Liebe Reisende,
möglicherweise sind sie etwas enttäuscht von der Reise.
Schließlich versprach ich Ihnen Events. Falls Sie solche Knaller wie die Odenwaldschule
oder diese Geschichte in Fluterschen erwartet haben, muss ich Sie tatsächlich enttäuschen.
Hier wird "nur" erzählt wie ein Kind in seine seelischen Einzelteile zerlegt wird.
Diese Events fanden (und finden immer noch) in aller Stille hinter geschlossenen Türen statt.
Ich möchte Sie zu den seelischen Ereignissen mitnehmen die auch im Verborgenen stattfinden
und hoffe auf Ihr Interesse und Verständnis.
Unser Aufenthalt in den 60iger Jahren wird daher etwas länger dauern.
Es sind die prägenden Jahre.
Ostern 1963
Ein extrem ängstliches, selbstunsicheres Kind wird eingeschult.
Ein Kind, das davon überzeugt ist, das Erwachsene völlig über es bestimmen können.
Ein misstrauisches Kind, das nicht versteht, was man von ihm erwartet.
In seiner Welt hat nichts Gültigkeit.
Orientierung, gültige Werte, emotionale Sicherheit, sich angenommen fühlen;
das alles fand in ihrer Welt nicht statt.
Der Glaube an den eigenen Wert, Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten konnte
oder wollte von den Eltern nicht vermittelt werden.
Was heute in Ordnung war, konnte morgen falsch sein.
(Jahrzehnte später wird sie zu ihrer Schwester sagen: "Wir hatten unterschiedliche Eltern".)
Ein Kind wird eingeschult das sich selbst als "falsch" wahrnimmt.
Auf dem obligatorischen Foto des ersten Schultages kann man erkennen unter welchem Druck das Kind steht.
Die Schultern sind hochgezogen, der Kopf gesenkt. Sie wirkt wie ein Soldat in Deckung.
Fluchtbereit.
Die wenigen privaten Fotos dieser Zeit zeigen ein Kind, das versucht sich hinter anderen zu verstecken.
Wenn das nicht gelingt zieht sie eine Grimasse.
Sie will kein Zeugnis von sich ablegen, will nicht gesehen werden.
Sich auch nicht selbst sehen.
1963 existierte noch die "Volksschule".
Im Klartext heißt das, nicht nur das Mobiliar ist aus der Vorkriegs - bzw. Kriegszeit.
Die meisten Lehrer und die Art und Weise ihres Unterrichts sind es auch.
Das erste Schuljahr besteht aus zwei Klassen mit jeweils 30 Kindern.
Die eine Klasse hat Unterricht von 8.00 bis 10.00 Uhr, die andere von 10.00 bis 12.00 Uhr.
Es gibt noch Schulranzen aus Leder und Schiefertafeln
.Nur die Erstklässler sitzen zu viert an Tischen.
Ein erstes Zeichen der kommenden Schulreform.
Alle anderen Klassen sitzen noch in den Bänken mit dem Tintenfass
und der Unterricht ist passend dazu wie zu Beginn des Jahrhunderts:
Aufstehen wenn der Lehrer das Klassenzimmer betritt.
Die Klasse grüßt im Chor.
Beten. Setzen. Schweigen.
Ein Kind das sich selbst hören muss zur Rückversicherung der eigenen
Existenz soll schweigen und still sitzen.
Wer nicht pariert oder auffällt muss nachsitzen
Episode:
Ich muss mal, aber ich weiß gar nicht ob es in der Schule ein Klo gibt.
Ich möchte zu meiner Mutter. Hoffentlich fragt die Lehrerin mich nichts.
Ich kann ihr gar nicht richtig zu hören.
Ich muss mal.
Wenn sie mich was fragt muss ich bestimmt wieder nachsitzen weil ich zu leise spreche.
Wie gestern. Das war sooo lange. Bis die zweite Klasse auch nach Hause durfte.
Mutti ist das gar nicht aufgefallen. Hat nur geschimpft weil ich die Hose nass hatte.
Ich kann mich hier nicht richtig hören. Ich bin gar nicht richtig hier.
Hoffentlich fragt sie mich nichts. Ich will nicht wieder in die Hose machen
Kommentar:
Viele Jahre später fand ich dieses Gedicht.
Es beschreibt meine kindliche Gefühlswelt so treffend das ich es einfüge:
Was ich mir wünschte
Bekam ich nie
Aber auch darauf war kein Verlass
Das Beinahe war schlimmer als das Nein
Hätte ich ein Heim gehabt
Oder gar eine Heimat
Ich fremder Niemand aus Niemandsland
Mit 7 spielte ich mit meinem Kummer verstecken
aus "Hätte ich einen Vater gehabt" von Mascha Kaleko
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.05.2011.
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