Diethelm Reiner Kaminski

Beste Aussicht



Frau Heberle schaute wie jeden Morgen die Post durch, die der Briefträger gegen acht Uhr durch den Briefkastenschlitz geschoben hatte. Das Übliche: Werbeprospekte für Handys, Matratzen, Wintergärten, Schönheitsoperationen, einen Pizza-Service, zwei Rechnungen und eine verspätete Neujahrskarte. Außerdem ein grauer Geschäftsumschlag ohne Absender. Die Adresse auf einem Computer-Aufkleber. Frau Heberle stopfte die Werbung in den Mülleimer und öffnete den Geschäftsbrief, während sie ihre dritte Tasse Kaffe an diesem Morgen gemütlich in der Küche trank. Sie zog einen karierten Bogen aus dem Umschlag, auf dem unbeholfen ausgeschnittene Illustriertenbuchstaben von unterschiedlicher Größe und Farbe zu einem Satz zusammengeklebt waren.
 
WENN IHNEN IHR SOHN ETWAS BEDÄUTET, WARTEN SIE MORGEN UM ACHT IM MCDONALD AM MARKT AUF DEM 3. FENSTERPLATZ VOM EINGANG RECHTS
 
Frau Heberle war erschrocken und ratlos zugleich. War ihr Jakob entführt worden?
Aber was sollte wohl bei ihr zu holen sein? Kurz entschlossen griff sie zum Telefonhörer und rief im Sekretariat der Schule an.
„Bitte, ist mein Sohn Jakob heute zum Unterricht erschienen?“
 
„Der Jakob mit dem roten Struwwelkopf in der Fünften? Ich schaue gleich mal nach. Eigentlich gehört er nicht zu unseren Sorgenkindern, die den Unterricht schwänzen. Ich rufe gleich zurück.“
 
Der Rückruf ließ nicht lange auf sich warten.  Das kleine Aufbau-Gymnasium mit seinen knapp 300 Schülern war schließlich gut überschaubar. „Ihr Vermisster sitzt brav und gesund in der Biologiestunde. Soll er Sie anrufen?“
 
„Nein, nein, ich wollte mich nur vergewissern. Ich hatte so einen Verdacht. Doch jetzt bin ich beruhigt.“
 
Frau Heberle dachte nach. Was blieb ihr anderes übrig, als der Aufforderung des anonymen Briefschreibers nachzukommen. Wahrscheinlich war es nur ein schlechter Scherz oder ein Schulbubenstreich.“
Zwei Stunden und drei Cappuccino lang hielt sie es auf dem angegebenen Platz aus, ohne dass sie jemand angesprochen hätte.
 
Zu Hause erwartete sie ein zweiter anonymer Brief.
 
MORGEN UM DIESELBE ZEIT AM SELBEN PLATZ. VERSEUMEN SIE DEN TERMIN AUF GAR KEINEN FALL. DENKEN SIE AN IHREN SOHN.
 
Wieder wartete Frau Heberle vergeblich. Die Geschichte war mehr als seltsam. Wer hatte ein Interesse daran, sie zum Narren zu halten oder … ein entsetzlicher Gedanke – sie aus dem Haus zu locken, um es in aller Ruhe auszuräumen? Aber sie besaß doch weder wertvollen Schmuck noch teure Möbel oder Elektronikgeräte. Und Bargeld erst recht nicht bei ihrer kleinen Witwenrente.
 
Mittags legte Jakob seiner Mutter sein Deutschaufsatzheft zur Unterschrift vor. Diese strenge Regelung hatte seine Klassenlehrerin Frau Winterberg eingeführt. „Eine pädagogische Maßnahme, damit Sie als Eltern laufend über die Leistungen Ihres Kindes im Bilde sind, im Guten wie im Bösen.“ Bei Jakob war es im Fach Deutsch längst nicht so böse wie in Englisch, Geschichte und Biologie. Im Gegenteil. Eine glatte Zwei. Aber Frau Winterberg war nie zufrieden. Deshalb hatte sie unter dem Aufsatz vermerkt: „Lebendig und fantasievoll. Die Rechtschreibung ist solide, bis auf die häufigen Fehler bei den Diphthongen äu – eu – ai – ei. Hier muss Jakob noch tüchtig üben.“
Frau Heberle fiel es wie Schuppen von den Augen.
 
„Toll!“, sagte sie, „wenn du doch überall so gut wärst wie in Deutsch, aber einen blauen Brief scheinst du ja diesmal nicht bekommen zu haben. Oder ist da vielleicht noch etwas zu erwarten?“
 
„Bestimmt nicht. Die blauen Briefe sind längst verschickt. Und bis zum nächsten Jahresabschlusszeugnis habe ich in keinem Fach mehr eine Fünf. Darauf kannst du dich verlassen.“
 
„Ein Mann, ein Wort?“, fragte Frau Heberle und hielt Jakob die Hand hin, damit er sein Versprechen bekräftigte.
 
„Versprochen.“
 
„Darf ich Sie, junger Mann, als Belohnung für den guten Aufsatz und die guten Vorsätze ins McDonald am Markt einladen? Ich reserviere uns gleich einen Tisch. Den dritten Fensterplatz rechts vom Eingang. Den kenne ich gut. Da hat man die beste Aussicht.“
 


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.05.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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