Helga Schmiedel

Mitten im Hechtviertel

Er muß ein schmucker Bursche gewesen sein, in jungen Jahren. Mein Großvater Karl. Hager war er, hatte eine gebückte Gestalt und trug eine Brille, die meist bis zur Nasenspitze nach vorn gerutscht war. Aus braunen Augen sah er gütig und liebevoll auf mich herab, wenn er mich an die Hand nahm, um in den Garten zu gehen. Immer trug er weiße Hemden, auch wenn er beispielsweise Erde umzugraben hatte. Und diese dufteten herrlich frisch nach Kernseife. Ich hatte es gern, wenn er mich mal auf dem Arm trug. Niemals habe ich ihn mit schmutziger Kleidung gesehen. Er muß eine Begabung gehabt haben, dass er zwar salopp, doch immer wie aus dem Ei gepellt aussah.

Hand in Hand liefen dann der große alte Mann mit seiner kleinen vierjährigen Enkelin ins Grüne. Auf dem Rücken hatte er meist einen Rucksack. Aus der Öffnung lugte der weiß-graue Kopf von "Mauselkater". Das Katerchen begleitete uns in luftiger Höhe. Mit dabei war ein Proviantkorb mit meist Brot, Quark und Leinöl. Kartoffeln gab es ja im Garten. Quark und Leinöl war unser Leibgericht. Aus seiner Heimat, der Oberlausitz, hatte er das übernommen. Großvater war am 15. Februar 1870 in Wilthen geboren worden. Im Berufsalter hatte er als Landbriefträger in Kötschenbroda bei Dresden angefangen und sich dann zum Postbeamten in der Landeshauptstadt hochgearbeitet.

Unser Start war die Hechtstraße, mitten im Hechtviertel in Dresden. Damals hatte der Stadtteil keinen schlechten Ruf, so wie heute. Geschäfts- und Kaufleute wohnten hier in den mehrstöckigen Bürgerhäusern. Großvaters Wohnung hatte fünf Zimmer. Die Räume waren sehr hoch. Ein riesengroßes Wohnzimmer war an der Decke mit dem herrlichsten Stuck verziert. Ich durfte im "Besucherzimmer" übernachten. Überall, sogar unter und auf den Schränken waren Obststiegen mit Äpfeln gelagert. Sie reichten gerade bis zur neuen Ernte. Der Duft, der hellen Wände, war unbeschreiblich aromatisch. Außerdem hing dort eine lauttickene Wanduhr und ein glänzendes Posthorn. Auch in den älteren Jahren gehörte Großvater zu einer Gruppe Posthorn-Bläsern. Die Vorhänge waren aus weißem Leinentuch. Nie hatte ich Ängste in diesem Raum, auch wenn nachts helle Blitze durchs Zimmer zuckten.

Vor dem Haus in der Hechtstraße führte die Eisenbahnstrecke zum Bahnhof Dresden-Neustadt entlang. Auf einem Damm, der die Höhe des
vierstöckigen Hauses hatte, liefen die Gleise. Es sah so aus, als ob ein Zug direkt ins "Besucherzimmer" fahren würde, doch kurz vorher lag eine Kurve, die den Zug vorbeifahren ließ. Für Besucher war das immer ein gruseliges Spektakel, begleitet von dem stampfenden Geräuschen der Lok. Meine jüngere Schwester konnte nie lange in diesem Zimmer verweilen, wo es spukte. Da sie Angstzustände bekam, wenn sich ein Zug näherte. Ich hatte mich sogar nachts so daran gewöhnt, dass ich weder den Lärm, der sich im Fahrplan-Tournus wiederholte, noch die Lichter-Effekte wahrnahm.

Die Wohnungsmieten müssen recht günstig gewesen sein. Großvater hatte vor dem ersten Weltkrieg seinem besten Freund ein Großteil der Ersparnisse geborgt. Dieser baute sich ein Geschäft auf, doch während er Inflation verlor er alles und nahm sich das Leben. Die Großeltern, damals lebte die Großmutter noch, standen fast mit leeren Händen da. So war die Hechtstraße für beide und Ida willkommen. Ida, die jüngste Tochter, war ledig. Sie arbeitete bei der Dresden Bank neben dem
Schauspielhaus und lebte mit dem Großvater zusammen. Wenn ich also in den Sommermonaten im Hechtviertel zu Besuch war, bemutterte sie mich nach Strich und Faden, am Morgen und am Abend.

Mit der Enkeltochter an der rechten Hand, dem Proviantkorb in der linken und Mauselkater auf dem Rücken ging es frühzeitig in den Garten. In der Nähe der Hansastraße war das Gelände in Gärten aufgeteilt worden. Hier erwarben die Großeltern ein Doppelgrundstück, was zum Paradies für ein kleines Mädchen wurde. Großvater legte eigene Beete für mich an, mit Blumen und Mini-Apfelbäumen. Wenn wir ankamen, wurde zuerst gegossen. Eine Wasserpunpe war dann in voller Aktion für den alten Mann. Inzwischen schaukelte ich mit Mauselkater. In einem Punkt waren wir drei uns einig. Wenn mir Ida morgens eine Schleife ins Haar band, wurde diese, sobald die Tante die Tür von draußen zuschloß, sofort wieder entfernt. Sie war hinderlich und störend! Mittags erzählte Großvater selbsterdachte Märchen. Meist saßen wir dann in der Kühle der Laube mitten im Grünen. Hier hingen Pfefferminze, Dill sowie Estragon zum Trocknen an den Wänden. Dazwischen huschten Elfen, und auf einer alten Kaufmannswaage wippten zwei Wichtel. In der Ecke hinter einem wackligen Schrank mit Geschirr wohnten putzige Zwerge.

Drei Sommer muß ich im Hechtviertel verbracht haben. Dann kam das Jahr 1945, als mich mein Vater, da die Tage kürzer wurden, wieder nach Hause holte.
Es war das Jahr, da die Bombenangriffe auf Dresden fielen. Doch die Bahnstrecke, das Hechtviertel und auch der Garten waren von dem Inferno verschont geblieben. Ich konnte es kaum fassen, dass die traumhaft schöne Zeit mit Großvater wieder vorbei war. Beim Abschied sagte der alte Mann zu seinem Sohn: "Ich bin nur noch zwei Monate da". Mein Vater legte diesen Worten keine Bedeutung bei. Aber als am 25. November 1945 Großvater starb, fielen ihm diese Worte wieder ein. Ich erinnere mich noch heute an die alten Männer in Postuniformen, die so unendlich traurige Weisen über den Sarg aus Posthörnern bliesen. Eine Ära im Hechtviertel war zu Ende gegangen.

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