern auch viele Sträucher und Blumenbeete. Das Problem dabei ist, dass sein Gedächtnis schon seinem Alter entsprechend sehr lückenhaft ist, weswegen er sich unmöglich die vielen neuen Namen und Gesichter einprägen kann. Mittlerweile hat er aber schon längst den Überblick über all die Veränderungen und Neuzugänge in seinem Reich verloren. Trotz seines Alters muss man ihm aber zu Gute halten, dass es wohl niemanden gibt, der mehr Farben benennen kann als er.
Im Garten herrschten sowohl ein sagenhaftes Durcheinander als auch eine beeindruckende Aufbruchsstimmung. Die neuen Blumenbeete waren errichtet und sogleich bezogen worden. Man hörte beispielsweise viele neue Stimmen, die nur allzu oft von altbekannten zu Ruhe und Ordnung aufgerufen wurden, und auch viele neue Sprachen, die zwar keiner verstand, geschweige denn sprach, aber mit denen man rasch seine Neugier stillen konnte. Zudem hielten viele neue Landestrachten und noch nie da gewesene Farben Einzug in den Garten. Vor allem die anwesenden Damen waren schnell neidisch und ließen ihren Unmut über die Konkurrenz schnellst möglichst an ihren Männer aus. Der Garten ertrug die Umwälzungen und das unbeschreibliche Chaos mit der Ruhe und Würde eines buddhistischen Mönchs. Wenn es ihm manchmal doch zu bunt wurde, drehte er einfach sein Hörgerät ab und bat die am Dach sitzenden Vögel seine Kontaktlinsen zu verstecken.  
 
Während hinter dem Haus die sprichwörtliche Hölle von der Leine gelassen worden war, herrschte vor dem Haus absolute Stille, vergleichbar mit einem Kinderspielplatz um Mitternacht. In der Tat genoss die prachtvolle Auffahrt zum Herrenhaus schon seit geraumer das Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos. Zuerst war sie frisch betoniert und im Anschluss mit Statuen gesäumt worden. Wo sonst Bäume eine Allee gegründet hätten, fanden sich sehr hoch gewachsene Figuren aus Stein ein. An sich nicht Schlechtes, das einzig merkwürdige daran war, dass sie sich nicht bewegten und mit niemandem redeten. Beton ist nicht unbedingt als übertrieben kommunikativ verschrien, aber auch ihm fielen die Stummheit der Statuen bald negativ auf. Irgendwie hatte man sich etwas anderes erwartet. Es war nur ein Gefühl, das niemand weder benennen noch leugnen konnte.
Die Grashalme kümmerten sich wenig bis gar nicht um die Passivität der Statuen, da sie selbst genug mit ihrem Nachwuchs zu tun hatten, denn der folgte nur den Launen des Windes, nicht aber den leiblichen Eltern. So kam er eines Tages etwa auf die Idee, die Statuen so lange zu kitzeln bis sie mit ihnen schimpften oder sie verjagten. Am Ende kitzelten sie sich allerdings selbst in den Schlaf. Weil die Statuen ihnen ungefragt eine so wichtige Lektion erteilt hatten, haben sie seitdem bei allen Dynastien der Wiese einen Stein im Brett. So haben sie etwa einen Vertrag unterzeichnet, der besagt, dass sie nie die Höhe und Schönheit der Statuen in den Schatten stellen werden. Gesprochen haben beide Parteien noch nie miteinander, es war vielmehr ein stilles Abkommen. 
 
Wenn dieses Gartengrundstück samt Haus einen Regisseur hätte, wäre das sicher der neue Gartenzaun. Die Lücken und Schwachstellen des alten Zauns auszubessern wäre zu mühsam gewesen, weswegen man ihn gleich abgerissen und in Windeseile einen neuen aufstellt hatte. Auch er war weiß. Nie verlor er seine Haltung und er war sichtlich stolz auf seine Position und Vorreiterrolle. Jeder englische Butler könnte sich noch eine Scheibe Durchhaltevermögen, Mut und Opferbereitschaft von ihm abschneiden.
Das einzige Problem ist, dass er sich ganz und gar nicht mit dem Gartentor versteht. Der eine wirft dem anderen vor, seine Pflichten zu vernachlässigen, woraufhin derjenige jedes Mal erwidert, dass es überhaupt nichts zu vernachlässigen gibt.
Das Haus steht leer.
 
  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.05.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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